Der Hannover-Messe-Besucher sollte keine Patentlösungen erwarten:

Pseudo-Neuheiten: Textautomaten noch schnuckeliger

03.04.1981

Der Neuheiten-Rummel um die Hannover-Messe macht sich schon sehr frühzeitig durch eine gewisse Hektik bei den Verantwortlichen und Mitarbeitern der ausstellenden Firmen und durch mehr oder minder informative Produktwerbung in Broschüren, Anzeigen und Medien bemerkbar. Dabei scheuen sich die Hersteller nicht, den bislang schon so "schnuckeligen" Textautomaten noch schnuckeliger darzustellen und in oft waghalsigen Formulierungen die Funktionsfähigkeit ihrer Systeme hervorzuheben. Die Neuigkeiten sind teilweise so sensationell, daß sich der mit dem Problem der Textverarbeitung befaßte Spezialist die Frage stellt, wie ein so gewaltiger technologischer Sprung seit der Orgatechnik überhaupt bewältigt werden konnte.

Derartig vorbereitet, muß sich dann der Interessent in das Abenteuer Hannover stürzen, um aus der Vielzahl der in hervorragenden, architektonisch und künstlerisch aufwendig gestalteten Vorführpavillons präsentierten Produkte dasjenige herauszufinden, des am ehesten seinen Anforderungen entspricht. Diese Aufgabe wird für ihn dann besonders schwer, wenn ihm mittels eingeübter und perfekt vorbereiteter Vorführprogramme Leistungsprofile demonstriert oder Produkte angeboten werden, deren Auslieferung zum Zeitpunkt der Messe noch nicht feststeht.

In dieser Situation verwundert es nicht, daß der unvoreingenommene Interessent überfordert ist, aus der Vielzahl von effektheischenden Vorführungen die Informationen herauszufiltern, die ihm als erste Antworten auf seine Fragen geben können. Aus der Sicht der Hersteller ist diese Präsentation durchaus verständlich. Die Hannover-Messe ist eine reine Leistungsshow und bietet dem Hersteller die Möglichkeit, sein Produkt so vorteilhaft wie möglich darzustellen. Daß hier alle Register gezogen werden und auch alle Möglichkeiten bis zur Grenze des Erlaubten ausgeschöpft werden, ist nur verständlich und legitim. Für den Interessenten jedoch muß dies zur Konsequenz haben, daß er auf keinen Fall davon ausgehen sollte, auf der Hannover-Messe in erwarteter Form Lösungsansätze für seine Probleme zu erhalten. Das einzige, was er bekommen kann, sind erste Eindrücke über Neuheiten.

"Fast" und pseudoneu

Welches Neuheiten sind denn nun zu erwarten? Hier ist zwischen echten Neuheiten, "Fast-Neuheiten" und Pseudo-Neuheiten zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig, da echte Neuheiten auf der Hannover-Messe bezüglich Hard- und Software von textorientierten Informationssystemen tatsächlich zu erwarten sind.

In ihrem Schatten werden aber letztlich auch Fast-Neuheiten angeboten, die auf der Orgatechnik schon in zumindest halbfertiger Form präsentiert wurden. Pseudo-Neuigkeiten sind letztlich diejenigen, die nichts anderes sind als ein mehr oder weniger veränderter Aufguß dessen, was schon lange im Angebot ist. Ein typisches Beispiel für letzteres: Die Ankündigung eines Herstellers, daß er nun auf der Hannover-Messe endlich die ergonomische Speicherschreibmaschine zeigen werde. Diese Schreibmaschine zeichnet sich gegenüber dem Vorgängermodell, das schon mehr als drei Jahre im Angebot ist, durch eine Schallschutzrichtung aus, die ein Zulieferant schon mehrere Jahre vermarktet.

Ein Beispiel für Fast-Neuheiten ist das von einem großen Hersteller in den Medien als echte Neuheit angekündigte "Schreibsystem", das schon, wenn auch in unvollständigem Funktionsumfang, auf der Orgatechnik zu sehen war.

Was ist nun als echte Neuheit zu erwarten? Bei den textorientierten Informationssystemen (Bildschirmsystemen) ist auf der Hannover-Messe eine Ausweitung am unteren und oberen Ende festzustellen. Im Klartext heißt das, es werden zunehmend mehr Bildschirmtextsysteme im Bereich um 20 000 Mark präsentiert. Diese Systeme sind meist mit einem langsameren Typenrad- oder Kugelkopfdrucker, einem oder mehreren Minifloppy-Laufwerken und frei-positionierbaren Bildschirmen und Tastaturen ausgerüstet.

Die dafür angebotene Textsoftware hat zumindestens in der untersten Ausbaustufe relativ wenig Verarbeitungsfunktionen. Diese Geräte können teilweise als Sklave zu größeren Systemen arbeiten; einige verfügen über Anschlußmöglichkeiten, beispielsweise für Teletex. Kommunikationseinrichtungen sind in diesem Jahr das große Schlagwort auf der Hannover-Messe, und es kann davon ausgegangen werden, daß die meisten Hersteller ihre Systeme zumindest als kommunikationsfähig bezeichnen werden. Inwieweit sie es tatsächlich sind, ist derzeit von sekundärer Bedeutung, da nach jetzt offizieller Freigabe von Teletex mit einer größeren Verbreitung doch erst in den nächsten Jahren gerechnet werden kann. Wichtig ist nur, daß die angebotenen Systeme auf diese zukünftigen Kommunikationsmöglichkeiten abgestimmt sind.

Was die Erweiterung der Angebotspalette nach oben angeht, so kann davon ausgegangen werden, daß noch mehr Hersteller Mehrplatz-Systeme anbieten werden. Dabei sind, orientiert man sich an den Ankündigungen der Hersteller, der Anzahl der Bildschirmarbeitsplätze, die an eine CPU angeschlossen werden, offensichtlich kaum noch Grenzen gesetzt. Inwieweit in diesen technischen Konfigurationsüberlegungen allerdings dem anwendungsspezifischen Antwortzeit-Verhalten Rechnung getragen wurde, bleibt unausgesprochen.

Ein weiteres "Messe-Highlight" ist "lntegration von Text- und Datenverarbeitung". Hierunter ist zum einen die Interaktion von Textautomaten und zentraler Datenverarbeitung und die funktionale Abarbeitung von Text- und Datenverarbeitungsaufgaben in einem System zu verstehen. Ersteres wird zumindest von einigen großen Herstellern innerhalb der eigenen Produktpalette schon seit längerem angeboten, und letzteres findet seinen Ausdruck in der sogenannten freien Programmierbarkeit von Textautomaten. Dominierend dabei sind Programmiersprachen wie Basic und Pascal.

Reduzierte DV-Funktionen

Man muß sich hier allerdings zum Zeit immer noch vor Augen führen, daß freie Programmierbarkeit von Textautomaten noch nicht gleichbedeutend mit Integration von Text- und Datenverarbeitung ist. Bislang ist es immer noch so, daß der Benutzer nicht in der Lage ist, unmittelbar aus dem Textprogramm heraus DV-Programme zu starten beziehungsweise DV-Funktionen ablaufen zu lassen.

Er muß nach wie vor das Textprogramm verlassen, um das Basic- oder Pascal-Programm zu laden. Erst dann kann er die gewünschte DV-Funktion ablaufen lassen. Umgekehrt kann er auch nicht, wenn er mittels DV-Funktion Textdateien manipuliert, Textbearbeitungsfunktionen durchführen, wie Löschen, Einfügen, Absatz, Verschieben oder ähnliches. Hier liegen sehr deutlich die Grenzen der "lntegration".

Die meisten Hersteller haben hier versucht, sich zu behelfen, indem sie sogenannte reduzierte DV-Funktionen in Form von Makrobefehlen, als Programmbefehle oder Textbasic in das Textprogramm hineinnehmen. In dieser Konstellation sind diese Systeme nach wie vor nur bedingt multifunktional und können noch nicht als integrierte Text- und Datenverarbeitungssysteme bezeichnet werden.

Als wirkliche Neuheit werden auf der Hannover-Messe erstmals Textautomaten und Datenverarbeitungsanlagen mit Magnetplatteneinheiten in 8"-Winchester-Technologie stehen. Diese Systeme sind sehr kompakt und weisen eine außerordentlich hohe Speicherkapazität (bisher bis 20 MB) auf.

Mehrere Hersteller werden auch Ganzseitenbildschirme mit Positivdarstellung zeigen, die als Prototypen schon auf der Orgatechnik zu sehen waren und jetzt, nach intensiver Entwicklungsarbeit, flimmerfrei sind.

Außerdem werden Typenraddrucker gezeigt, die zum einen über einen höheren Zeichenvorrat verfügen, zum anderen in der Geräuschemission stark reduziert sind. Parallel dazu steigt das Angebot an langsameren Typenraddruckern, die zum einen preiswerter und zum anderen besser an die Leistungsfähigkeit eines Standalone-Textautomaten angepaßt sind.

TV-Software noch nicht perfekt

Was die Textverarbeitungssoftware angeht, so sind auf der Hannover-Messe keine sensationellen Neuheiten zu erwarten. Weder das 100prozentig sichere Silbentrennungssystem, noch der perfekt funktionierende Tippfehlererkenner werden Wohl zu sehen sein. Auch eine auf den normalen Anwender abgestimmte Spracheingabe ist noch nicht zu erwarten.

Was kann aus dem bisher Gesagten der Interessent für seinen Besuch auf der Hannover-Messe mitnehmen?

1. Versuchen Sie trotz aller Technologie, die Ihnen präsentiert wird, sich immer vor Augen zu führen, welche Aufgaben Sie automatisieren wollen, welche Ziele Sie mit der Einführung von Textverarbeitung verfolgen und welche Anwendung sie realisieren wollen.

2. Fragen Sie nach irgendwie gearteten Standard-Demo-Programmen, die Ihnen einen Vergleich verschiedener Systeme ermöglichen.

3. Verlangen Sie umfangreiche Unterlagen, die über das, was in den allenthalben ausliegenden Prospekten steht, hinausgehen.

4. Konzentrieren Sie sich bei der Vorführung bestimmter Funktionen auf die Bedienungskraft. Es ist zwar wichtig, was die Systeme können, noch wichtiger ist jedoch, wie sie es können. In diesem Zusammenhang ist es gar nicht schlecht, einmal von der Bedienungskraft zu verlangen, das System auszuschalten. Der bei Einschalten einsetzende Ladevorgang und die darauf folgenden, notwendigen Schritte bis zur Darstellung eines Textes zeigen sehr deutlich, wie weit der Hersteller an die Belange der Bedienungskräfte gedacht hat.

5. Fragen Sie nicht nur nach Systemfamilie und Kompatibilität der Datenträger, sondern lassen Sie sie sich zeigen.

Zum Schluß noch ein Tip: Bei aller Hektik und allen Show-Effekten auf der Messe sollte sich der Interessent genügend Zeit für seinen Messebesuch nehmen: Weniger ist manchmal mehr.

Abgesehen davon: Hannover bei Nacht hat auch seine Reize.

* Dr. G. Lamperstorfer und E. Reindl sind Geschäftsführer der Infora GmbH in Köln und Stuttgart.

Die Infora GmbH bietet Beratungs- und Systemservice für Information, Organisation und Automation mit den Schwerpunkten Datenverarbeitung und Büro-Kommunikation.