IT in der Prozessindustrie/IT-Berufsprofil

Prozessindustrie sucht multifunktionale Talente

17.05.2002
Die Prozessindustrie ist ein unübersichtlicher, aber vielversprechender Wirtschaftszweig für IT-Profis, die einschlägige Branchenkenntnisse besitzen, etwas von Geschäftsabläufen und Projektarbeit verstehen sowie geduldige und beharrliche Dolmetscher sind. Von Helga Ballauf*

Harte Fakten und Zahlen über die volkswirtschaftliche Bedeutung der Prozessindustrie in der Bundesrepublik sind Mangelware. Es gibt keinen Industrieverband und auch keine Statistik, die dieses Marktsegment als eigene Kategorie führt. Allein in den drei Kernbranchen Chemie, Pharma und Food erwirtschafteten im Jahr 2000 rund 1,2 Millionen Beschäftigte in mehr als 8000 Betrieben einen Umsatz von 280 Milliarden Euro.

Umfang und Tiefe der IT-Integration in der Prozessindustrie unterscheiden sich noch stark. Das betrifft Verfahrenstechnik und Automatisierung ebenso wie die Geschäftsprozessintegration. Auf den ersten Blick erscheinen die Anforderungen an die Bewerber unscharf: Genügt es, wenn Entwickler über Kostenbewusstsein verfügen, oder müssen sie komplette Geschäftsprozesse verstehen? Brauchen Verfahrenstechniker nur IT-Anwenderkenntnisse, oder müssen sie Prozessinformatik studiert haben? Unumstritten und damit glasklar ist nur eins: die Bedeutung der Branchenkenntnis. Das gilt für die Beschäftigten in der Chemie-, Pharma- oder Nahrungsmittelindustrie ebenso wie für externe Berater und Entwickler.

Matthias Manger ist promovierter Chemiker und arbeitet bei der Wassermann AG in München. Das Software- und Beratungshaus unterstützt unter anderem große Arzneimittelhersteller bei der Einführung von Supply-Chain-Management (SCM). Branchen-Know-how ist im Consulting das A und O, hat Manger festgestellt: "Nicht nur, um einem gewissen Standesdünkel der Pharmazeuten adäquat zu begegnen. Ich muss tatsächlich etwas von den Fertigungsprozessen verstehen, die ich optimieren will, und die Sprache der Fachleute beherrschen. Dann muss ich all das unseren Informatikern übersetzen können."

Noch schärfer zeichnet Martin Uhrig das gewünschte Anforderungsprofil: "Additives Wissen genügt nicht. Integratives Denken ist erforderlich", sagt der Teilhaber der Beratungsgesellschaft für Informations- und Prozess-Management Dr. Böhmer, Uhrig und Partner (BUP). Nur wer beispielsweise die Arbeitsbedingungen im Reinstraum bei der Halbleiterfertigung in allen Einzelheiten kenne, sei in der Lage, passende IT-Lösungen zu entwickeln. Neben Branchen- und IT-Wissen verlangt er "Wertschöpfungsdenken" von seinen Beratern. Denn früher oder später komme kein Unternehmen der Prozessindustrie an der IT-Vernetzung aller betriebsinternen Abläufe sowie an der firmenübergreifenden Steuerung des Informations- und Materialflusses vom Lieferanten bis zum Kunden vorbei.

Noch hinkt die Branche bei der Nutzung von IT-Anwendungen hinter anderen Wirtschaftssparten her. Mittlerweile haben die Softwareanbieter diesen Industriezweig entdeckt und begonnen, Standardlösungen zu entwickeln. Die SAP AG hat sich auch hier als Marktführer durchgesetzt. Die Walldorfer bieten jungen Informatikern und Wirtschaftsinformatikern, Naturwissenschaftlern und Wirtschaftsingenieuren ein eigenes Traineeprogramm zur Spezialisierung. Doch so stark die Position von SAP im Geschäftsbereich Prozessindustrie auch ist - ohne Eigenentwicklungen oder Produkte von Drittanbietern kommt auf diesem Feld kein Betrieb aus.

Klare Vorgabe für alleBeispiel Nestlé AG: Sie gilt unter den Nahrungsmittelherstellern hierzulande als Vorreiter, was den Aufbau der elektronischen Geschäftsprozesskette angeht. Es werden bereits diverse Rohstoffe, Dienstleistungen und Verpackungen bei Internet-Auktionen gekauft und Absatzdaten der Kunden direkt in den eigenen Produktionsprozess eingespeist. SAP liefert die technologische Basis, dazu lässt Nestlé Spezialsoftware hausintern oder von externen Anbietern entwickeln: "Klare Vorgabe für alle ist, die Standardschnittstellen zu nutzen", sagt E-Business-Management-Leiter Markus Irmscher. Der Arbeitsbereich stelle fachübergreifende Anforderungen an Mitarbeiter. Sie müssen viel von Unternehmensprozessen verstehen und zusätzlich über IT-Know-how verfügen: "Lernbereitschaft, Offenheit und Teamfähigkeit sind entscheidender als ein bestimmter Studienabschluss."

Der Zwang, elektronische Informations- und Transaktionsketten aufzubauen, ist nicht in allen Branchen der Prozessindustrie gleich stark. International agierende Chemie- und Pharmakonzerne müssen sich schneller auf die Regeln des E-Commerce einlassen als mittelständische Farben- und Lackehersteller, die für einen regionalen Markt produzieren.

In der UmbruchphaseBeispiel Brauwirtschaft: Rund 1200 Bierproduzenten gibt es in Deutschland, die Ertragslage ist mäßig. International tätige Konzerne drängen auf den Markt. So kooperiert die Münchner Paulaner-Brauerei seit zwei Jahren mit der niederländischen Heineken-Gruppe. "Heineken ist ein global agierendes Unternehmen, das Ressourcen und Wissen bündeln will. Dieser Einfluss wird auch auf uns wirken", so Paulaners IT-Leiter Peter Höhlein zur Lage des Unternehmens. Noch befindet sich die Traditionsbrauerei in einer Umbruchphase zwischen funktionaler und prozessorientierter Organisation. Mit den Aufgaben der IT-Integration müssen die Qualifikationen seiner Mitarbeiter wachsen, weiß Höhlein. Habe es in der Vergangenheit genügt, ein guter Programmierer zu sein, so werde künftig ein solcher Mitarbeiter, falls er auf Weiterbildung verzichte, praktisch zu einer Art Hilfsarbeiter degradiert. "Jetzt muss jeder etwas vom Geschäfts- und Marktgeschehen verstehen und Projektarbeit beherrschen", betont Höhlein. Paulaner ist daher an Nachwuchskräften interessiert, die Betriebswirtschaft, Brauwesen oder Verfahrenstechnik studiert haben, über IT-Affinität, Erfahrung in Projektarbeit sowie die Bereitschaft verfügen, früh Verantwortung zu übernehmen. (am)

*Helga Ballauf ist freie Journalistin in München.