Projekt Gesundheitskarte steckt fest

15.10.2004
Streit unter den Verbänden hat dazu geführt, dass eine Lösungsarchitektur für die geplante Chipkarte in weite Ferne gerückt ist. Auch Gesundheitsministerin Ulla Schmidt zweifelt am bisherigen Zeitplan.

Das Bundesgesundheitsministerium wird sein Möglichstes tun und die nötigen Maßnahmen ergreifen, damit die elektronische Gesundheitskarte ab dem 1. Januar 2006 eingeführt werden kann", heißt es in einer offiziellen Verlautbarung aus Berlin. Der Ton ist deutlich weniger zuversichtlich als noch vor wenigen Wochen. Im Sommer dieses Jahres hatte Schmidt selbstsicher verkündet, ab Anfang 2006 werde flächendeckend mit der neuen Chipkarte gearbeitet. Von Verzögerungen oder gar einem Scheitern des Projekts könne keine Rede sein, hieß es .

Spätestens seit Anfang Oktober lehnen sich die Verantwortlichen im Bundesministerium für Gesundheit und Soziales (BMGS) nicht mehr so weit aus dem Fenster. Schuld daran sind die in der Selbstverwaltung organisierten Krankenkassen, Verbände der Ärzte und Apotheker sowie Krankenhäuser. Ihnen ist es nicht gelungen, fristgerecht zum 30. September 2004 eine einstimmig verabschiedete Lösungsarchitektur für die Gesundheitskarte vorzulegen.

"Ich bin sehr enttäuscht, dass die gemeinsame Selbstverwaltung entgegen ihrer Zusage es wieder einmal nicht geschafft hat, fristgerecht die notwendigen Entscheidungen zu treffen", kritisierte die Ministerin. Offensichtlich sei es nicht gelungen, eine der Projektgröße angemessene Entscheidungsstruktur zu etablieren, bemängelte sie.

Laut den gesetzlichen Vereinbarungen zur Gesundheitsreform hat das Ministerium die Möglichkeit, die Spezifikationen der Karte bei einem Scheitern der Selbstverwaltung per Ersatzvornahme selbst festzulegen. Doch Schmidt zögert offenbar. Ob die Ministerin den Konflikt mit den Verbänden oder die Verantwortung für ein risikobehaftetes Projekt scheut, ist derzeit unklar.

Verbände weiter uneins

Angesichts der anhaltenden Kritik werden aus Kreisen der Bundesregierung die Rufe nach einem zentralen Projekt-Manager immer lauter. Davon wollen die Vertreter der Selbstverwaltung jedoch nichts wissen. Es sei fraglich, ob ein Projekt-Manager hilfreich sei, verlautete beispielsweise von Seiten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Da die Krankenkassen ihren Vorschlag spät eingereicht hätten, habe die Zeit gefehlt, das Material sorgfältig zu prüfen, erklären Ärzte- und Apothekerverbände die Verspätung. Es wäre fahrlässig, das Projekt Gesundheitskarte einem zu großen Zeitdruck auszusetzen.

Zwar bemühen sich die Verbände, den Vorwurf zu zerstreuen, interne Streitereien hätten eine Einigung verhindert. Doch der Versuch, Einigkeit zu demonstrieren, misslingt. Hinter den Kulissen wird weiter um die Spezifikationen des Projekts gerungen. Vor allem die Frage, wo die Patientendaten gespeichert werden sollen, erregt die Gemüter. Während die Krankenkassen eine zentrale Server-Lösung befürworten, fürchten Ärzte und Apotheker dadurch eine zunehmende Kontrolle durch die Kassen. Sie favorisieren das Speichern der Informationen auf der Chipkarte.

Auch Fragen der Finanzierung scheinen noch nicht abschließend geklärt. Zwar hatten alle Beteiligten im Sommer verkündet, sich über die Verteilung der Kosten geeinigt zu haben. Doch laut einem Bericht der "Ärztezeitung" drohen beispielsweise den Krankenhäusern wesentlich höhere Kosten durch das Projekt. Eine Umfrage unter den IT-Leitern der Kliniken habe ergeben, dass die Investitionen möglicherweise 20-mal höher ausfallen könnten als ursprünglich geplant.

Von einem Scheitern ihrer Bemühungen wollen die Vertreter der Selbstverwaltung indes nichts wissen. Man halte weiter an dem "Ziel einer von der gemeinsamen Selbstverwaltung getragenen zeitnahen Vereinbarung" fest, hieß es in einer Mitteilung an das Ministerium. Von einem konkreten Termin ist jedoch keine Rede.

Nun ist unklar, wie viel Zeit Schmidt der Selbstverwaltung noch gibt. Insidern zufolge liegt die Ersatzvornahme bereits fertig in den Schubladen. Grund- lage des Papiers sind die Arbeiten des Industriekonsortiums Bit4health, dem unter anderen IBM, SAP und der Kartenhersteller Orga angehören. Bislang schrecken die Politiker noch davor zurück. Nach Einschätzung von Experten aus dem Gesundheitswesen sei es riskant, über die Köpfe der Verbände hin- weg zu entscheiden. Wegen der Komplexität des Projektes müssten alle Beteiligten an einem Strang ziehen.

Dennoch macht Berlin Druck und droht, die Fäden selbst in die Hand zu nehmen. Das Scheitern eines weiteren staatlichen IT-Vorzeigeprojektes nach Toll Collect soll offenbar um jeden Preis verhindert werden. Der "Konsensweg kann nur so lange beschritten werden, wie das ernsthafte Bemühen zur Einigung bei der gemeinsamen Selbstverwaltung erkennbar ist und ihre Arbeiten konstruktiv und transparent fortgeführt werden", heißt es in einer Mitteilung des BMGS. (ba)

Die Gesundheitskarte

- Ab 2006 sollen 80 Millionen Versicherte, rund 350000 Ärzte, 21000 Apotheken, zirka 2000 Krankenhäuser und über 300 Krankenkassen mit der neuen Chipkarte hantieren.

- Das Projekt wird nach vorläufigen Schätzungen bis zu 1,8 Milliarden Euro kosten. Davon übernehmen die Kassen eine Milliarde Euro, den Rest teilen sich Ärzte, Apotheker und Krankenhäuser.

- Das Gesundheitsministerium will mit der Karte rund eine Milliarde Euro jährlich sparen. Durch ein Foto soll der Kartenmissbrauch eingedämmt, und mit der Funktion des elektronischen Rezeptes sollen administrative Kosten gesenkt werden.

Die nächsten Projektschritte

- Nachdem Kartenspezifikationen festgelegt sind, sollen noch 2004 die ersten Labor- und Integrationstests starten.

- Ab 2005 soll es großflächige Tests mit bis zu jeweils 100000 Versicherten geben. Während sich das Gesundheitsministerium für möglichst viele Modellregionen ausspricht, will die Selbstverwaltung deren Zahl auf drei begrenzen. Unter den Bundesländern scheint es derzeit einen heftigen Konkurrenzkampf um die prestigeträchtigen Projekte zu geben.

- Im Januar 2006 soll der Rollout der Gesundheitskarte beginnen.