Projekt: Durchs Tal der Tränen zum Erfolg

20.06.2001
Von Christian Zillich
MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Was tun, wenn Aufträge nicht schnell genug bearbeitet werden können und deshalb die ersten Kunden abspringen? Die Multivac Sepp Haggenmüller GmbH & Co.KG, Wolfertschwenden, setzte ein internes Supply-Chain-Management- (SCM-) Projekt auf und kann ihre Verpackungsmaschinen ein Jahr später wieder pünktlich liefern.

Ende 1998 liefen die Geschäfte des Sondermaschinenherstellers Multivac gut - fast zu gut. Die erfreulich dicken Auftragsbücher führten zu erheblichen Engpässen im Produktionsprozess des Unternehmens: Während die Kunden ihre Verpackungsmaschinen gerne drei bis vier Monate nach Bestellung erhalten hätten, kämpfte Multivac mit Lieferzeiten um die sieben Monate.

In der Folge verlor der Sondermaschinenhersteller speziell im Segment der weniger komplexen Maschinen zunehmend Aufträge an die Konkurrenz. "Wenn man sieht, dass ein Kunde, der schon 20 Multivac-Maschinen hat, eine vom Wettbewerb aufstellt, dann ist das schon sehr ärgerlich", umreißt Konrad Parloh, kaufmännischer Leiter des im Allgäu beheimateten Unternehmens die damalige Situation.

Als wesentliche Ursachen für die Lieferprobleme waren sehr schnell Mängel im Materialfluss ausgemacht. Um festzustellen, ob der Montageprozess auf die jeweils benötigten Materialien zugreifen kann, war meist eine physische Kontrolle erforderlich.

Daneben litt die effektive Gestaltung der internen Lieferkette unter Planungsproblemen, die nur durch eine Vielzahl autonomer Terminverantwortlicher ausgeglichen werden konnte. Zudem wurde die Montage durch häufige Nacharbeiten und Fehler behindert.

In der Folge waren die Abteilungsleiter und Meister in der Fertigung zu einem hohen Prozentsatz ihrer Arbeitszeit mit Troubleshooting beschäftigt. Termine, die nicht eingehalten werden konnten, wurden blind geschoben, und ein Feedback, das die Ursachen hätte aufdecken können, gab es nicht. Angesichts der dadurch begrenzten Kapazitäten war ein produktives Wachstum des Unternehmens trotz guter Auftragslage nicht möglich.

Oberstes Ziel: Höhere Termintreue

Auf der Suche nach einer geeigneten Lösung des Problems lernte die Unternehmensführung von Multivac im Sommer 1998 das Konzept der Wassermann AG kennen. Die ist darauf spezialisiert, durch die Optimierung von Prozessen die Produktivität und Termintreue von Unternehmen zu steigern.

Für die Umgestaltung der internen Lieferkette, neudeutsch Supply-Chain, setzt Wassermann neben der umfangreichen Beratungsleistung auch auf den Einsatz eigener Software-Tools.

Obwohl Multivac ursprünglich nicht die Einführung einer Supply-Chain-Management- (SCM-) Applikation geplant hatte, konnte der Softwarehersteller das Unternehmen mit seinem Konzept überzeugen. In Gestalt von Jörg Lautner wurde die neu geschaffene Stelle eines Logistikleiters zudem mit einem Bewerber besetzt, der bereits Erfahrungen mit den Lösungsansätzen von Wassermann mitbrachte.

Bei der Entscheidung spielte vor allem die "Philosophie" des Anbieters eine wichtige Rolle: "Für uns war Wassermann in erster Linie ein Beratungsunternehmen, mit dem wir den Weg gemeinsam gehen wollten. Um die Idee dann auch leben zu können, mussten wir deren Software-Tool mitnehmen", so Parloh.

Als zentrales Ziel für das Projekt schrieb Multivac die Erhöhung der internen Termintreue auf 90 Prozent fest. Innerhalb von sechs Monaten sollten sich durch das Erreichen dieser Vorgabe die Lieferzeiten um 30 Prozent verkürzen.

Zu den technischen Herausforderungen des im Februar 1999 gestarteten Projekts zählte die Anbindung des Planungs-Tools "Way" von Wassermann an das über zehn Jahre hinweg selbst entwickelte Produktionsplanungs- und Steuerungssystem (PPS).

Um optimal mit beiden Systemen arbeiten zu können, musste die IT-Abteilung umfangreiche Schnittstellen entwickeln: "Da steckt ein erheblicher Aufwand dahinter, der sich jetzt aber bezahlt macht", so Wilfried Grewe, Leiter der IT-Abteilung bei Multivac.

Parallel dazu führte das Unternehmen eine Terminal-Server-Lösung ein, um geeignete Kommunikationsstrukturen für den Produktions- und Fertigungsbereich zu schaffen. Dies war vor allem für den Informationsaustausch mit der neu eingerichteten Planungsgruppe erforderlich.

Im Oktober 1999 ging das neue System in den Echtbetrieb. Zu diesem Zeitpunkt konnte bereits der gesamte Herstellungsprozess als interne Lieferkette dargestellt werden. Außerdem war es möglich, mittels Way den aktuellen Stand jedes Auftrags abzufragen sowie rückstandsfreie Arbeitsvorratslisten an die Fachabteilungen zu verteilen und einzuholen. Auch die Versorgung der einzelnen Arbeitsvorgänge mit Material verlief zufriedenstellend.

Kampf gegen Akzeptanzprobleme

Die positive Entwicklung hin zu einer Termineinhaltungsquote von rund 80 Prozent stellte sich jedoch erst Mitte 2000 ein. Besonders das erste Halbjahr des Echtbetriebs bezeichnet Logistik- und Projektleiter Jörg Lautner rückblickend als das "Tal der Tränen". Dieser Begriff bezeichnet die kritische Projektphase, in der die Mitarbeiter vom Nutzen des Konzepts überzeugt werden mussten und der Erfolg in weiter Ferne schien.

Ein wesentlicher Aspekt des Projekts war die Einrichtung einer Abteilung für das Prozess-Management, die für die gesamte Planung der Fertigung verantwortlich ist. In der Folge hat sich das Aufgabenspektrum besonders der Mitarbeiter in der mittleren Führungsebene geändert.

"Unser Problem waren nicht die Leute an der Werkbank, sondern die Schlüsselmitarbeiter, die dadurch ihre Erbhöfe und Kompetenzen bedroht sahen", so Parloh.

Hinzu kam, dass die Mahnungen der Wassermann-Berater, schon zu Beginn des Projektes mehr in die Betreuung und Schulung der Mitarbeiter zu investieren, anfangs nicht beherzigt wurden. Die Akzeptanz des Prozess-Managements sowie der Informationen, die das Software-Tool vorhielt, war daher im Betrieb sehr eingeschränkt.

Wenn dann beispielsweise durch die Einführung der neuen Schnittstellen an einzelnen Tagen in der Produktion keine aktuellen Daten verfügbar waren, fühlten sich die Skeptiker im Unternehmen bestätigt, obwohl das operative Geschäft dadurch nur minimal beeinträchtigt wurde.

Nachdem das Projekt über mehrere Monate nur schleppend vorankam, entschloss sich die Geschäftsführung, das Projekt-Marketing massiv auszubauen. Auf einem Wochenendseminar im Mai 1999 gelang es schließlich, die Beteiligten von den neuen Aufgaben und Zielen zu überzeugen.

Den endgültigen Durchbruch brachte eine organisatorische Maßnahme: In jeder Fachabteilung wurde ein Mitarbeiter bestimmt, der zusammen mit einem festen Ansprechpartner im Prozess-Management ein Team bildet. Miteinander übernehmen sie nun die Verantwortung für die Beschaffenheit der für die Produktion so wichtigen Arbeitsvorbereitungslisten (ALVs) und deren Abarbeitungsgrad.

Dadurch, so Lautner, arbeite die Planungsabteilung nicht im Sinne einer klassischen Arbeitsvorbereitung. Vielmehr gehe es darum, gemeinsam den Prozess zu optimieren. Können Termine nicht eingehalten werden, beginnt also nicht die Suche nach einem Schuldigen, sondern vielmehr die gemeinsame Verbesserung der zugrunde liegenden Planung.

Der zweite wesentliche Punkt für den Erfolg des Projekts war die gewonnene Transparenz der Materialverfügbarkeit. Durch die Verbesserung des Materialflusses können sich nun die verantwortlichen Meister auf die Behebung von Störungen sowie die Betreuung ihrer Mitarbeiter konzentrieren, statt 30 Prozent ihrer Arbeitszeit mit der Materialbeschaffung zu verbringen. Für Projektleiter Lautner war dies eine wichtige Schwelle: "In dem Moment, als das ins Laufen kam, war das Eis gebrochen."

Für Parloh ist das Projekt nicht nur ein Erfolg, weil das Unternehmen die Lieferzeiten auf drei bis fünf Monate verkürzen konnte und dadurch 18 Prozent mehr Maschinen produziert hat. Durch die besseren Vorgaben und das geänderte Kommunikations- und Führungsverhalten habe sich insgesamt auch das Betriebsklima verbessert.

Anders als bei vielen Projekten dieser Größenordnung musste sich das Unternehmen von keinem einzigen Mitarbeiter trennen, der den Weg nicht mitgehen wollte. Auch aus den anfänglichen Fehlern beim Projekt-Marketing hat Multivac gelernt: Bei der geplanten Einführung eines PPS-Systems von Brain, das bei einem Tochterunternehmen bereits erfolgreich installiert wurde, will sich der Allgäuer Maschinenbauer so lange kein zeitliches Korsett verpassen, bis die "weichen Faktoren" stimmen.

Das Unternehmen

Die Multivac Sepp Haggenmüller GmbH & Co. KG in Wolfertschwenden im Allgäu ist das Hauptquartier der insgesamt 1400 Mitarbeiter umfassenden Multivac-Gruppe, die mit ihren Verpackungs- und Etikettiermaschinen weltweit einen Umsatz von rund 450 Millionen Mark erzielt.

Neben der Unternehmensleitung arbeiten in Wolfertschwenden zirka 700 Angestellte vornehmlich in den Bereichen Entwicklung, Fertigung, Montage und Vertriebssteuerung.

Den Großteil seines Geschäfts bestreitet der Sondermaschinenhersteller mit seinen Rollenmaschinen und erreicht hier nach eigenen Angaben einen Weltmarktanteil von 50 Prozent.

Durch die Optimierung seiner internen Prozesse konnte das Unternehmen seine Produktion von Rollenmaschinen von 650 Stück 1998 auf 790 Stück im Jahr 2000 ausbauen und plant eine weitere Steigerung der Produktion auf 880 Maschinen im laufenden Jahr.