Einige Akzeptanzprobleme müssen noch gelöst werden

Prognos: Kräftiges Wachstum für Multimedia-Anwendungen

27.11.1992

Holger Delpho ist Projektleiter Informations- und Kommunikationstechnik der Prognos AG, Basel

Multimedia-Anwendungen stehen seit mehr als einem Jahr im Mittelpunkt der Diskussion über Innovationen in Computerwelt, Kommunikationstechnik und auch Unterhaltungselektronik. Anbieter erhoffen sich von der neuen Technologie einen Ausweg aus den Problemen, mit denen bisher wachstumsgewöhnte Branchen derzeit kämpfen. Es gibt aber auch noch viel Unsicherheit bezüglich Einsatzmöglichkeiten und Nutzen.

Leider fehlt bisher eine eindeutige und allgemein akzeptierte Definition für Multimedia. Es existiert aber bereits eine beträchtliche Anzahl von Multimedia-Produkten für unterschiedliche Zielgruppen: Systementwickler, Endkunden aus unterschiedlichen geschäftlichen Bereichen und sogar Heimanwender. Dabei zeigen sich diverse Ansätze und Schwerpunkte für Multimedia-Anwendungen, die sich in der Praxis aus den Bereichen Computer, Kommunikation oder Konsumelektronik entwickelt haben. Insgesamt läßt sich der neue Begriff folgendermaßen definieren. Multimedia-Systeme ermöglichen:

- Integration von Daten, Text und Grafik mit Audio, Animation und Video,

- Interaktivität zwischen Benutzer und System,

- Verarbeitung und Kommunikation multimedialer Informationen.

Von Marktnischen zu Massenmärkten

Technik- und produktbezogen hat sich eine intensive und teils kontroverse Diskussion um Standards, Hardwareplattformen, Autorensysteme, professionelle Lernprogramme (Courseware) und kommerzielle Titelangebote entwickelt.

Die wichtigsten Produktlinien bieten bisher:

- Intels DVI-Prozessoren oder C-Cubes Kompressionschips,

- Apples Macintosh,

- IBMs PS-2 mit AVC

- Microsoft mit der MPC-Spezifikation und Windows Multimedia Extensions,

- Commodores Amiga und CDTV sowie

- Philips CD-I.

Multimedia-fähig sind auch Workstations wie Next oder Sun. Ferner verleihen Add-on-Komponenten beziehungsweise Upgrade-Kits in Form von Frame-Grabber-Boards, CD-ROM-Laufwerken, Sound-Karten und Betriebssystem-Erweiterungen auch Standard-PCs der 386er-Klasse Multimediafähigkeiten.

Internationale Standardisierungs-Institutionen wie ISO und CCITT haben inzwischen Standards zur Datenkompression und -codierung für Standbilder (ISO-JPEG), Bewegtbilder und Ton (ISO-MPEG) oder Bewegtbildübertragung über ISDN (CCITT-H.261) entwickelt. Daneben gibt es in verschiedenen Ländern spezielle Multimedia-Organisationen, die sich um die Schaffung integrierender Konzepte und Plattformen bemühen.

Zielsetzung der von Prognos durchgeführten Untersuchung war es, aus der Vielzahl existierender oder geplanter Multimedia-Anwendungen diejenigen zu eruieren und näher zu analysieren, die sich voraussichtlich von Nischenmärkten in Richtung Massenmärkte entwickeln werden. Als aussichtsreichste Segmente für die USA und Westeuropa wurden in einer ersten Analyse fünf Einsatzbereiche identifiziert. In allen zeigen sich allerdings noch Akzeptanzprobleme, deren Lösung für den Erfolg von Multimedia notwendig sein wird.

Nach Erfolgen in den USA greifen Videokonferenzen jetzt auch auf den westeuropäischen Markt über. Sie haben sich aber bisher noch nicht als Standard der Unternehmenskommunikation etablieren können. Hohe Preise für Ausrüstungen und Übertragungsleitungen, Installationsaufwand sowie Probleme der potentiellen Anwender im Umgang mit dem neuen Medium standen einem Durchbruch bisher im Wege. Preisgünstigere Geräte für mobilen Einsatz und die sich nun abzeichnende Kompatibilität der Modelle verschiedener Anbieter haben in jüngster Zeit zu einem Aufschwung geführt.

Multimedia-PCs eröffnen nun in absehbarer Zukunft die Mög- lichkeit für Desktop-Videoconferencing vom Arbeitsplatz aus, sofern die Standards von Computing und Kommunikation kompatibel sind. Prognos geht davon aus, daß im Zuge von ISDN leistungsfähige Netze, zu akzeptablen Preisen zur Verfügung stehen werden, so daß Multimedia-Desktop-Kommunikation in den 90er Jahren in vielen Branchen und Unternehmensgrößen Einzug halten und zu einem wichtigen Markt avancieren wird. Bis 1995 dürften in den vier großen Ländern Westeuropas - Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien - etwa 120 000 solcher Geräte in Betrieb sein.

Multimedia-Lösungen im Bereich des betrieblichen Corporate Trainings stellen bereits heute einen Großteil der realisierten Anwendungslösungen in Westeuropa und USA dar. Da die Investitionsvolumina für Multimedia-Applikationen 250 000 Mark und mehr betragen, finden sich diese bisher zumeist in Großunternehmen. Anwendungen reichen von der Verkäuferausbildung bei Versicherungen über Personalschulung bei Postgesellschaften, Maschinenbedienung oder Fahrertraining in Industriebetrieben bis hin zur Unterweisung und direkten Arbeitsunterstützung von Mechanikern in der Kfz-Wartung.

In Westeuropa bis 1995 mehr als 70 000 Systeme

Sinkende Hardwarepreise insbesondere für die Benutzer- stationen werden Impulse für weiteres Marktwachstum geben. Dagegen stehen auf der anderen Seite hohe Kosten für die Erstellung kundenindividueller Lernprogramme, der sogenannten Courseware, die einer weiteren Verbreitung tendenziell entgegenwirken. Dabei erscheinen die Möglichkeiten zu Kostenreduzierungen in diesem Bereich etwa durch Produktivitätsfortschritte eher begrenzt. Vor diesem Hintergrund hat am ehesten anwendungsbezogene Courseware für einen größeren Kundenkreis günstige Marktchancen.

Multimedia-Lernstationen werden voraussichtlich zunächst in Trainingscentern eingesetzt und erst später auch am einzelnen Arbeitsplatz implementiert werden. Im Zuge dieser Entwicklung dürfte die Anzahl solcher installierter Systeme in Westeuropa bis 1995 auf über 70 000 anwachsen.

Schulen, Universitäten und andere allgemeine Ausbildungs- einrichtungen könnten ihre personellen Engpässe zumindest teilweise durch eine konsequente Nutzung von Multimedia entschärfen. Interaktive Stationen zum Selbststudium oder die Fernübetragung von Lehrveranstaltungen (Remote Teaching) sind neue Formen der Wissensvermittlung.

In den USA haben sich interaktive Bildplatten-Systeme be- reits etablieren können, und es zeichnet sich ab, daß durch staatliche Förderung und auch private Sponsoren der Einsatz von Multimedia in diesem Bereich weiter wachsen wird. Dagegen zeigt sich in den untersuchten Ländern Westeuropas eine eher skeptische Einstellung zu umfangreichen Investitionen, obwohl es auch hier Pilotprogramme im Bildungsbereich gibt.

Interesse an Multimedia-Lösungen in Marketing und Sales Support zeichnet sich derzeit bei vielen Firmen ab. Dabei sind allerdings unterschiedliche Varianten von Systemausrichtungen in der Diskussion, von Produktinformations-Systemen zur

Unterstützung für Verkäufer bis hin zu Informationskiosken am Point-of-Sale oder an öffentlichen Plätzen, Flughäfen, Autobahnraststätten etc.

Stand-alone-Lösungen sind ebenso vertreten wie vernetzte Konfigurationen mit Anschluß an zentrale Datenbanken. Jedoch sind bisher die Vernetzungsmöglichkeiten für den Austausch von Bildinformationen noch begrenzt, und zwar primär aus wirtschaftlichen Gründen.

Mit dieser Einschränkung gibt es Anwendungsbeispiele schon von der Automobilindustrie über die Unterhaltungselektronik und Kaufhäuser bis hin zu Reisebüros und Banken.

Aber auch für multimediale interaktive Verkaufsunterstützung bildet die Produktion der multimedialen Inhalte, der Infoware, den Hauptkostenfaktor. Hier müssen die Entwickler ansetzen. Dabei ist die Zusammenarbeit von Spezialisten unterschiedlicher Disziplinen, also von Medien- und Marketing- Fachleuten, Video-Produktionsteams sowie Software- und Kom- munikationstechnik-Spezialisten wichtig, um die neuen integrativen Möglichkeiten von Multimedia auch praxisgerecht umsetzen zu können. Die richtige Mischung aus Inhalt und unterhaltsamer Präsentation sowie eine gute Bedienbarkeit der Benutzeroberfläche werden für den weiteren Erfolg ausschlaggebend sein (vgl.Abbildung 1).

Da auch hier, ähnlich wie beim Corporate Training, durch effizientere Produktion und Mehrfachverwendung von Primärmaterial nur eine begrenzte Kostensenkung zu erzielen ist, werden zukünftige Anwendungslösungen auf Systeme mit einer höheren Zahl von Multimedia-Terminals abzielen müssen. In diesem Anwendungsbereich erwartet Prognos für die vier großen westeuropäischen Länder einen Anstieg der in Betrieb befindlichen Multimedia-Stationen von zirka 35 000 im Jahr 1991 auf mehr als 130 000 im Jahr 1995.

Der Markt bietet schon einige Multimedia-Produkte für priva- te Konsumenten. CDTV von Commodore und Philips' CD-I sind die wichtigsten Vertreter. Hinzu kommt die Photo-CD von Kodak, die die interaktive Kombination von Standbild und Ton erlaubt. Der Markterfolg hängt hier davon ab, ob für Multimedia ein umfangreiches und attraktives Angebot an interaktiven CDs geschaffen wird, das den Konsumenten überzeugt. Unter dieser Voraussetzung kann sich Consumer-Multimedia sowohl in Westeuropa als auch in den USA zum Milliardenmarkt entwickeln.

Prognos erwartet unter Berücksichtigung der in den durchgeführten Recherchen zutage getretenen Akzeptanzprobleme, daß sich Multimedia in den untersuchten Anwendungsbereichen bis 1995 zum Multimilliarden-Markt entwickeln wird. Diese Marktfelder werden für die vier europäischen Länder Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien insgesamt voraussichtlich von etwa 650 Millionen Mark im Jahr 1991 auf zirka 5 Milliarden Mark 1995 anwachsen, wobei Multimedia-Verkaufsunterstützung und Corporate Training ungefähr 50 Prozent des Marktes ausmachen werden.

Der Markt für Multimedia-Programme und Dienste wie Kommunikationsanwendungen, Lernprogramme, CD-Titel oder interaktive Produktpräsentations-Programme wird zukünftig denjenigen für Multimedia-Hardware deutlich übertreffen (vgl. Abbildung 2). +