"Profitmaximierung ist nicht die erste Prioritaet" Der neue Lotus-CEO setzt auf den langen Atem der IBM

17.11.1995

Am 11. Oktober dieses Jahres endete bei Lotus die Aera Jim Manzi. Nach zwoelf Jahren der Firmenzugehoerigkeit - davon mehr als neun am Steuer des Software-Unternehmens - warf der ehemalige McKinsey- Berater das Handtuch. Als neuer Chief Executive Officer fungiert seit wenigen Wochen Michael Zisman. Im Vergleich mit Manzi schaetzt sich der Ex-Professor der renommierten Sloane School of Management eher als Techniker ein. Eigenen Angaben zufolge spuert Zisman keinen akuten Erfolgsdruck: Die Lotus-Eignerin IBM spekuliere nicht auf eine schnelle Rueckkehr zur Profitabilitaet, sondern betrachte die Uebernahme als Investition in die Zukunft. CW- Redakteurin Karin Quack traf den neuen Lotus-CEO auf der diesjaehrigen Tagung der Deutschen Notes User Group.

CW: Herr Zisman, Sie sind hierher zur Konferenz der deutschen Notes-Anwender gekommen, weil der Notes-Entwickler Ray Ozzie kurzfristig abgesagt hat. Gibt es irgendeine Garantie dafuer, dass Ozzie nicht dem Beispiel von Jim Manzi folgt und das Unternehmen verlaesst?

Zisman: Als wir Iris (das von Ozzie gegruendete Unternehmen, jetzt die rund hundertkoepfige Notes-Abteilung innerhalb von Lotus, Anm. d. Red.) im vergangenen Jahr uebernahmen, resultierte daraus eine ganze Reihe von Vereinbarungen, die wir allerdings fuer uns behalten wollen. Ray hat aber oeffentlich gesagt, dass er ernsthaft beabsichtige, im Unternehmen zu bleiben. Die Leute verkennen eins: Ray hat die vergangenen zehn Jahre seines Lebens in Notes investiert. Warum sollte er jetzt fortgehen, wo diese Arbeit beginnt, Fruechte zu tragen?

CW: Weil er moeglicherweise etwas Neues beginnen moechte.

Zisman: Das glaube ich nicht. Ausserdem hatte Iris ausser ihm noch vier weitere Gruendungsmitglieder. Ray betrachtet sich selbst lediglich als den Sprecher dieser Gruppe, die immer noch geschlossen bei Iris ist.

CW: Viele Lotus-Kunden sehen aber in Ray Ozzie den eigentlichen Notes-Visionaer und den Garanten fuer die Weiterentwicklung des Produkts.

Zisman: Zum einen steht Ray wirklich hinter uns, zum anderen laesst sich ein Unternehmen nicht auf eine Person beschraenken. Ich kann Ihnen versprechen: Wenn Ray morgen von einem Lastwagen ueberfahren wuerde, bliebe Lotus trotzdem im Markt.

CW: Als Jim Manzi Lotus verliess, sagte er, es sei ein Unterschied, ob jemand als CEO fuer einen Umsatz von einer Milliarde Dollar verantwortlich sei oder als Manager einer Abteilung in einem groesseren Unternehmen fungiere. Wieviel Unabhaengigkeit gewaehrt die IBM Lotus?

Zisman: Wir wollen gar nicht voellig unabhaengig sein. Sonst koennten wir keinen Vorteil aus dem ziehen, was IBM anzubieten hat. Ich habe die Fuehrung dieses Unternehmens unter der Voraussetzung uebernommen, dass wir eng mit IBM zusammenarbeiten, wo es sinnvoll ist, und da, wo das keinen Sinn macht, unabhaengig agieren.

CW: Wo ist das der Fall?

Zisman: Beispielsweise bei der Cross-Plattform-Funktionalitaet. Fuer mich steht voellig ausser Frage, dass wir auch weiterhin unterschiedliche Betriebssysteme unterstuetzen. Unabhaengig operieren auch die Sales-Force, Aufbau und Pflege der Beziehungen zu unseren Vertriebskanaelen sowie die Entwicklung.

CW: Und wo bleibt da die Synergie?

Zisman: Auf seiten der Finanzen und der Produkte. Zum einen investiert IBM sehr stark in Lotus, was sehr wichtig fuer uns ist. Und zum anderen integrieren wir IBM-Technologie wie beispielsweise MQ Series, wenn das sinnvoll ist.

CW: Das klingt gut. Aber Ihre Kunden sehen Anzeichen dafuer, dass sich die Notes-Entwicklung nach der Akquisition verlangsamt hat.

Zisman: Wenn ich so etwas hoere, dann frustriert mich das richtig. Notes 4.0 wird noch 1995 auf den Markt kommen - definitiv. Das hat mit IBM ueberhaupt nichts zu tun. Wir haben weder Leute hinzu- noch abgezogen. Die Entwicklung ist also keineswegs langsamer geworden.

CW: Es geht das Geruecht, Notes 4.0 fehlten einige der angekuendigten Funktionen. Auf der Konferenz heute morgen hiess es zudem, die Notes-Gateways wuerden noch nicht mit dem ersten Release ausgeliefert.

Zisman: Das stimmt nur fuer den Lotus Communication Server, der im Dezember in den Betatest geht. Aber dieser LCS existiert mittlerweile unabhaengig von Notes. Was wir als Notes 4.0 ausliefern, ist ein komplettes Produkt - auch wenn es in 4.1 sicher Verbesserungen geben wird.

CW: Notes 4.0 kommt fast ein Jahr spaeter auf den Markt als zunaechst angekuendigt. Woran liegt das?

Zisman: Wenn Sie Software entwickeln, haben Sie es mit drei Variablen zu tun: Funktionen, Qualitaet und Zeitplan. Und wenn Sie an einer drehen, aendern sich auch die anderen. Um die Qualitaetsstufe zu erreichen, die wir benoetigten, waren weitere Tests notwendig.

CW: Dann war es wohl ein Fehler, die neue Version bereits so frueh anzukuendigen.

Zisman: Eher im Gegenteil. Wir sind oft dafuer kritisiert worden, unsere Produkte nicht frueh genug anzukuendigen. Microsoft Exchange wurde 1993 angekuendigt und ist immer noch nicht auf dem Markt. Unsere Kunden klagen im Ernst: Ihr gebt uns nicht das, was wir fuer unsere Planung benoetigen; Microsoft sagt uns lange im voraus, wo es hingeht.

CW: Hat die Ankuendigung von Exchange das Notes-Geschaeft beeinflusst?

Zisman: Jedenfalls nicht negativ. Microsoft hat viel Glaubwuerdigkeit verloren, weil die Auslieferung immer weiter hinausgezoegert wird.

CW: Vor der Akquisition hatte Lotus angekuendigt, eine Reihe von Mitarbeitern zu entlassen. Ist der Personalabbau jetzt abgeschlossen?

Zisman: Ja, mittlerweile stellen wir wieder Leute ein. Tatsaechlich hat die Restrukturierung sogar weniger Arbeitsplaetze gekostet, als wir urspruenglich gedacht hatten - dank IBM. Schliesslich waere es aus Sicht der IBM wenig sinnvoll, dreieinhalb Milliarden Dollar fuer ein Unternehmen zu zahlen, das kleiner und kleiner wird.

CW: Deshalb macht man den Betrieb immer zuerst schlank und profitabel, bevor man ihn dann verkauft.

Zisman: IBM hat Lotus nicht wegen der Profite gekauft, die wir 1996 erzielen, sondern wegen dem, was wir 1999 oder spaeter erreichen koennen. Deshalb wird IBM wohl erst einmal eine gehoerige Summe investieren.

CW: Das hoert sich so an, als sei die Frage, wann Lotus wieder profitabel wirtschaftet, fuer Sie ueberhaupt kein Thema.

Zisman: Den Gewinn zu maximieren ist tatsaechlich nicht unsere erste Prioritaet.

CW: Sondern?

Zisman: Notes so weit zu verbreiten, wie wir nur koennen.

CW: Das tun Sie bisweilen auch auf Kosten des unmittelbaren Profits, beispielsweise durch Hardware-Bundles. Verdienen Sie ueberhaupt Geld mit Notes?

Zisman: Wir haben uns bewusst dafuer entschieden, sehr viel in die Marktdurchdringung von Notes zu investieren. Wir werden haeufig dafuer kritisiert, dass wir den Markt nicht noch aggressiver angehen - mit Preissenkungen oder aehnlichem. Aber durch die Verbindung mit IBM koennen wir die Sache sehr langfristig konzipieren. Unser Communications-Business als Ganzes ist profitabel. Zudem haben die Investitionen in Notes zu einem sehr hohen Uebernahmepreis gefuehrt.

CW: IBM hat Lotus vor allem wegen Notes gekauft. Was passiert jetzt mit den Desktop-Produkten?

Zisman: Das ist immer noch ein gutes Geschaeft - fast die Haelfte unseres Umsatzes. Wir sind damit nicht so erfolgreich, wie wir es gern waeren, aber - anders als Novell - haben wir keineswegs vor, daraus auszusteigen. IBM ist der Ansicht, dass die Kunden Alternativen wollen. In diesem Monat kommen Wordpro, Freelance und Approach in 32-Bit-Versionen auf den Markt. Ausserdem versprechen wir uns viel von unserem neuen Components-Business.

CW: Es heisst, Sie wollen Smartsuite in kleinere Software- Komponenten zerlegen ...

Zisman: Das ist voellig falsch. Die Komponenten entwickeln wir in einer separaten Abteilung zusammen mit einigen Partnern. Grosse Produkte in kleine Stuecke zu zerteilen wuerde nicht zu den Ergebnissen fuehren, die wir anpeilen. Mit unserem Know-how bauen wir ein neues, von Grund auf objektorientiertes Set von Komponenten - mit Notes als Container oder Integrationsbasis.

CW: Notes wird zwar oft als E-Mail-System eingesetzt, ist aber eigentlich eine Entwicklungsplattform. Auf der Anwenderkonferenz haben Ihre Kunden jedoch gerade an den Entwicklungswerkzeugen von Notes harsche Kritik geuebt. Was unternimmt Lotus, um diesen Mangel moeglichst bald zu beheben?

Zisman: Fuer die Version 4 haben wir die Entwicklungsumgebung ueberarbeitet. Es gibt jetzt eine richtige Scripting-Sprache, bessere GUI-Werkzeuge und neue Back-end-Funktionalitaet.

CW: Viele Ihrer Kunden sind sehr grosse Unternehmen, die es sich leisten, einen wirklichen Software-Engineering-Ansatz zu verfolgen. Wie passt Notes da hinein?

Zisman: Das ist das Problem bei allen Client-Server-Werkzeugen einschliesslich Visual Basic und Visual C++. Diese aktuelle Generation von Entwicklungswerkzeugen muss noch einen weiten Weg zuruecklegen, bis sie sauber in eine CASE-Umgebung hineinpasst. Aber die Leute benutzen sie trotzdem - fuer eine vollkommen neue Klasse von verteilten Anwendungen.

Zur Person

Michael Zisman bekleidet seit Mitte des vergangenen Monats das Amt des Chief Executive Officer bei der Lotus Development Corp., Cambridge, Massachusetts. Damit ist er fuer einen Teil der Aufgaben zustaendig, die Jim Manzi bis zu seinem Ausscheiden aus dem Unternehmen wahrnahm. Zu Lotus stiess Zisman im vergangenen Jahr, als das von ihm gegruendete Software-Unternehmen Soft Switch Inc. uebernommen wurde. Bevor er Soft Switch ins Leben rief, hatte er einen Lehrstuhl an der Sloan School of Management, die zum Massachusetts Institute of Technology (MIT) gehoert.

Notes versus Web

Spaetestens, seit der Internet-Spezialist Netscape den Groupware- Anbieter Collabra gekauft hat, mehren sich die Stimmen, die das World Wide Web als potentiellen Konkurrenten fuer Lotus Notes bezeichnen. Im Hinblick darauf strich Lotus-CEO Michael Zisman gegenueber der CW-Schwesterpublikation "Computerworld" die Staerken des eigenen Produkts heraus - insbesondere die lokale Message- Speicherung, die derzeit noch kein Internet-Browser beherrsche. Zisman: "Kann man einem Browser lokale Speicherung beibringen? Das ist nur eine Frage der Programmierung. Aber wenn Sie das tun, wird dieser Browser eben ein bisschen groesser, ein bisschen schwerer, ein bisschen komplexer und ein bisschen schwieriger zu installieren."