Professor Kernler sieht noch Rationalisierungsreserven im "dispositiven Faktor":Integrierte Fertigungsplanung tut not

04.12.1981

SCHLUCHSEE/SCHWARZWALD - "Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit." Den Wahrheitsgehalt dieses Spruchs habe er in mehr als einem konkreten Fall erleben müssen, sagte Professor Helmut Kernler, Leiter des Fachbereichs Wirtschaftsinformatik an der Fachhochschule Furtwangen, vor Journalisten, die auf Einladung der Kienzle Apparate GmbH, Villingen, zu einem Informationsseminar über "EDV im Produktionsbereich" zusammengekommen waren. Kernler setzte sich in seinem Vortrag nachdrücklich für eine dialogisierte Fertigungsplanung ein.

Die Elementarfaktoren Verbrauchsgüter, Betriebsmittel und Personal, die für die Herstellung eines Produkts erforderlich sind, sind einer weiteren Rationalisierung kaum mehr zugänglich, meinte Kernler. Um so reichlicher vorhanden seien Rationalisierungsreserven auf einem Gebiet, das der Betriebswirtschafts-Papst Professor Erich Gutenberg als den "dispositiven Faktor" bezeichnet habe.

Wenn man die heutige Situation in der industriellen Fertigungsplanung

betrachte, die ja die Domäne der Disponenten sei, so könne man einerseits zwar lobend hervorheben: "Mit minimaler Schulung machen Fertigungsplaner Maximales aus schlechten Programmen." Andererseits sei er, Kernler, aber auch nicht weit davon entfernt, eine Änderung der Berufsbezeichnung zu fordern und in Zukunft statt von Disponenten von "Dispologen" zu reden - in Anlehnung etwa an die Zunft der Astrologen, von denen schon so mancher gelogen habe.

Fleckerlteppich

Scharf kritisierte Kernler die derzeitige Situation in der produktionsnahen EDV:

- Bei der Produktionsplanungssoftware, wie sie üblicherweise im Einsatz sei, handele es sich um einen "FIeckerlteppich" aus alten Modularprogrammen (Kernler erwähnte dazu beispielhaft IBM und Honeywell Bull).

- Dem zentralen Erfordernis, möglichst knapp, in jedem Falle aber auch ausreichend disponieren zu können, werde diese Software nicht gerecht. Kernler: "Zeigen Sie mir ein Programm, das den Disponenten wegen eines drohenden Zuviel mahnt."

- Die ganze Betriebsdatenerfassung, wie sie heute betrieben werde, sei unsinnig, da sie zu sehr auf Mengen- und zu wenig auf Terminplanung abhebe. Beiden Belangen aber sei in gleicher Weise Rechnung zu tragen.

- "Ich kenne Firmen", höhnte der Professor, "die haben sich für vier Millionen Mark ein Hochregallager eingerichtet und dadurch die 500 000 Mark für eine ordentliche Fertigungsplanung gespart. Prost!"

Kernler skizzierte das Bild eines Unternehmens, das sich in der Zange zwischen einem immer größer und unflexibler werdenden Kostenblock und einer immer wichtiger werdenden Anpassungsfähigkeit an Marktvorgänge befindet. Für die Manager werde es immer risikoreicher, Großserien aufzulegen, wie dies aus Gründen der Preispolitik unumgänglich sei, und dabei einen Ballast mitzuschleppen (Personal, Investitionsgüter, Gemeinkosten), der immer unbeweglicher mache.

Reduzierte Kapitalbindung

Zu einem Abbau dieser gefährlichen Konstellation kann nach Kernlers Überzeugung eine moderne Fertigungsplanung (FPL) beitragen. Gute FPL-Systeme bewirken dem nach,

- daß Durchlaufzeiten drastisch reduziert werden,

- daß Halbfertigprodukt- und Werkstattbestände sinken

- daß auf diese Weise weniger Kapital gebunden wird,

- daß die Auslastung der Produktionsanlagen steigt.

Anforderungskatalog

FPL-Systeme, erläuterte Kernler bestehen in der Regel aus den Komponenten Stammdaten- und Betriebsdatenverwaltung, Material- und Kapazitätswirtschaft. Diese Systeme müßten eine simultane Planung aller Elementarfaktoren erlauben. Es komme nämlich nicht so sehr auf die akribische Planung eines Elementarfaktors als vielmehr auf das Erfassen des Zusammenspiels aller Faktoren an, wolle man die Gemeinkosten aus diversen Wartezeiten niedrig halten.

Ferner forderte Kernler, ein FPL-System müsse aufzeigen, wo Planungsreserven brachliegen. So meldeten die bislang realisierten Systeme zwar das eventuelle Fehlen von Elementarfaktoren an, stünden diese Faktoren aber unnötig früh oder in zu großen Mengen zur Verfügung, dann versagten diese Systeme.

Ähnlich liege es bei der Terminplanung. Die ihm bekannten FPL-Systeme, meinte Kernler, planten und überwachten Mengen und Fertigungsdurchlaufzeiten mit einer Abweichungsrate von oft unter fünf Prozent, während die Planung der Termine häufig mit einer 25prozentigen Ungenauigkeit noch als ausreichend angesehen werde. Da jedoch Terminabweichungen sich auf das Zusammenspiel der Elementarfaktoren viel krasser auswirkten als Verbrauchsabweichungen, muß nach seiner Meinung die Terminplanung bei FPL-Systemen den Vorrang erhalten. Kernler denkt hier an verschiedene a priori eingebaute Pufferfunktionen.

Zudem forderte der Furtwanger Professor für FPL-Systeme die Möglichkeit der rückwärtsschreitenden Planung, um auf diese Weise Absatzpläne auf ihre Realisierbarkeit hin überprüfen zu können. Diese Anforderungen, unterstrich Kernler, gelten für alle drei Ebenen:

- die langfristige FPL-Ebene mit pauschaler Termin- und Mengenplanung,

- die mittelfristige Fertigungsplanungsebene mit exakter Termin- und Mengenplanung sowie

- die kurzfristige Durchsetzungsebene.

Nutzenträchtige Information

Die Ebenen selbst, erläuterte Kernler, sollen miteinander möglichst lose gekoppelt, aber von großer innerer Festigkeit sein. Besonders locker sei eine solche Verbindung, wenn zwischen den Ebenen nur Bewegungsdaten - und die nur in begrenzten Mengen - ausgetauscht würden. Kernler: "Geringstmögliche Datenübergabe an den Schnittstellen - da ist Kienzle meines Erachtens auf dem richtigen Weg und hat dort so etwas wie eine Vorreiterfunktion inne."

Die wichtigste Eigenschaft von FPL-Systemen besteht nach Kernler nicht im Rationalisieren buchungstechnischer Vorgänge, sondern im Bereitstellen nutzenträchtiger Informationen.

Diesen Informationswert bemißt Kernler an folgenden fünf Kriterien:

- Genauigkeit von Mengen und Terminen

- Aktualität der Informationen

- Verfügbarkeit der Informationen am Arbeitsplatz

- Relevanz der Informationen

- Integration zwischen den Systemebenen (vertikal) wie auch zwischen den Elementarfaktoren (horizontal)

Zitat Kernler: "Die horizontale Integration ist die einzig senkrechte."

FPL-Systeme gibt es in mehreren Spielarten. Kernler unterscheidet

- "Abrechnungssysteme", die Verwaltungsvorgänge wie Abbuchen oder Saldieren automatisieren, die konventionelle Organisation aber unangetastet lassen,

- "Dispositionssysteme", die nicht nur Istdaten buchen, sondern auch Aktivitäten planen und durch die Verminderung unproduktiver Zeiten große Rationalisierungsreserven erschließen,

- "Simulationssysteme", die mehrere mögliche Alternativen und ihre Auswirkungen untersuchen. Diese What-lf-Systeme bedürfen wegen der großen zu bewegenden Datenvolumina leistungsfähiger EDV-Anlagen.