Als die Computer rechner lernten (I):

Professor Billings bandagierte Blechtrommel

29.10.1982

MÜNCHEN - Weniger durch seine Suche nach kosmischen Gravitationswellen als vielmehr durch die Erfindung des Trommelspeichers ist Professor Heinz Billing in der DV-Welt bekannt. Die Emeritierung Billings, der zuletzt am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching bei München tätig war, gibt Anlaß, darauf zurückzublicken, was sich neben DV-Altmeister Konrad Zuse und seinen Relaisrechnern noch so tat.

Mit zwei Operationen pro Sekunde war das System "G1" außergewöhnlich schnell und benötigte auch einen Hauptspeicher von stattlichen 26 Worten a 32 Bit. Was in Verbindung mit dem Befehlssatz von 16 Instruktionen eine Anlage ergab, die die damals bekannten Rechenmaschinen im Tempo um glatt das Zehnbis Zwanzigfache schlug.

Um diese Zeit waren die Maschinen noch von der vollmechanischen Sorte, und die hier genannte G1 war der erste in Deutschland gebaute, vollelektronische (Röhren-)Rechner überhaupt. Sein "Hauptspeicher" allerdings war eine Konstruktion, die in der Biologie heute wohl als "missing link" bezeichnet würde; als Zwischenglied zwischen mechanischen und elektromagnetischen (Kern-) Speicherkonstruktionen: der von Professor Billing in Göttingen allein erfundenen Trommelspeicher. Von ihm, seinem Konstrukteur und den frühen Germanen-Rechnern G1, G2 und G3 aus Göttingen soll dieser nostalgische Rückblick handeln.

In Computerkreisen ist Billing als Vorsitzender des Beratenden Ausschusses für EDV-Anlagen in der Max-Planck-Gesellschaft bekannt und weniger durch seine Arbeiten über kosmische Gravitationswellen. Vor rund 35 Jahren stieß Billing zur Steinzeit-Computerei.

Damals, so schilderte er die Anfänge in einer Schrift der Max-Planck-Gesellschaft, grasten britische Computer-Experten wie Alan Turing ihre Besatzungszone nach verwertbarem Rechner-Know-how ab und berichteten bei einem kleinen Kolloquium in Göttingen den deutschen Kollegen Billing, Zuse und Professor Alwin Walther von der TH Darmstadt von ihren eigenen Elektronen-Logeleien. Wobei sie Billing besonders mit einem Konzept beeindruckten, wie - im Vergleich zur damals den Deutschen nur in Umrissen bekannten US-Rechnerentwicklung "Eniac" - der gleiche Zweck mit erheblich geringerem Aufwand erreicht werden könnte.

Billing hat noch heute seine Original-Gesprächsnotiz aus jenen Tagen parat, und sie ist es als Dokument wert, hier wörtlich wiedergegeben zu werden:

"Rechenmaschine nach dem Dual-System, geplant von Womersley und Professor Porter.

Speicher: Während in dem amerikanischen Eniac-Rechner jede Ziffer der Zahl gleichzeitig in einem Speicherelement gespeichert wird, wird hier die Zahl in eine zeitliche Folge von Impulsen zerlegt, wie es im Bild dargestellt ist. Diese Impulsfolge wird auf die Verzögerungskette dl (delay line) gegeben, läuft über diese hinweg und wird vom Ausgang her über einen Verstärker A und Gate G (Impulsformer) auf den Eingang zurückgegeben und läuft dauernd rund. Der Impulsformer gibt den in der Kette geschwächten und verzerrten Impulsen wieder die richtige Form und synchronisiert mit einer vorgegebenen Zeiteinteilung von etwa einer Mikrosekunde."

Auch damals war der Speicher knapp

Nun hatte Billing also das britische Konzept des Verzögerungsketten-Umlauf-Speichers in der Hand, was ihn natürlich elektrisieren mußte: denn Speicherplatz war gerade bei den allerfrühesten Rechnern etwas ungeheuer Wertvolles, weil Knappes. Keiner der Steinzeit-Computer konnte ja mehr als allenfalls ein paar Duzend Zahlen speichern. Deshalb war alle Welt auch intensiv mit der Entwicklung billiger Speicher für hunderte, ja womöglich gar tausende von Zahlen beschäftigt...

Doch Billing hatte nur das Konzept erfahren, von der technischen Realisierung, die Womersley und seinen Kollegen damals vorschwebte, wußte er hingegen - geheim ist geheim - nichts: Die Briten dachten nämlich an ein quecksilbergefülltes Rohr als Verzögerungsleitung, in dem die Ziffernimpulse als akustische Impulse entlanglaufen sollten. Billing schwebten als Realisierungsmöglichkeit für dieses Konzept aber eher elektrische Verzögerungsketten vor - bis ihm die in Deutschland damals besonders gut entwickelte Magnetophontechnik in den Sinn kam; eine Technik, mit der Billing schon 1943 Erfahrungen hatte sammeln können. Warum sollte man die einzelnen Impulse (Bit) nicht einfach auf einer rotierenden Magnettrommel speichern?

Seine ersten Experimente stellte Billing - es war inzwischen 1948 geworden - mit einer "mit Tonband beklebten Magnettrommel" an, die für 192 zwanzigstellige Dualzahlen einschließlich der Synchronisierungseinrichtungen für die Umlaufregister ausgelegt war. Das Arbeitsprinzip dieser "bandagierten Blechtrommel" reichte der Erfinder im Sommer 1948 zur Veröffentlichung in einem Fachblatt ein, wobei er gleich das ganze Konzept einer "numerischen Rechenmaschine mit Magnetophonspeicher" vorstellte. Sie sollte lochstreifenprogrammiert sein, wobei Billing einen schleifenförmig zusammengeklebten Streifen im Auge hatte, den die Maschine immer wieder abarbeiten sollte.

Stippvisite bei den Känguruhs

Obwohl Billing gleich mit Eifer an den Aufbau der selbst konzipierten Anlage ging und bis Weihnachten 1948 immerhin den Umlaufspeicher sowie das Addierwerk betriebsfertig hatte, zwangen Etatkürzungen im Gefolge der Währungsreform zu neuen Überlegungen - und Billing folgte einem Ruf, in Australien zu arbeiten. Kaum dort, erreichte ihn jedoch ein neues Angebot aus Göttingen mit ausdrücklichem Auftrag, nun mit Geldern aus dem Marshallplan (ERP Mitteln) - einen deutschen Elekronenrechner aufzubauen. Als Promoter Billings agierte bei dieser "Rückrufaktion" der Astrophysiker Professor Ludwig Biermann, der von den neuen digitalen Elektronenrechnern vor allem ein neues Werkzeug für seine aufwendigen numerischen Berechnungen erwartete.

Zifferndarstellung in Wellenschrift

Billing, und etwa zur selben Zeit auch Kollegen in München, Darmstadt und Dresden konnten also nun endlich mit den nötigen Mitteln an den Aufbau arbeitstauglicher Rechner gehen. Mitte 1950 startete er seine Arbeiten in Göttingen mit Versuchen, die Kapazität seines Trommelspeichers durch Zifferndarstellung in "Wellenschrift", einer aus England stammenden Idee, zu vergrößern.

Sein damaliges Entwicklungskonzept sah eine Serien-Rechenmaschine mit einer Magnettrommel für rund 4000 Dualzahlen á 32 Bit, Festkomma und etwa 50 Operationen pro Sekunde Rechentempo vor. Die Umdrehungszahl der Trommel sollte bei etwa 100 pro Sekunde liegen. Die Steuerung der Maschine sollte vom Speicher her geschehen, Ein- und Ausgabe über Lochstreifen beziehungsweise eine elektrische Schreibmaschine erfolgen.

Die Entwicklung zeigte aber, daß die deutschen Computer-Pioniere sich damit etwas zuviel vorgenommen hatten, denn bei der endgültigen Realisierung des "G2" im Jahre 1954 rotierte die Speichertrommel nur noch 50mal pro Sekunde, (die erste Trommel war zu Bruch gegangen, gewissermaßen ein "Zylinder-Crash"). Dafür war die Wortlänge auf 51 Bit gewachsen; Billing, Biermann und ihre Mitarbeiter hatten einen verfeinerten Befehlscode ausgeknobelt.

"Schnellschuß" G1

Noch mitten in der Entwicklungsarbeit für die G2 - man war damals intensiv mit besseren Magnetmaterialien und kleineren Magnetköpfen zur weiteren Kapazitätserhöhung befaßt - forderte Biermann ungeduldig, endlich einen Rechner zu bekommen, der nicht perfekt sein mußte - wenn er nur endlich zu rechnen begänne! Grund genug für Billing, in seiner "Bastelkiste" zu kramen und nach verwertbaren Resten der früheren Entwicklungen zu fahnden.

Es zeigte sich dabei, daß das noch vorhandene Rechenwerk aus dem 48er-Jahr mühelos mit immerhin 8000 Bit/Sekunde orperieren konnte - und so eine Datenrate lieferte ja die alte Speichertrommel mit ihren zehn Millimetern Spurabstand und zwei Millimeter Bit-Abstand auf der jeweiligen Spur, ließ man sie mit etwa 50 Umdrehungen pro Sekunde laufen. Insgesamt faßte der Trommelspeicher-Oldie pro Spur vier Zahlen zu 32 Bit und insgesamt bei neun Spuren 36 Zahlen "brutto". Brutto deshalb, weil zehn dieser Speicherplätze noch für die Dezimal-Dual-Umwandlung bei der Zahleingabe benötigt wurden.

Auf Basis dieser Elementar-Hardware konzipierten Billing und seine Mitarbeiter quasi als "Schnellschuß" die eingangs bereits vorgestellte G l; eine Maschine übrigens, bei der man sogar auf einen Mechanismus zum Inkrementieren der Speicheradressen um je verzichtete und lieber einfach die Speicherregister zyklisch untereinander vertauschte. Das erschien den Göttinger G1 lern angesichts der starren Programmierung durch Lochstreifen offenbar einfacher als das später üblich gewordene Verfahren.

Die G1 nahm ihren Routinebetrieb im Herbst 1952 auf und war, obwohl teils noch mit Relais bestückt, Deutschlands erste, per Lochstreifen programmgesteuerte elektronische Rechenmaschine mit Verstärkerröhren. Dabei wollte es die Ironie, daß ausgerechnet die Relais, die man wegen ihrer geringen Kosten sowie der erwarteten höheren Zuverlässigkeit partiell an Stelle von Röhren eingesetzt hatte, eine "Quelle vieler Ärgernisse" wurde, wie Billing sich heute zurückerinnert.

(wird fortgesetzt)

* Peter Lange ist freier Wissenschaftsjournalist in München.