Fehlende Standards und Kompatibilitätsfragen hemmen die Integration

Probleme bei Konvergenz der Sprach- und Datennetze

03.12.1998
CW-Bericht, Jürgen Hill DÜSSELDORF - Ein Besuch der Düsseldorfer Netzwerkmesse Exponet zeigt, daß zwischen der propagierten schnellen Konvergenz der Sprach- und Datennetze und der Realität noch Welten klaffen.

Es wächst zusammen, was zusammen gehört - das zumindest verheißen IT- und TK-Hersteller für die bisher getrennten Netzwelten. So waren sich alle Hersteller auf der Exponet in Düsseldorf einig, daß die Konvergenz der Netze nicht aufzuhalten sei. Einige Firmen sprachen sogar von einer Welle, die alles zu überrollen drohe.

Ähnlich dem politischen Vorbild gestaltet sich der Prozeß der Sprach-Daten-Einheit in der Praxis allerdings schwieriger als erwartet. Entsprechend zugeknöpft geben sich die Hersteller, sobald sie nach einem konkreten Zeitpunkt der Adaption von Sprach- und Datenwelt gefragt werden. Sie können noch nicht absehen, wann die vielen Probleme gelöst sind, mit denen sie sich konfrontiert sehen. Fehlende Standards, hohe Kosten für Bandbreiten, ungeklärte Fragen der Interoperabilität verschiedener TK-Anlagen bremsen momentan die Vereinigung beider Welten.

So glaubt Sebastian Kramer, Manager bei Newbridge Deutschland, daß die Sprach-Daten-Konvergenz in Deutschland aufgrund der anderen Voraussetzungen langsamer vonstatten geht als in den Vereinigten Staaten. "Während in den USA bezahlbare Bandbreite kein Thema mehr ist, sind deutsche Unternehmen immer noch damit beschäftigt, die Bandbreitennutzung zu optimieren", gibt Kramer zu bedenken und sieht hierin einen Grund für die langsamere Verwirklichung der Sprach-Daten-Integration. Eine Beobachtung, die sich mit der Einschätzung von Cisco-Manager Ralf Kothe deckt, der momentan die deutsche Netzszene vom Wettbewerb im Voice-Geschäft geprägt sieht. Erst wenn sich die neuen Telekom-Konkurrenten etabliert haben und weitere Dienste anbieten, so seine Prognose, sei die Zeit für die Sprach-Daten-Konvergenz wirklich reif.

Diese Zurückhaltung läßt sich jedoch nicht nur vor dem Hintergrund der verschiedenen Carrier-Landschaften in Deutschland und den USA erklären. Die klassischen Datennetzhersteller, die mit der Sprachintegration an die Fleischtöpfe von TK-Equipment-Anbietern wie Alcatel, Siemens, Ericsson, Bosch etc. wollen, haben aber noch mit anderen Problem zu kämpfen. "In den Datennetzen", so Cisco-Manager Kothe, "haben die Datenpakete ein klares Ziel, wobei es relativ egal ist, wann sie es erreichen." Bei der Sprachübertragung sind die Hersteller dagegen mit Schwierigkeiten wie Verzögerungen und Verzerrungen konfrontiert. Probleme, die auch Jan Bause, Manager beim Cisco-Konkurrenten Cabletron, sieht, denn "das menschliche Ohr kennt im Gegensatz zu einer E-Mail keine Toleranz in Sachen Verzögerung".

Deshalb diskutieren die Hersteller vor allem über drei Technologien: Voice over IP, Voice over ATM sowie Voice over Frame Relay. Angesichts der verfügbaren Technologien sieht keiner der Netzwerkhersteller in der Sprachintegration ein unlösbares Problem. Bei der Implementierung gehen die Firmen allerdings unterschiedliche Wege. So hält Cisco-Manager Kothe das Internet Protocol (IP), obwohl als Datagramm-Dienst (siehe Glossar) konzipiert, durchaus für die Übertragung von Sprache geeignet. Wie sein Cabletron-Kollege Bause setzt er auf eine Abfrage der UDP-Ports (siehe Glossar), um Informationen über die jeweiligen Applikationen zu erhalten. Auf diese Weise könnte dann beispielsweise die Anwendung Sprachübertragung gegenüber einem File-Transfer oder einer Datenabfrage priorisiert werden, um Verzögerungen zu vermeiden.

Cisco setzt auf eigenes Betriebssystem

Damit hört die Gemeinsamkeit der Hersteller aber schon auf. Cisco setzt nämlich, um die erforderlichen Quality of Services (siehe Glossar) zu gewährleisten, auf das eigene Router-Betriebssystem IOS. Damit ist für Manager Kothe das Problem der verzögerungsfreien Sprachvermittlung gelöst, da 80 Prozent der Internet-Infrastruktur auf Cisco-Technologie beruhe. Das läßt Bause vom Konkurrenten Cabletron nicht unwidersprochen stehen, da für ihn ein intelligentes Netz grundsätzlich Zusatzfunktionen enthält, die über Standards hinausgehen, so daß Komponenten unterschiedlicher Hersteller nicht unbedingt die gleiche Sprache sprechen.

Ähnlich sieht es Olaf Riebe, Marketing-Manager bei 3Com: "Zwar ist die Sprachübertragung per Voice over IP dank Gatekeeper und ähnlichen Implementierungen kein Problem, doch IP ist nur der kleinste gemeinsame Nenner." Wie seine Kollegen von Cabletron oder Newbridge vermißt er bei IP, einem Protokoll der Netzebene 3 im OSI-Modell, die Quality of Services. Aufgrund dieses Mankos geht Riebe davon aus, daß noch im Jahr 2005 nur fünf bis zehn Prozent des gesamten weltweiten Sprachverkehrs über IP transportiert werden.

Die Frage nach der durchgehenden Quality of Services eröffnet zudem ein weiteres Problemfeld: Während die gewünschte Dienstequalität im WAN dank ATM oder Frame Relay erreicht scheint, bereiten die im LAN gebräuchlichen Verfahren bei der Sprach-Daten-Konvergenz Kummer. So kennt etwa das populäre Ethernet keine Priorisierung. Um zu verhindern, daß ein einfacher File-Transfer das Telefonat eines Anwenders unterbricht, stricken die Hersteller deshalb an eigenen Add-ons. Am weitesten dürfte hier das Dreigespann Siemens, 3Com und Newbridge sein, das gemeinsam an einer durchgehenden LAN-WAN-Lösung, dem Carrier Scale Internetworking (CSI), arbeitet. Cisco favorisiert dagegen das eigene Cisco Enabled Network, bei dem der Anwender laut Kothe, wenn er sich für einen Service-Provider entscheidet, dessen Netz auf dieser Technologie beruht, keine Schwierigkeiten bei der Integration hat.

Selbst wenn die Hersteller auf dem Papier Lösungen offerieren, dürfte im LAN die Konvergenz noch auf sich warten lassen: Die Anwender müßten nämlich in neues Equipment wie Netztelefone etc. investieren. Angesichts dieser Tatsache erwarten die Hersteller, daß die Konvergenz am ehesten in den Backbones des WANs realisiert wird. Eine Entwicklung, die nach Einschätzung der Produzenten zu Corporate Networks mit einer neuen Dienstevielfalt führt.

Das vollständige Zusammenwachsen der Netze scheitert zum Leidwesen der Branche noch an einem anderen Phänomen. Die Anwender sind meist durch langfristige Verträge an TK-Anlagenhersteller wie Siemens, Alcatel oder Bosch gebunden. Und diese TK-Schwergewichte, neben denen die Netzwerker nur kleine Startup-Companies sind, geben ihr angestammtes Revier nicht ohne weiteres auf. So mußte Cisco zum eigenen Leidwesen erfahren, daß keiner der großen TK-Hersteller mit dem Router-Primus in puncto Sprach-Daten-Konvergenz zusammenarbeiten will. Dermaßen verschmäht, zog Cisco die Notbremse und kaufte sich mit der Akquisition von Selsius selbst das notwendige TK-Know-how.

Nach der Selsius-Übernahme träumt der Netzwerker ähnlich wie Cabletron von einer Software-Nebenstellenanlage, die langfristig die traditionellen TK-Anlagen ablöst. Für Cabletron-Mann Bause ist das gespannte Verhältnis zwischen TK-Anlagen-Hersteller und Netzwerkern nicht weiter verwunderlich, "denn wir bedrohen letztlich ihr ureigenes Geschäft". Eine Angst, die für ihn um so verständlicher ist, als in seinen Augen eine TK-Anlage nichts anderes ist als ein Host, an dem Telefone als dumme Terminals angeschlossen sind.

Mit ihrer Vision einer Software-PBX (PBX = Private Branch Exchange), die möglicherweise auf mehrere Server verteilt ist, begeben sich die Netzwerker in ein Minenfeld: Mit zahlreichen proprietären Erweiterungen haben es die TK-Hersteller bis heute geschafft, daß sich ihre Anlagen untereinander nicht verstehen und teilweise teure Systemtelefone zur Nutzung aller Funktionen erfordern. "Gegenüber den TK-Playern sind wir Netzwerkhersteller in Sachen Standardisierung Engel", stellt Bause resigniert fest. Zwar existiert in Form von QSIG (siehe Glossar) auch im TK-Anlagenbereich ein Standard, doch der stellt nur die grundlegendsten Funktionen bereit. "Selbst wenn wir QSIG durch unser Netz tunneln", so Newbridge-Manager Kramer, "verstehen sich damit eine Siemens- und Alcatel-Anlage noch immer nicht." Für den Anwender hat dies die traurige Konsequenz, daß er wohl noch einige Zeit abwarten muß, bis Szenarien Wirklichkeit sind, bei denen er sich nur an einem Rechner anmeldet und ihm Arbeitsumgebung und Telefonnummer innerhalb des Unternehmens folgen.

Vor dem Hintergrund der vielen ungelösten Fragen geben die Hersteller Anwendern, die bereits heute in die Zukunft investieren wollen, nur sehr vage Tips mit auf den Weg. Unisono empfehlen sie, Equipment zu kaufen, das durchgängig vom LAN zum WAN ein Service-Mapping beherrscht. Zudem sollten die Geräte neben Layer-2- und Layer-3-Switching im Zweifelsfall auch das Tunneling anderer Protokolle erlauben. Des weiteren habe der Anwender darauf zu achten, daß die Komponenten in der Lage sind, zusätzliche Dienste zu integrieren. Fast von selbst versteht sich hierbei, daß natürlich die Produkte des jeweiligen Herstellers dies am besten können.

Die Antwort der TK-Hersteller

Keineswegs untätig schauen die TK-Hersteller dem Angriff der Netzhersteller auf ihre ureigenste Domäne zu. Mit Akquistionen wie etwa dem Kauf von Bay Networks durch Nortel oder strategischen Allianzen wie zwischen Newbridge und Siemens versuchen sie, Know-how in Sachen Datenübertragung zu erlangen. Des weiteren bauen etwa klassische TK-Player wie Ericsson ihr Angebot in Richtung Datendienste aus. Unter dem Schlagwort "IPService" wollen die Schweden die bislang getrennten Welten in Multiservicenetzen vereinen. Ebensowenig geben sich die Anbieter klassischer TK-Anlagen geschlagen. Sie setzen auf die Verbindung von TK-Anlage und Datendienst, um so neue Mehrwerte zu kreieren. Bosch arbeitet hier beispielsweise an der Idee eines Klick-to-dial-Buttons, der Anwendern direkt aus dem Internet via Modem die Kontaktaufnahme mit einem Call-Center erlaubt.