Web-Applikationen/Maschinenbauportale im zweiten Anlauf

Private und Branchen-Marktplätze integrieren

11.05.2001
"Der Hype großer Marktplätze ist vorbei, ehe er richtig begonnen hat" - Schlagzeilen wie diese prägen seit Wochen die Berichterstattung über B-to-C- und B-to-B-Marktplätze, insbesondere solche für den Maschinen- und Anlagenbau. Doch der mittelständische Maschinenbau setzt auf öffentliche Marktplätze - wenn sie mit privaten kombiniert werden. Von Bernhard Surmann*

In der Tat: Wenn vor einem Jahr noch Online-Umsätze von 20, 30 Prozent und mehr prognostiziert wurden, sind aktuelle Falsifizierungen wie die der Gartner Group - gerade mal fünf Prozent ihrer Waren verkaufen die in Europa gelisteten B-to-B-Lieferanten tatsächlich über das Internet - mehr als ernüchternd. Und prompt werden schon wieder neue Favoriten präsentiert: von branchenweiten zu privaten Marktplätzen, von SCM (Supply-Chain-Management) zu VCM (Value-Chain-Management), der Verbindung von internen ERP-Systemen und Collaborative-Commerce-Lösungen.

Bevor man sich mit neuer Euphorie auf neue Trends stürzt, sollte man sich aber zuerst einmal die Ursachen der Katerstimmung genauer anschauen. Es scheint, als hätten sich die Anbieter elektronischer Marktplätze für den Maschinenbau bisher nur ansatzweise Gedanken über die spezifischen Bedürfnisse der Kunden dieser Branche gemacht. Da es sich meist um Plattformen für reine Auktionen oder einfache B-to-B-Beziehungen handelte, wurden die Anwender nicht - was unbedingt erforderlich ist - durch den gesamten Einkaufs- und Vertriebsprozess hindurch unterstützt. Und es fehlte meist die dringend benötigte Beratung der Kunden.

Um die Prozessunterstützung näher definieren zu können, muss man sich die äußerst komplexe Situation im Maschinenbau vergegenwärtigen. Der Einkauf beschafft zum einen die direkten Güter, das heißt die Baugruppen für ein Produkt oder einen Auftrag, zum anderen die MRO-Güter (Maintenance, Repair, Office). Beide Gruppen sind jeweils nochmals unterteilt nach dem Bedarf: sehr häufig (C-Güter), eher selten (B-Güter) und individuelle, auftragsspezifische Teile (A-Güter). In beiden Fällen kann es sich sowohl um materielle Güter als auch um reine Dienstleistungen handeln.

Bei der Beschaffung dieser Güter gibt es wiederum unterschiedliche Prozessschritte: den strategischen Einkauf (E-Sourcing), bei dem in erster Linie Rahmenverträge verhandelt werden, die operative Durchführung des eigentlichen Einkaufsprozesses (E-Procurement), bei der auf Basis der Rahmenverträge Abrufe getätigt und auch zusätzliche Einzelbestellungen vorgenommen werden, und schließlich den Handel mit gebrauchten Gütern, Lager- und Restbeständen (Surplus Exchange).

Auf der Vertriebsseite bieten die Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus, und nicht zu vergessen, deren Lieferanten, wiederum unterschiedlichste Produkte an: vollständige Anlagen, Baugruppen, Einzelteile und auch reine Dienstleistungen - sei es als neue Fertigung, als Ersatzteil oder als Unterstützungsleistung. Das Ganze ist meist durch Vorgaben aus übergeordneten Projekten terminiert.

Gesamtprozess muss abgebildet werdenDiese komplexen Prozesse in Einkauf und Vertrieb muss eine E-Commerce-Lösung für den Maschinenbau abbilden können. Der Einkäufer muss in der Lage sein, in jeder Bedarfssituation intelligente Vergleiche zwischen den gelisteten Anbietern vorzunehmen, die den sehr spezifischen, differenzierten und detaillierten Anforderungen dieser Branche Rechnung tragen und dabei doch den Wettbewerbsschutz wahren. Und nicht nur das: Er muss bereits die zu erwartenden Umsätze zumindest in grobem Rahmen abschätzen können, um exakt disponieren zu können. Das System muss ihm also auch die notwendigen Vertriebsinformationen liefern.

Nehmen wir zur Veranschaulichung das Beispiel eines mittelständischen Maschinenbauers. Er bewirbt sich bei einem Endkunden aus der Automobilindustrie um die Herstellung einer neuen Produktionsanlage. Diesen potenziellen Auftrag hat er in drei Baugruppen unterteilt. Die erste fertigt er komplett selbst. Die dafür benötigten direkten Güter kauft er teilweise als Standardkomponeten, teilweise sind es Eigenkonstruktionen, die er wiederum aus gekauften Einzelteilen selbst zusammenbaut. Die zweite Gruppe vergibt er komplett als Außenfertigung an einen Subunternehmer. Die dritte Baugruppe wiederum wird in Zusammenarbeit mit einem externen Ingenieurbüro, einem Fertigungsbetrieb und einem Montageunternehmen hergestellt. Das Ingenieurbüro konstruiert unter Berücksichtigung von Standards des Maschinenbauers die gesamte Teilanlage und sichert deren Qualität - nicht nur beim Auftraggeber, sondern auch bei den eingebundenen Fertigungs- und Montageunternehmen.

Der Einkäufer muss in diesem Umfeld - im Idealfall vor Beginn der Auftragsvergabe - die unterschiedlichen Zulieferer aussuchen und dazu deren Prozesse, Qualität und Konditionen kennen, damit der Vertrieb wiederum ein realistisches Angebot abgeben kann. Er benötigt deshalb eine E-Lösung, die ein solches komplexes Geschäftsmodell abbildet.

Elemente eines "Enterprise Resource Portal"Eine solche Lösung unterscheidet sich deutlich von den bisher realisierten, aber auch den derzeit diskutierten Marktplatzmodellen. Man könnte sie als "Enterprise Resource Portal" (ERPortal) bezeichnen.

Zunächst einmal muss sie natürlich die originäre Marktplatzfunktionalität besitzen. Dazu gehören die üblichen, weitgehend bekannten Leistungsmerkmale wie etwa Auktionen oder Prüfungen. Darüber hinaus benötigt sie ein ausgeprägtes, intelligentes Content-Management-System. Dieses muss Vergleiche der gelisteten Unternehmen auf Basis detaillierter Analysen erlauben. Dabei sollte es neben den eingegebenen Suchkriterien individuelle Aspekte einbeziehen, in denen Branchenwissen von vornherein abgebildet ist. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Wenn ein deutsches Unternehmen bestimmte Schrauben sucht, sollte automatisch die DIN-Norm zugrunde gelegt werden.

Von zentraler Bedeutung ist die Integration gängiger ERP-Systeme wie Psipenta, Infor, Brain, Pro Alpha oder Bäurer. Diese Integration muss über die unter dem Stichwort VCM diskutierten Ansätze hinausgehen. Es ist wichtig, dass sich alle produktdatenspezifischen Informationen effizient verwalten und abrufen lassen - natürlich immer unter Wahrung des Wettbewerbsschutzes. Bei gestaffelten, in sich verschachtelten Fertigungsstrukturen, wie sie in unserem Beispiel exemplarisch aufgezeigt wurden, benötigt der Einkauf Internet-Systeme, die den gesamten Geschäftsprozess des herstellenden Unternehmens sowie seiner Sublieferanten abbilden können. Mit anderen Worten: Das Portal muss in der Lage sein, ein temporäres, virtuelles Unternehmen aufzubauen. Die unterschiedlichen Rollen der einzelnen am Produktionsprozess Beteiligten spiegeln sich in klaren Regeln für Freigabe- und Änderungsberechtigungen, Datenhoheiten (etwa über Stücklisten, -positionen oder Arbeitspläne) sowie einem unternehmensübergreifenden Workflow wider. Und da durch Zusatzwünsche des Auftraggebers oder Lieferengpässe die Stücklisten auch während der laufenden Bearbeitung meist modifiziert werden, müssen Änderungen der verwalteten Daten einfach durchzuführen und für alle Beteiligten nachvollziehbar sein.

Weitere essentielle Elemente eines solchen Portals sind kommerzielle Daten, ein virtuelles Projekt-Management-System sowie virtuelle Konfigurationssysteme (etwa auf Basis von Ubis-Agenten), mit denen in der Frühphase eines Projekts Baugruppen bis hin zu embryonalen Stücklisten erstellt werden können. Last, but not least ist eine temporäre Beratung unverzichtbar, etwa in Form einer Hotline oder fortlaufend gepflegter FAQ-Listen.

Wahlfreiheit des AnwendersDa die Akzeptanz von IT-Systemen in der Regel mit der Wahlfreiheit des Anwenders steigt, sollte dieser bei wiederkehrenden Funktionen entscheiden können, ob er sie einem spezialisierten Drittanbieter überträgt. Das gilt für Zahlungssysteme ebenso wie für die Logistik und die Teilnahme an virtuellen Messen und Veranstaltungen.

In einem solchen Enterprise Resource Portal können sich Unternehmen listen lassen und bestimmte Dienste ständig, andere temporär anbieten. Hersteller haben die Möglichkeit, intelligente Vergleiche vorzunehmen und auf dieser Basis Aufträge zu vergeben. Zugleich beantwortet das "ERPortal" die heiß diskutierte Frage, ob branchenweite oder virtuelle private Marktplätze das Modell der Zukunft sind. Wie so oft lautet die Antwort nicht entweder - oder, sondern sowohl - als auch. Über ein und dieselbe Plattform kann ein Hersteller Ausschreibungen für die gesamte Branche öffnen, etwa bei Standardbaugruppen, und bei anderen Aufträgen - zum Beispiel individuellen, im Verbund gefertigten Bau-gruppen - private virtuelle Kooperationen eingehen.

Öffentlich und limitiertNehmen wir wieder unseren mittelständischen Maschinenbauer. Für seine gesamte Produkt- und Auftragspalette benötigt er rund 2500 Lieferanten. Von ihnen möchte er 100 für spezielle, hochintegrierte Produktionsprozesse an sich binden, um das hierfür notwendige Know-how zu schützen. Dazu müssen sie mit Hilfe des Portals das ERP-System des Auftraggebers eins zu eins adaptieren. Wird ein Lieferant nicht mehr durch diese Aufträge ausgelastet, darf er ohne Verletzung der Partnerschaft seine Produkte an Dritte veräußern. Die 2400 anderen Lieferanten werden bei jedem Auftrag im Wettbewerb über die Marktplatz-Funktionalität ausgewählt. Ihnen liefert die spezielle Logik des Portals dann auch nur die ausschreibungsrelevanten Daten.

Unser Maschinenbauer selbst bietet auf der Vertriebsseite seine Erzeugnisse ebenfalls sowohl öffentlich als auch limitiert an. Standardisierte Anlagen beispielsweise offeriert er der Allgemeinheit über die Marktplatzfunktionaliät. Sehr spezielle Anlagen wiederum verhandelt er über die gleiche Funktionalität mit ausgesuchten Kunden. Das "ERPortal" ist somit die ideale Umgebung für mittelständische Unternehmen des Maschinenbaus sowie verbundene Kunden und Lieferanten, um einerseits den Wettbewerbsschutz zu garantieren, andererseits ihren Markt zu erweitern.

Auf Basis dieses Modells haben sechs Maschinenbauunternehmen gemeinsam mit der Berliner PSI AG als Dienstleister eine Initiative zur Einrichtung eines Branchenportals gestartet. In der Initialphase beteiligen sich unter anderen die Windhoff AG (Hersteller von Flughafenanlagen und dem Cargo-Sprinter), die Fleissner GmbH (Hersteller von Chemiefaseranlagen) und die Siempelkamp GmbH (Hersteller von Anlagen für komplexe Produktionsprozesse) an dem Projekt.

Die Sondierungsphase ist bereits abgeschlossen. Bei positiver Entscheidung wird im zweiten Halbjahr der Online-Betrieb beginnen. Die Abbildung der Bedürfnisse und Geschäftsprozesse ist so allgemein gehalten, das sich jedes andere Unternehmen beteiligen kann - dauerhaft oder auch temporär, etwa für ein einziges großes Projekt. Schnittstellen zu den gängigen ERP-Systemen garantieren größtmögliche Offenheit.

*Bernhard Surmann arbeitet als freier Berater Bernhard.Surmann@t-online.de.

Abb: Der neue Weg der Geschäfte

Ein Einkäufer muss in der Lage sein, in jeder Bedarfssituation intelligente Vergleiche zwischen den Anbietern vorzunehmen und doch den Wettbewerbsschutz zu wahren. Quelle: PSI AG