CCITT-Standardisierung: Anwender und IBM geben sich eher skeptisch

Post will mit ISDN offene Netze durchsetzen

16.11.1984

KÖLN/MÜNCHEN- Das Thema ISDN, so scheint es, läßt die fernmeldepolitische Diskussion In Sachen Liberalisierung neuerlich aufleben: Die Bundespost rührt mit der nachrichtentechnischen Industrie kräftig die Werbetrommel für das dienste-integrierende digitale Fernmeldenetz und hält mit dem Hinweis auf offene Systeme" am Netzmonopol fest.

Die Anwender dagegen, insbesondere solche aus dem Lager des Marktführers und mit dessen argumentativer Schützenhilfe versehen, fordern auch die Zulassung von so-

genannten "Value-Added (Neudeutsch: Mehrwert-)-Network"-Betreibern und VAN-Dienstleistungsanbietern.

Zwei Veranstaltungen im Rahmen der Orgatechnik-Kongresse in Köln auf der einen Seite sowie der gemeinem Münchener Kreis und der Nachrichtentechnischen Gesellschaft (NTG) ausgerichtete Kongreß "Integrierte Telekommunikation" andererseits machten die unterschiedlichen Auffassungen und die jeweiligen Positionen besonders deutlich. Auf dem Telecom-Forum, Offene Netze und ISDN" - die erste

größere Informationsmöglichkeit nach der Absegnung der ISDN-Empfehlungen durch die CCITT-Vollversammlung Mitte Oktober - nutzte die Bundespost die Gelegenheit, ihre Konzeption für das zukünftige Netz zu präsentieren. Da war die Rede von der Schlüsselrolle, der standardisierten Teilnehmerschnittstelle So, die gewährleiste, "daß Endgeräte beliebig transportabel und in Ländern mit ganz unterschiedlichen Implementationen des ISDN kompatibel eingesetzt werden können" (Peter Kahl, Fernmeldetechnisches Zentralamt in Darmstadt). Da wurden auch die im ISDN geplanten Dienste präsentiert. Die Post, so Karl Heinz Rosenbrock vom Bundespostministerium, will vor allem "die neuen 64 KBit/s-Dienste mit Vorrang einfuhren, weil bei ihnen sämtliche ISDN-spezifischen Vorteile genutzt werden können".

Auf dem Forum der International Telecommunications User Group (Intug) dagegen, wie auch bei Diskussionen am Rande der übrigen Veranstaltungen, wurden das Netzthema und seine Implikationen aus anderer Sicht aufbereitet und beleuchtet. Da hieß es im Kreise der Anwender beispielsweise, die Post müsse beim Thema ISDN endlich konkret werden, Bisher sei ISDN nur eine" Ingenieurkonzeption ohne irgendeine marktwirtschaftliche Ausrichtung". Im übrigen seien die "enduser-orientierten Dienste" (die Normung aller Ebenen 1 bis 7 des ISO-Modells, Anm. d. Verfassers), wie sie die Post anstrebe, langfristig nur eine Barriere für die ISDN-Entwicklung. Gefordert wurde mit Blick auf die internationale Value-Added-Network-Diskussion, auch hierzulande private Netzbetreiber zuzulassen.

In gleicher Weise äußerte sich auch Intug-Mitglied John Rankine, unter anderem Vorsitzender der Technischen Kommission 97 der ISO, Vorsitzender des American National Standards Institute (Ansi) und - hochrangiger Vertreter der IBM. Der kommerzielle Erfolg von ISDN hänge vor allem von den Angeboten der Netzbetreiber und von der Tarifgestaltung ab. Normen und Standards müßten auf ein Minimum beschränkt werden, im übrigen könnten auch "herstellereigene" Lösungen für die Anwender hilfreich sein und wirtschaftliche Vorteile bringen". In der abschließenden Diskussion wurde dann deutlich, mit welchen Problemen die ISDN-Planer konfrontiert werden: Da die jetzige Standardisierung einstweilen nur bis zur Ebene 3 reicht, müssen bis zur Einigung im CCITT für die höheren Ebenen Zwischenstandards geschaffen werden. Hier lautet die Frage, ob diese Übergangslösungen Industriestandards" sind wie SNA oder nationale beziehungsweise internationale wie "EHKP" und "Intercept".

Hatte sich in Köln offenbar die IBM-User-Gemeinde ein Stelldichein gegeben, so war die Münchener Kreis/NTG-Veranstaltung eine Woche später quasi eine Art "Gegenforum". Heimvorteil hatten hier die klassischen "Amtsbaufirmen" wie Siemens und SEL, DeTeWe und Telefonbau und Normalzeit samt Anwenderklientel. Referenten aus den Reihen der "typischen" DV-Hersteller - etwa Vertreter von IBM oder Nixdorf - fehlten.

Die Bundespost nutzte die Gunst der Stunde: Bundespostminister Christian Schwarz-Schilling stellte das ISDN-Konzept seines Hauses erstmals öffentlich vor, mied aber auch das Thema Liberalisierung nicht. Liberalisierung gebe es sowohl im Hinblick auf den Endgerätemarkt als auch in bezug auf die Netzebene selbst. Plädiere man für eine Privatisierung der Netze, so der Minister, dann finde über kurz oder lang bei den Endgeräten kein Wettbewerb mehr statt. Bleibe dagegen das Netz öffentlich, herrsche "Markt" im Endgerätebereich. Schwarz-Schilling warnte in diesem Zusammenhang eindringlich vor "dem Entstehen großer Reiche", also herstellereigenen Lösungen; diese setzten sich nämlich dann durchs wenn die Post keine entsprechende Zulassungspolitik betreibe. Als besonderen Vorteil der ISDN-Normierung stellte der Minister den Netzabschluß NT und die internationale Teilnehmerschnittstelle So heraus. Dies gewährleiste, daß das Ziel der Bundespost, "die offene Kommunikation technisch, juristisch und wirtschaftlich" zu ermöglichen, auch in die Tat umgesetzt werde. Zusammen mit der nachrichtentechnischen und der DV-Industrie wolle die Post daher das ISDN vorrangig vorantreiben.

Schwarz-Schillings zuständiger Abteilungsleiter im Bundespostministerium, Helmut Schön, variierte die fernmeldepolitischen Aspekte in Sachen ISDN: Liberalisierung im Endgerätemarkt ja - allerdings will sich die oberste Fernmeldebehörde auch weiterhin auf diesem Sektor beteiligen -, im Netzbereich aber sei das Monopol der Post unverzichtbar, da nur auf diese Weise eine gleichmäßige Versorgung überall zu gleichen Preisen und in gleicher Dienstgüte gewährleistet sei. Schön wörtlich: "Wer für ISDN ist, darf Netzträgerschaft und Endgerätebeteiligung der Deutschen Bundespost nicht in Frage stellen".

Zum brisanten Thema "Value Added Network-Services" meinte der Ministeriale, dies seien "Dienste, die von öffentlichen Netzen mit abgedeckt werden, ein preiswertes Nebenprodukt der öffentlichen Netze". Beim ISDN drängten Industrie und Wirtschaft die Post zum beschleunigten Ausbau und damit zu außerplanmäßigen Investitionen. Die Post müsse aber auch diese Investitionen "selbst vermerkten können" - durch neue ISDN-Dienstleistungen. Werde dies in Frage gestellt, sei die Post gezwungen, ihre ISDN-Investitionen zu strecken.