Der Gastkommentar

Portierung pur - nein danke!

21.05.1993

Software muss portierbar sein, das weiss man seit den 70er Jahren. Deshalb ist Portabilitaet ein Qualitaetskriterium, vor allem bei Kaufsoftware, aber auch bei Eigenentwicklungen, um einen Wechsel der Infrastruktur (Hardware, Software, Betriebssystem, DBMS etc.) nicht zu blockieren.

Wenn heute von Portierung geredet wird, dann meint man etwas mehr: Versprochen wird der Ersatz proprietaerer Host- und Midrange- Welten durch eine schoene neue Client-Server-Welt. Downsizing oder auch Rightsizing ist angesagt. Damit auch alles schoen schnell geht, wird einfach portiert. Die Anwendungen jedoch bleiben inhaltlich unveraendert erhalten. Wenn man Glueck hat, kann das Bildschirm-Layout im Rahmen einer neuen Software-Architektur ein wenig freundlicher gestaltet werden. Aber ist das schon der versprochene Fortschritt?

Portierung darf nicht alles sein, wenn man die Chancen eines sinnvollen Einsatzes besserer Technologien nutzen will. Deshalb sollte ein weitsichtiges Management vorher die Frage beantworten, inwieweit die vorhandenen Anwendungen dem tatsaechlichen Unternehmensbedarf entsprechen. Denn wer seine Programme unbesehen auf eine neue Umgebung portiert, der mag heute einen kleinen Gewinn errechnen, wenn er bei dreijaehriger Abschreibung Anschaffungs- und Portierungsaufwand mit den bisherigen Mietpreisen vergleicht. Oft aber blockiert oder verschiebt er damit die Chance, dass eine grundlegend verbesserte Anwendungslandschaft die Unternehmensprozesse adaequat unterstuetzt und strategische Vorteile sichert.

Bei dieser Zielsetzung geht es um die Verringerung des vielzitierten Datenchaos und um die Integration der Unternehmensprozesse. Die bestehenden Anwendungen dagegen haben haeufig insularen Charakter, wodurch die Integrationsziele nicht nur nicht unterstuetzt, sondern geradezu verhindert werden. Prozessintegration verlangt einerseits vertrauenswuerdige Daten fuer Mehrfachverwendung in Prozessketten, andererseits aber auch die Zusammenfassung von Vorgaengen, deren funktionale Trennung nicht mehr sinnvoll ist.

Deshalb sollte die Chance einer grundlegenden Veraenderung der IV- Infrastruktur auch fuer eine zukunftsorientierte Gestaltung der Applikationen genutzt werden. Die Downsizing-Diskussion darf sich nicht allein auf die Aspekte der Technologie und Systemarchitektur beschraenken, sondern muss auch die Unterstuetzung und Gestaltung der Geschaeftsprozesse umfassen.

Auch wenn es nicht einfach und deshalb nicht populaer ist: Auf Dauer wird kein Unternehmen um ein Unternehmensmodell als Voraussetzung fuer die Gestaltung des unternehmensweiten Informationssystems herumkommen. Es ist die einzige Moeglichkeit zur Definition stabiler Anwendungen, die den Anforderungen der integrativen Prozessunterstuetzung gerecht werden. Wahlmoeglichkeiten gibt es beim Weg, nicht aber in bezug auf das Ziel.

Untersuchungen der Gruppe "Enterprise Modelling" in der Deutschen Guide-Benutzergruppe zur Entwicklung von Unternehmensdatenmodellen zeigen, dass es prinzipiell zwei Entwicklungswege gibt, naemlich die Top-down- und die Bottom-up-Vorgehensweise. Puristische Anhaenger vollstaendiger Loesungen bevorzugen den Top-down-Ansatz, doch zeigt die Praxis, dass dieser aufwendigere Weg nicht immer gegangen werden kann. Insbesondere als Ursache fuer den Aufschub von Rationalisierungsmassnahmen durch Downsizing laesst er sich nur mit sehr grossen Schwierigkeiten verteidigen.

Als pragmatische, Verzoegerungen der Projekte weitgehend vermeidende Alternative schlagen wir deshalb auch fuer Portierungsvorhaben vor, den Weg zum Unternehmensmodell von unten nach oben zu gehen und mit der Erstellung von Projektmodellen zu beginnen. Dabei muss fuer jede zu portierende Anwendung zunaechst lediglich ein Integrationsmodell fuer den projektrelevanten Ausschnitt des Unternehmens erstellt werden, das folgende Fragen beantwortet:

- Welche Geschaeftsvorgaenge oder Unternehmensprozesse unterstuetzt die zu portierende Anwendung?

- Welche Unternehmensobjekte (Ereignisse und Betriebszustaende) sind fuer diese Vorgaenge von Bedeutung?

- Welche Beziehungen bestehen zwischen diesen Unternehmensobjekten?

- Welche Daten dieser Unternehmensobjekte verwaltet die zu portierende Anwendung?

- Gibt es andere Anwendungen, die die genannten Geschaeftsvorgaenge unterstuetzen oder Daten der genannten Unternehmensobjekte verwalten?

Die modellhafte Darstellung der Antworten auf diese Fragen liefert ein Integrationsmodell mit dreifachem Nutzen.

- Erstens kann es direkt benutzt werden, um die auch bisher bei Entwicklungsvorhaben uebliche und erforderliche Schnittstellen- Abstimmung mit anderen Stellen zu objektivieren und damit zu verbessern.

- Zweitens erlaubt es eine systematische Analyse und Gestaltung der Schnittstellen mit anderen zu portierenden Anwendungen, fuer die ein entsprechendes Modell erstellt wird.

- Drittens liefert die Integration der so entstehenden Modelle einen ersten Entwurf fuer ein Unternehmensmodell, das dann mit geringem Aufwand vervollstaendigt und fuer die Planung eines umfassenden integrierten Informationssystems genutzt werden kann.

Natuerlich gibt es auch Situationen, wo dieser Weg nicht mehr empfehlenswert ist. Wenn naemlich die Anwendungssysteme so chaotisch geworden sind, dass auch Integrationsmodelle sie nicht mehr beschreiben koennen, dann sollte man unbesehen und schnellstens portieren, dem Fachbereich die Verantwortung uebertragen - und ein neues Unternehmen gruenden.