Nivadis bereitet Niedersachsens Beamten Kopfzerbrechen

Polizei strauchelt mit Linux-Projekt

05.12.2003
MÜNCHEN (CW) - Mit der bis dato größten Linux-Installation Deutschlands und der neuen Java-basierenden Applikation "Nivadis" wollte die Polizei in Niedersachsen IT-Lorbeeren ernten. Inzwischen macht sich jedoch Ernüchterung breit. Die Beamten klagen über die schwache Performance und mangelnde Bedienungsfreundlichkeit des Systems.

Mitte September dieses Jahres gab der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann den offiziellen Startschuss für das "Niedersächsische Vorgangsbearbeitungs-, Analyse-, Dokumentations- und Informationssystem" (Nivadis). Auf 11620 Linux-Rechnern soll die Applikation künftig landesweit laufen und das seit 1990 eingesetzte Unix-basierende Altsystem "Mikado" ablösen. Nivadis werde den Beamten alle notwendigen Informationen strukturiert und interpretiert darbieten und so die Arbeitsabläufe hervorragend unterstützen, versprach der CDU-Politiker anlässlich der Einführung.

Die Wirklichkeit wenige Wochen später sah jedoch ganz anders aus. Polizeibeamte in den Inspektionen, die zuerst mit Nivadis ausgerüstet wurden, beklagten Totalausfälle des Systems sowie das zeitweise miserable Antwortzeitverhalten. Gewöhnliche Berichte erforderten stundenlange Arbeit. Außerdem sei das Programm in seiner Bedienung wenig benutzerfreundlich angelegt, so der Vorwurf vieler Anwender.

Verstopfung im System

Dietmar Eickhoff, Senior Manager von Mummert Consulting, dem mit der Softwareentwicklung und Implementierung beauftragten Dienstleister, räumt die Probleme ein. Nach einer Umstellung von Beas "Weblogic"-Version 6.1 auf 8.1 am 15. Oktober habe es während Lastspitzen wie auch im normalen Produktionsbetrieb "Verstopfungen" im System gegeben. Anfragen der Client-Rechner seien nicht an das zentrale Applikations-Cluster weitergegeben worden. Die Applikations-Server seien ebenfalls Mitte Oktober auf Intels neue 64-Bit-fähige Itanium-Architektur umgestellt worden, berichtet Eickhoff.

Der Umstieg von IA-32 auf IA-64 sei problemlos verlaufen, betont der Manager. Allerdings mussten in Weblogic 8.1 einzelne Parametereinstellungen nachjustiert werden. Diese Parameter regelten die Lastaufnahme der Client-Anfragen auf den rund 100 dezentral im Land verteilten Servern.

Den Plattformwechsel im laufenden Rollout erklärt Eickhoff mit Verzögerungen bei den IT-Herstellern. Die Grundsatzentscheidung, Intels Itanium-Architektur in Verbindung mit Bea Weblogic 8.1 einzusetzen, sei bereits im Herbst letzten Jahres gefallen. Wegen der noch jungen IA-64-Plattform seien zu diesem Zeitpunkt die einzelnen Softwarekomponenten jedoch noch nicht angepasst und zertifiziert gewesen. Laut der Roadmap der Anbieter hätte dies jedoch bis zum Frühjahr 2003 geschehen sollen. Letzten Endes seien die Komponenten jedoch erst im Spätsommer freigegeben worden. Nach den notwendigen Lasttests sei das Softwarepaket unter IA-64 im Oktober für die Produktion bereit gewesen.

Warum die Verantwortlichen nur wenige Wochen zuvor mit Nivadis auf einer IA-32-Architektur gestartet waren, begründet Eickhoff mit Problemen der bis dato eingesetzten Hardware. So lief das Vorgängersystem auf Motorola-M88k-Clients, die zu diesem Zeitpunkt vom Hersteller nicht mehr unterstützt wurden.

Die Leistungsschwankungen seien in dieser Heftigkeit aber nicht vorhersehbar gewesen, bemerkt Eickhoff. Letzten Endes hätten die Projektverantwortlichen die Schwierigkeiten gut in den Griff bekommen. Die Probleme in Sachen Durchsatz und Antwortzeitverhalten seien analysiert und bis zum 17. November behoben worden. Seitdem entspreche das 82 Millionen Euro teure System den Erwartungen. Das Ganze sei "ergebnisorientiertes Krisen-Management mit der einen oder anderen Überraschung" gewesen.

Mal geht es flott, mal langsam

Überraschungen erleben die niedersächsischen Polizeibeamten aber auch heute noch. "Das System ist nach wie vor verbesserungswürdig", erzählt ein Polizist aus Peine. Vor allem die Performance und das Antwortzeitverhalten ließen auch jetzt noch zu wünschen übrig: "Manchmal geht es flott, dann wieder langsam." Auch die Anwendung selbst sei noch fehlerhaft, berichtet ein Beamter aus Hameln. Zwar bemühten sich die Verantwortlichen um die Behebung. Bei der Komplexität sei jedoch damit zu rechnen, dass die Fehlerkorrektur noch Monate, wenn nicht Jahre dauern werde. "Zufrieden sind wir noch lange nicht", resümiert der enttäuschte Gesetzeshüter.

Auch Bernhard Witthaut, niedersächsischer Landesbezirksvorsitzender der Polizeigewerkschaft, bestätigt die Softwaremacken. So sei es beim Umstieg zu Problemen gekommen, weil das neue System andere Plausibilitäten als die alte Lösung Mikado abfrage. Beispielsweise wurden früher jugendliche Zeugen ohne Angabe des Erziehungsberechtigten in einem Vorgang aufgenommen. Spielt man nun einen solchen Vorgang für Recherchezwecke in das neue System, werde dieser automatisch herausgenommen, weil die Angabe eines Erziehungsberechtigten unabdingbar sei. Die Beamten müssten nun die entsprechenden digitalen Akten manuell nachbearbeiten.

Außerdem sei die Bedienung des Systems verbesserungswürdig, mahnt Witthaut an. So ließen sich zum Beispiel Inventarnummern von Diebesgut nicht automatisch in Fahndungssysteme überspielen. "Eigentlich sollte man von einem modernen IT-System erwarten können, dass es die entsprechenden Verknüpfungen gibt", kritisiert der Polizist. Mittlerweile sei das Projektteam jedoch schon aktiv geworden. Mit einer am 17. November eingespielten Version seien rund 50 Fehler behoben worden. Weitere 80 sollen mit dem nächsten bereits für Mitte Dezember geplanten Release beseitigt werden. Witthaut hofft, dass es in einem halben Jahr reibungslos funktioniert. Allerdings warnt er: "Je intensiver das System genutzt wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass weitere Fehler auftauchen."

Das lässt für die nächsten Monate nichts Gutes ahnen. Zurzeit arbeiten erst etwa 3550 von rund 22000 Polizeibeamten mit Nivadis, berichtet Eickhoff. Knapp 1500 Clients sind mit der Software bestückt. Am Ende sollen es 11620 PCs sein. Laut den Plänen des Dienstleisters soll das 82 Millionen Euro teure Projekt bis Juni 2004 abgeschlossen sein. Von einem zu ehrgeizigen Zeitplan des im Februar 2001 gestarteten Projektes will Eickhoff indes nicht sprechen. Rund 120 Softwareingenieure, 50 von Mummert und 70 des Polizeiamts für Technik und Beschaffung, haben seit 2001 an der Entwicklung der Applikation gearbeitet.

Wer letzten Endes den schwarzen Peter für die Softwareprobleme in der Hand halten wird, ist derzeit nicht eindeutig zu klären. Vieles deutet allerdings darauf hin, dass auch das für die Polizei zuständige Ministerium des Inneren in Hannover eine Mitschuld trifft. Bereits in einem Bericht des niedersächsischen Landesrechnungshofes aus dem Jahr 2000 fordern die Prüfer eine "bessere Steuerung und Koordinierung der polizeilichen IT-Projekte" sowie "klar definierte Aufträge" und ein "wirksames Projekt- und Risiko-Management".

Weiter heißt es: "Die Vorbereitungs- und der Beginn der Realisierungsphase des Projekts Mikado-neu lassen eine umfassende konzeptionelle Planung und stringente Vorgehensweise vermissen."

Beamte nehmen''s mit Humor

Ausbaden müssen diese offenkundigen Planungsfehler nun die Beamten in den Polizeistationen. Die scheinen den Ärger um das Nivadis-System jedoch mit Humor zu nehmen. In den Dienststellen kursiert zurzeit der Spruch: "Ni wa dies so schwer, mit einem Computer zu arbeiten." (ba)

Das Nivadis-System

Im Zentrum von Nivadis steht eine logisch geclusterte und physisch auf zwei Rechenzentren verteilte Oracle 9i-Datenbank. Darauf setzt ein Applikations-Cluster mit 20 Itanium-Servern von Hewlett-Packard auf. Als Betriebssystem kommt der Linux Advance Server von Red Hat zum Einsatz. Landesweit sind etwa 100 dezentrale Server verteilt, die die Anfragen aus den Polizeistationen sammeln. Dort arbeiten Client-Rechner von Fujitsu-Siemens Computers (FSC) mit der Java-basierenden Nivadis-Applikation und dem Betriebssystem Suse Linux 8.1. Den Einsatz unterschiedlicher Linux-Distributionen erklärt Dietmar Eickhoff, Senior Manager bei Mummert Consulting, mit den Supportbeziehungen zwischen Red Hat und Server-Lieferant HP. Die Systeme sind in die Infrastruktur des Informatikzentrums Niedersachsen (IZN) eingebettet. Das Rechenzentrum stellt auch die Kommunikationssysteme bereit. So gibt es neben Core-Backbones auch regionale Netz-Backbones, von denen aus Stichleitungen zu den Dienststellen eingerichtet sind. "Das Netz wird beobachtet und gegebenenfalls nachjustiert, wenn es zu Engpässen kommt", versichert Eickhoff.