IT im Gesundheitswesen

Politik und Internet pushen den Umbruch

17.11.2000
In vielen Branchen rüttelt das Internet an den Grundfesten. Organisationen werden auf den Kopf gestellt, Abläufe radikal korrigiert. Gravierende Veränderungen sieht besonders das deutsche Gesundheitssystem auf sich zukommen. Mehr Kosten- und Leistungstransparenz werden eingefordert, und das Internet steht vor der Tür. Wie sich Chancen und Vorbehalte verteilen, hat Winfried Gertz* untersucht.

Wer heute mit niedergelassenen Ärzten diskutiert (www.buschtelefon.de), kommt sich vor wie auf einer Demo in unruhigen Studentenjahren: von der Gesundheitsreform gebeutelt, rufen sie auf zur Solidarität. Auf sein betriebswirtschaftliches Ergebnis angesprochen, steigt manchem "Traumberufler in Weiß" die Zornesröte ins Gesicht. In Thüringen und Berlin schließen niedergelassene Ärzte ihre Praxen und gehen auf die Straße. Dass sie deshalb strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können, ist den meisten egal.

Bereits 1993 sorgte der damalige Gesundheitsminister Seehofer dafür, dass die Honorarausgaben der Kassen für die ambulante Betreuung der Bevölkerung nur noch im Tempo des Lohnzuwachses der Versicherten steigen dürfen. Resultat: Weil die Ärzte jedes Jahr mehr Behandlungen durchführen, bekommen sie für die einzelnen Leistungen immer weniger Geld. 2000 zog die grüne Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer die Schraube für die Fachärzte noch einmal kräftig an und wies zugleich den Hausärzten etwas mehr Geld zu.

Wie Ministerin Fischer völlig zu Recht kritisiert, sind die Kosten des deutschen Gesundheitssystems längst aus dem Ruder gelaufen. Während Patienten sich sorgen, ob ihrem Arzt überhaupt noch genug Zeit für sie übrig bleibt, erzielen Pharmakonzerne Absatzrekorde, und der Abfall überschüssiger Medikamente türmt sich. Während Lobbyisten keine Gelegenheit zur Klage auslassen, steigen die Verwaltungskosten der Krankenkassen ins Uferlose. Das Gesundheitssystem, geprägt von Regulierung und fehlendem Wettbewerb, schreit nach Veränderung. "Von Kosteneffizienz und schlanken Prozessen fehlt weit und breit jede Spur", urteilt Stefan Rasch, Geschäftsführer der Boston Consulting Group in München.

Doch dabei wird es nicht bleiben, denn im Internet stecken erhebliche Reserven. Mit deutlichen Beitragssenkungen lockt etwa die Betriebskrankenkasse (BKK) des fränkischen Autozulieferers Fahrzeug Technik Ebern (FTE) ins Netz. Wer Telefon oder Internet einigermaßen beherrsche, so Vorstand Götz Emrich, könne jederzeit Mitglied der "ersten virtuellen Kasse" werden. Angesichts der etwa 16 Millionen Internet-Anschlüsse in Deutschland ein riesiger potenzieller Kundenkreis. Und BKKs haben einen großen Vorteil gegenüber anderen Krankenkassen: Ihre Mitglieder sind erheblich jünger und gesünder. Vorteil Nummer zwei: Seitdem Betriebskrankenkassen auch Betriebsfremde betreuen dürfen, hat sich ihre Wettbewerbsposition nochmals verbessert. Denn zum Wechsel sind nur kostenbewusste Kunden bereit, die ihre Krankenkasse auch sehr zurückhaltend beanspruchen.

Einsparungen in MilliardenhöheDoch bevor das zarte Pflänzchen Internet zu wuchern beginnt, müssen noch diverse Sträuße ausgefochten werden. Dies dürfte sich aber lohnen, addiert man nur die theoretischen Einsparpotenziale des Web zusammen. Mehr Kooperation in Diagnostik und Therapie, zeitnaher Zugriff auf Befunde, Röntgenaufnahmen und Laborwerte, Einkaufsgemeinschaften von Kliniken, elektronische Bestellvorgänge sowie der Medikamentenvertrieb übers Netz - zusammengenommen dürften sie Einsparungen in Milliardenhöhe ermöglichen und zugleich das Tempo zahlreicher Abläufe spürbar erhöhen. Allein in den USA soll das Volumen des Online-Handels mit Medikamenten laut Forrester Research bis zum Jahr 2004 von aktuell 16 Millionen auf 370 Millionen Dollar steigen. In Deutschland mit seinem rund 50 Milliarden Mark schweren Arzneimittelhandel dürfte vor allem der Klinikbereich als Großabnehmer erhebliche Kosteneinsparungen erzielen. Die bisherige Marge von rund 35 Prozent, die Großhandel und Apotheken für sich reklamieren, stünde im Internet also zur Disposition.

Doch die Hürden sind hoch. Nicht nur dass die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) keine Gelegenheit auslässt, jedwedem Schritt ins Internet einen Riegel vorzusetzen. Nun warnte auch die Stiftung Warentest vor "Russisch Roulette mit @rzneien". Die Preise seien hoch, Informationen dagegen Mangelware. Die Verbraucherschützer kauften zum Test bei 16 Internet-Apotheken in Australien, Neuseeland, der Schweiz und in den USA ein. Ihr Fazit: "Einen vernünftigen Grund, Medikamente per Zufallsrecherche im Internet zu ordern, gibt es nicht. Auf dem Spiel steht die Gesundheit."

Hintergrund ist das Angebot der niederländischen Internet-Apotheke DocMorris.com, ausgewählte Arzneimittel teilweise deutlich günstiger zu beliefern, als dies die deutschen Apotheken auf der Grundlage der bestehenden Gesetze tun dürfen. Als Anreiz für die Patienten selbst schlägt der niederländische Internet-Versender einen Verzicht auf die Patientenzuzahlung vor, die deutsche Apotheken einziehen müssen. Dies und die ersten Willkommensgrüße einiger privater Krankenkassen wie Deutscher Ring, Conti-nentale und Hallesche Nationale rief den ABDA auf den Plan. Würden die Krankenkassen diesem Angebot zustimmen, so wäre dies ein klarer Verstoß gegen das Versandhandelsverbot oder das Sachleistungsprinzip. Beliefert würden die Patienten mit ausländischen Arzneimitteln, die in Deutschland in dieser Form nicht verkehrsfähig seien. Verbunden mit dem niedrigeren Mehrwertsteuersatz der Niederlande bei Arzneimitteln (acht Prozent gegenüber 16 Prozent in Deutschland) käme es zu einer starken Wettbewerbsverzerrung.

Risiko: Gefälschte Arzneimittel

Aus Gründen des Verbraucherschutzes ist der Versandhandel von Arzneimitteln in Deutschland verboten, da mit ihm eine Vielzahl von Risiken verbunden ist. Wie die Stiftung Warentest ermittelte, weichen die Preise für "Pillen via Internet" deutlich voneinander ab. Hohe Beratungs- und Versandgebühren würden die online angebotenen Medikamente schließlich konkurrenzlos verteuern. So kostete ein Akne-Mittel bei der Stichprobe bis zu 214 Mark, also fast das 17-fache des deutschen Apothekenpreises. "Und wenn der Zoll die Fracht beschlagnahmt, ist beides weg: Geld und Medikament." Ein weiteres Risiko: Die gelieferten Arzneimittel sind gefälscht oder verunreinigt, und die Packungsbeilage ist nicht in deutscher Sprache verfasst. Bei einigen Anbietern würden "Online-Sprechstunden" (Fragebögen) darüber entscheiden, ob virtuell ein Rezept erteilt werden dürfe. Laut Stiftung Warentest eine Farce, denn ein Rezept gebe es immer, egal welche Krankheiten angegeben werden. Beispiel: Viagra bei Herzkrankheit, was lebensgefährlich sei. Zudem warnen die Warentester: "Wenn Sie als Privatperson apothekenpflichtige Arzneimittel einführen, begehen Sie eine Ordnungswidrigkeit, bei größeren Mengen sogar eine Straftat."

Gesundheitsministerin Fischer, die den Stein mit ihrer Bemerkung ins Rollen brachte, man solle die Diskussion ums Internet nicht defensiv und nur in Bezug auf drohende Gefahren führen, sondern vor allem auf die Chancen des Netzes hinweisen, hat sich unter den Verbandsvertretern keine Freunde gemacht. Auch wenn sie immer wieder einräumt, dass dieselben Sicherheitsbestimmungen, die für den herkömmlichen Arzneihandel gelten, auch im Internet gelten müssen, ist die Furcht der Apotheker vor dem E-Commerce keinen Deut geringer geworden. Reflexartig wird nun die moralische Karte gespielt. Gemeinsam wollen die Landesapothekerkammer (LAK) Baden-Württemberg, der Landesverband der Angestellten-Krankenkassen sowie die Verbraucherzentrale einen Ehrenkodex für Pharmahersteller auflegen. Sie sollen sich verpflichten, gegen den Handel von Medikamenten über das Internet vorzugehen und die Verantwortlichen gegebenenfalls mit einstweiligen Verfügungen stoppen. Geht das nicht zu weit? LAK-Sprecher Thomas Mavridis: "Wir wollen alle rechtlichen Mittel ausschöpfen, uns aber nicht als Internet-Polizei aufspielen."

Wenn das Internet erst einmal die Angst der Berufspessimisten überwunden und sein Potenzial mit Nachdruck unter Beweis gestellt hat, wird man über derlei Vorbehalte nur noch den Kopf schütteln können. Andererseits ist es gerade der Sicherheitsaspekt, der im Gesundheitssystem - zu Recht - ein zu forsches Vorgehen verhindert. Insbesondere die elektronische Patientenakte trifft auf schärfste Sicherheitsvorschriften. Dabei ist gerade sie laut Markus Lindlar von der Universität Köln ein exzellentes Beispiel für das Potenzial der Telemedizin im Netz: Sie enthalte alle bisherigen Behandlungsetappen im Überblick und vermindere Doppeluntersuchungen, Patiententransporte und Kommunikationskosten. Zudem könnten Mediziner im Web immer auf den neuesten Stand der Therapie- und Diagnosemöglichkeiten gebracht werden. Wie die Beratungsgesellschaft Arthur D. Little kalkuliert, ließen sich durch Einsatz der Telemedizin rund 25 Milliarden Mark eingesparen.

Doch der "gläserne Patient" wird sich so schnell nicht realisieren lassen. Unzufrieden über den Erstentwurf des Gesundheitsreformgesetzes 2000 (www.dialog-gesundheit.de), den Ministerin Andrea Fischer im Sommer vergangenen Jahres vorgelegt hatte, wehrten sich Bundes- (www.bfd.bund.de) und Landesdatenschutzbeauftragte (www.bfd.bund.de/anschriften) einvernehmlich gegen die geplanten Korrekturen der bis dato praktizierten Datenschutzbestimmungen. Standen im ambulanten Bereich bisher personenbezogene Abrechnungsdaten mit medizinischen Inhalten und Diagnosedaten den Krankenkassen nur ausnahmsweise zu Prüfzwecken zur Verfügung, sollten diese Informationen künftig den Krankenkassen generell versichertenbezogen übermittelt werden. In prall gefüllten Datenbanken wäre es also ein Kinderspiel, von jedem Versicherten ein aussagekräftiges Gesundheitsprofil zu bilden und Auffälligkeiten zu prüfen. "Bei den Kassen entstehen gläserne Patientinnen und Patienten", orakelten die Datenschützer. "Das Patientengeheimnis wird ausgehöhlt."

Ihre Kritik stieß nicht auf taube Ohren. Ministerin Fischer versprach Abhilfe und führte unter Zustimmung der Datenschützer die Anonymisierung von Daten ein. Auswertungen medizinischer Daten zur Kostenkontrolle - ein wesentlicher Impuls der Gesundheitsreform - können nun vorgenommen werden, ohne Belange des Patientengeheimnisses oder des Datenschutzes zu verletzen.

Riesenaufwand für alle BeteiligtenNoch muss der Bundesrat dem "aufgeschnürten" Gesetzespaket zustimmen. "Bis dahin ist alles in der Schwebe", meint Werner Schneider, Datenschutzbeauftragter des Landes Baden-Württemberg (www.baden-wuerttemberg.datenschutz.de). Er kann sich gar nicht vorstellen, warum sich Krankenkassen und Mediziner mit der geplanten Verschlüsselung von Diagnosen abfinden sollen. "Ein Riesenaufwand für alle Beteiligten." Basis ist der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelte Schlüssel ICD-10 (International Statistical Classification of Deseases and Related Health Problems), mit dem Ärzte ihre Befunde verklausulieren. Wurde der Patient von einem Hund gebissen, notieren sie den Code T14.1, bei Akne L70.0 und bei krankhafter Eifersucht F22.0.

Bisher formulieren Mediziner ihre Diagnosen im Klartext und leiten die Abrechnungsformulare zur Anonymisierung an die Kassenärztlichen Vereinigungen weiter. Von dort erhalten die Krankenkassen zwei Magnetbänder: auf einem sind Diagnosen und abgerechnete Leistungen ohne Personenangaben gespeichert; welche Personen behandelt worden sind, lässt sich vom anderen Datenträger ablesen. So erfahren die Kassen, wie viele Versicherte pro Quartal wegen Kopfweh den Arzt aufsuchen, aber nicht, wer konkret behandelt worden ist.

Ein Problem für die Mediziner, deren kodierte Abrechnungen sich künftig besser kontrollieren lassen. Krankenkassen könnten also jenen Ärzten einen Riegel vorschieben, die den Fußpilz eines bereits beinamputierten Patienten zu behandeln vorgeben. Datenpools, deren Einrichtung von Ministerin Fischer ebenfalls fest vorgesehen ist, gewähren tiefen Einblick in Verschreibungsverhalten und Behandlungsmethoden von Ärzten. Kein Wunder, dass deren Lobby sich zum entschiedensten Gegner der Gesundheitsreform aufgeschwungen hat.

*Winfried Gertz ist freier Journalist in München.