Rationalisierungsdebatte:

Plettners Plädoyer für die Mikroelektronik

26.01.1979

MÜNCHEN (bi) - Zweckoptimistisch gibt sich eine Presseinformation des Vorstandsvorsitzenden der Siemens AG, Dr. Bernhard Plettner. Titel: "Mikroelektronik bringt neue Produkte und Wachstum". Offiziell ohne aktuellen Anlaß formuliert, bezieht Plettner in seinem "allgemeinen Diskussionsbeitrag" dennoch eindeutig Stellung in der Rationalisierungsdebatte. CW bringt den Essay ungekürzt.

Die Mikroelektronik kann als Basisinnovation weiten Bereichen der Wirtschaft neue Wachstumsimpulse geben. Dennoch ist sie ins Zwielicht geraten. Der Grund liegt darin, daß die Mikroelektronik einerseits zwar neue Produkte und damit neue Märkte schafft, andererseits aber auch die Automatisierungsmöglichkeiten vergrößert und dadurch zur Einsparung menschlicher Arbeitskraft beiträgt. In Zeiten anhaltender Arbeitslosigkeit wird dieser Rationalisierungseffekt üngünstiger beurteilt als bei normaler wirtschaftlicher Entwicklung. Gleichwohl ist die Mikroelektronik eine Chance; eine Gefahr für unsere Industrie ist sie nur, wenn die Unternehmen diese Chance nicht oder zu spät nutzen und damit die Märkte der schnelleren Konkurrenz aus anderen Ländern überlassen würden, wie dies bei Taschenrechnern schon fast völlig und bei Quarzuhren teilweise geschehen ist.

Daß der kleine Elektronikchip Hunderttausende von deutschen Arbeitsplätzen gefährde, ist schlicht gesagt ein Märchen: Der größte Teil der Industrieerzeugnisse, wie etwa Chemieprodukte, Stahl, Lebensmittel oder Textilien enthält keine Mechanik, die durch Mikroelektronik ersetzt werden könnte. Aber auch alle Maschinen und Apparate für Industrie und Haushalt enthalten nur in geringem Umfang Mechaniken, die sich durch Mikroelektronik ablösen ließen. Tatsächlich könnten vielleicht zwei bis drei Prozent der in der deutschen Industrie Beschäftigten durch den "Substitutionsprozeß", also den Austausch von Mechanik durch Elektronik, innerhalb von etwa zehn Jahren betroffen werden. Gesamtwirtschaftlich wäre das aber kaum dramatisch. Denn viel gewichtiger sind die positiven Effekte der Mikroelektronik: Sie ist eine Innovation, die neue Produkte schafft, größere Nachfrage und menschlichere Arbeitsplätze.

Künftig wird in Geräten der Nachrichtentechnik, in Automobilen, in Hausgeräten und im Maschinenbau die Mikroelektronik zusätzliche Leistungen und mehr Komfort ermöglichen. Die Erzeugnisse werden verbessert und mit neuen, zusätzlichen Eigenschaften ausgestattet. Ein Auto mit Mikroprozessor verbraucht weniger Benzin, bremst besser und hilft, die Unfallziffer zu senken. Bei vielen anderen Geräten und Maschinen, im Haushalt und im Büro werden sich ähnliche Vorteile und damit Nachfrageimpulse ergeben.

Damit stehen Zehntausende von deutschen Betrieben aller Größen vor einem Scheideweg: Nur wenn sie die Chance der Mikroelektronik rechtzeitig erkennen und nutzen, können sie sich einen Vorsprung vor der Konkurrenz sichern. Lassen sie die Chance aber ungenutzt, werden sie früher oder später Schwierigkeiten bekommen, ihre Position gegenüber den Wettbewerbern zu halten.

Der elektronische Taschenrechner ist ein Beispiel, das nachdenklich machen

sollte: In der Bundesrepublik hat er die elektromechanische Rechenmaschine vom Markt verdrängt. Wertmäßig ist heute der Markt für Taschenrechner größer als vor acht Jahren der Markt für elektromechanische Rechner. Die Industrie hätte also kaum Einbußen erleiden

müssen. Aber zu wenige Hersteller haben sich rechtzeitig umgestellt. So werden heute 90 Prozent der in Deutschland verkauften Taschenrechner importiert.

Amerikanische und japanische Hersteller haben die Chance der Elektronisierung erkannt und stellen sich zielstrebig auf die neue Technik um. Für die Europäer ist es noch nicht zu spät, um die Mikroelektronik zu nutzen. Die deutsche elektronische Industrie ist ein leistungsfähiger Partner, der nicht nur die Technologie bietet, sondern auch bei der Anwendung jede Hilfe leistet. Rechtzeitig und umfassend genutzt, wird die Mikroelektronik künftig mehr Arbeitsplätze schaffen, als sie vorübergehend während der Umstellung da und dort überflüssig macht.