"Pionier" rüstet sich zum Wettkampf

21.07.1978

In vielen Ländern arbeiten Wissenschaftler an der Entwicklung eines sogenannten "künstlichen Intellektes". Es wäre falsch, in diesem Zusammenhang von einer künstlichen Intelligenz zu sprechen, denn zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind wir weder dazu fähig noch daran interessiert, einen Intellekt zu schaffen, der dem menschlichen ähnlich wäre. Hier ist die Rede von Helfern des Menschen bei den verschiedenen spezifischen Aufgaben seiner Geistestätigkeit und vor allem bei der Lösung von Planungsproblemen. Das Konzept der Untersuchungen auf diesem Gebiet steht zum Teil bereits fest.

Seine Grundlagen wurden 1949 vom amerikanischen Mathematiker Claude Shannon formuliert, der den Vorschlag machte, mit der Arbeit an der Schaffung eines "künstlichen Schachspielers" zu beginnen. Ein Erfolg auf diesem Gebiet würde breite Perspektiven für die Ausarbeitung von EDV-Programmen in den verschiedenen Bereichen von Planungsprozessen auf der Basis der formalisierten Gesamttheorie eröffnen.

Der schottische Gelehrte Michie äußerte die Überzeugung, daß, sobald es gelingen sollte, ein Schachprogramm zu entwickeln, das mit der Stärke eines Schachmeisters spielt, auf der Grundlage dieses Programms beliebige andere Aufgaben programmiert werden könnten.

Warum, könnte man fragen, wurde gerade das Schachspiel als Modell der wissenschaftlichen Forschung gewählt? Der Grund dafür liegt darin, daß dieses uralte Spiel, genauso wie viele andere Planungsprobleme, auf der Lösung von Generierungsaufgaben beruht. Um solche Aufgaben genau lösen zu können, ist es erforderlich, einen, Spielbaum der Generierung" aller möglichen Varianten (im Schach: der Zugfolgen) aufzubauen.

Bei komplizierten Problemen kann der vollständige "Spielbaum der Generierung" sehr groß sein (etwa im Schachspiel), und in einigen Fällen sogar unendlich groß. So hat man zum Beispiel errechnet, daß die Anzahl aller möglichen Positionen im Schachspiel der Größe 10 120 entspricht. Als Kuriosität sei darauf hingewiesen, daß, seitdem der Mensch der Sprache mächtig ist, alle Menschen zusammen "nur" 10 16 Worte gesprochen haben.

Es gibt deshalb keinen anderen Ausweg, als die Anzahl der Möglichkeiten künstlich zu vermindern, das heißt, zu versuchen, die Lösung mit Hilfe eines beschränkten "Spielbaumes der Generierung" zu suchen, indem man die Länge der Zugfolgen beschränkt. Im Endergebnis müßten wir uns somit mit einer annähernden Lösung des Problems begnügen.

Claude Shannon empfiehlt hierzu zwei verschiedene Methoden:

- Einen "abgestumpften" Spielbaum der Generierung zu verwenden und dabei alle möglichen Zugfolgen bis zu einer bestimmten Tiefe zu untersuchen.

- Aus dem "Spielbaum der Generierung von vornherein alle jene Möglichkeiten auszuschließen, die uns als sinnlos erscheinen.

Nach dem ersten Prinzip (dieses ist relativ einfach) funktionieren zur Zeit die stärksten Computerschach-Programme, nach dem zweiten Prinzip (dieses ist kompliziert) spielen die Schachmeister.

Das noch nicht abgeschlossene Kapitel der Geschichte der Schaffung eines "künstlichen Intellektes" zeichnet sich durch einen Wettstreit zwischen diesen beiden Richtungen aus. Die erste Methode scheint wenig effektiv zu ein, da bei einer Vergrößerung der Länge der Zugfolgen der "Spielbaum der Generierung" katastrophal anwächst. Nehmen wir zum Beispiel an, daß zur Hälfte der Schachpartie eine Position entstanden ist, bei der jeder der Seiten 20 Züge zur Auswahl stehen.

Bei einer vorgegebenen Länge der Zugfolgen von nur 6 Halbzügen (3 Züge für Weiß und 3 Züge für Schwarz) müßte der Computer 70-10 6 Möglichkeiten berechnen! Mit Hilfe eines ausgeklügelten mathematischen Verfahrens ist es jedoch möglich, die Anzahl der Positionen zu reduzieren. So untersucht das Programm "Chess - 4.6" (USA) bei jedem Zug zirka 400 000 Positionen, was auch nicht gerade wenig ist. Wenn man aber dabei die Tiefe der Generierung nur um zwei Halbzüge vergrößert, beträgt die Anzahl der Positionen im Spielbaum bereits mehrere Millionen - die Progression ist gewaltig.

Die Spielstärke der modernen Schach-Programme ist vor allem von der Tiefe der Untersuchung der Zugfolgen abhängig. Dies ist auch der Grund dafür, daß die amerikanischen Wissenschaftler diese Methode bildhaft als "brut forces" (brutale Kraft) getauft haben. Um die Hoffnungslosigkeit dieser Methode zu verstehen, genügt es, wenn man sich daran erinnert, daß in der berühmten Partie: Botwinnik gegen Capablanca (Rotterdam 1938), Weiß die Zugfolgen auf mindestens 12 Halbzüge berechnete.

Bei einer analogen Tiefe der Zugfolgen wäre auch der Computer in der Lage, die Positionen zu berechnen, würde aber dabei - bildhaft ausgedrückt - die Lösung fein dosiert ("ein Teelöffel pro Stunde") finden. Der Mensch hingegen ist in der Lage, sich auf die dafür zur Verfügung stehende Zeit zu beschränken, weil er bei seinen Berechnungen die von vornherein sinnlosen Züge aus der Untersuchung ausschließt. Der Grund dafür liegt darin, daß der Mensch über ein Selektionsfähigkeit verfügt, die Schachprogramme, welche auf einer vollständigen Generierung der Zugfolgen basieren, nicht besitzen.