"Pionier" rüstet sich zum Wenkampf (Fortsetzung aus CW-Nr.30)

28.07.1978

Alle drei Jahre veranstalten die Forscher der Länder, in denen man an der Schach-Programmierung arbeitet, ein Weltchampionat für Computerschach. Diese Turniere werden stets zum Zeitpunkt des IFIP-Kongresses anberaumt und dienen dem Meinungsaustausch über die Forschungsergebnisse auf diesem sehr wichtigen Wissenschaftsgebiet.

Das Computerschach-Turnier ist eine äußerst interessante Veranstaltung. Vor den Schachbrettern sitzen die Autoren des jeweiligen Programms. Mit Hilfe spezieller Leitungen geben sie an ihre Computer, die sich bisweilen sehr weit vom Veranstaltungsort befinden, den Zug des "Gegners" weiter. Der Gegenzug des Computers wird auf einen Bildschirm projiziert und auf das Schachbrett übertragen.

In den vergangenen Jahren verlief der entscheidende Wettstreit vorwiegend zwischen den beiden stärksten Programmen - unserem "Kaissa" (die Autoren sind V. Arlazarov und M. Donskoj), und dem amerikanischen .Chess - 4" (Autoren - D. Slait; und L .Alkin). Beim ersten Weltchampionat in Stockholm im Jahre 1974 siegte "Kaissa". Das zweite Weltchampionat fand im August 1977 in Toronto (Kanada) statt. Beide Programme basieren auf der "brut forces"-Methode. Als Sieger ging das modernisierte "Chess 0 - 4.6" hervor. Was war der Grund dafür?

Die Antwort darauf erhielt man, als beide Programme anschließend in einer Freundschaftspartie gegeneinander stellten.

" Kaissa" untersuchte die Zug...en auf eine Tiefe von fünf Halbzügen, "Chess - 4.6" hingegen auf sechs. Dieser Horizont war von der Rechengeschwindigkeit des Computers abhängig.

"Kaissa" verwendete einen Computer mit einer Rechengeschwindigkeit von 8 x 10", und "Chess - 4.6" von 12 x 106

Operationen pro Sekunde. Bis zur Hälfte der Partie war dieser Unterschied nicht bemerkbar, beide Programme spielten ungefähr mit der Stärke eines Schachspielers der zweiten Kategorie.

Sobald jedoch der größte Teil der weitreichenden Figuren ausgetauscht war,verminderte sich die Anzahl der möglichen Zuge im "Spielbaum der Generierung", was zu einer Veränderung der Situation führte. Die Rechengeschwindigkeit ihres Computers erlaubte es "Kaissa" ihre Berechnungen lediglich bis auf neun Halbzüge zu vertiefen, wogegen der Computer von "Chess - 4.6" bis auf zwölf Halbzüge rechnete. In dieser Situation war der Unterschied wesentlich und entschied somit die Partie.

Unsere Schachprogrammierer verfügen zur Zeit noch nicht über Computer mit der notwendigen Rechengeschwindigkeit, den Amerikanern hingegen fehlt es an einer entwickelten Theorie zur Nachvollziehung des Denkmodells eines Schachmeisters.

Eine solche Theorie existiert aber bereits: es handelt sich dabei um das Programm "Pionier", das im All-Unions-Forschungsinstitut für Elektroenergetik und in zwei Moskauer Rechenzentren von einem Wissenschaftlerteam entwickelt wurde. Offensichtlich ist "Pionier" das einzige Schachprogramm, das nach derselben Methode verfährt wie ein Schachmeister.

Am 3. August 1977, das heißt einige Tage vor Beginn des Championats, gelang es "Pionier", eine komplizierte Studie des grusinischen Schachautors G. Nadareischwili zu lösen. Wir zitieren hier die entscheidende Zugfolge, die von "Pionier" ermittelt wurde:

Kf6 -g5; 8.h5-h6c5-c4; 9.Kh7-g7c4-c3; 10.h6-h7c3-c2; 11.h7-h8Dc2-c1D; 12.Dh8-h6+Kg5-f5; 13.Dh6+c1.

Die längste Zugfolge der Lösung umfaßt 25 Halbzüge, und obwohl der Horizont der Berechnungen nicht beschränkt wurde, enthält der "Spilelbaum der Generierung" alles in allem lediglich 200 Züge.

Genauso wie ein Schachmeister, so hatte auch "Pionier" die Züge, die von vornherein als sinnlos erschienen, aus den Untersuchungen ausgeschlossen. Das Programm ist noch nicht abgeschlossen, da sowohl die Positionsbeweltung als auch die Erfahrungen der Schachmeister in den Algorithmus nicht einbezogen sind. Doch bereits die ersten Ergebnisse zeigen, daß der richtige Weg gefunden ist.

Sofort nach Beendigung der Partie zwischen "Kaissa" und

"Chess - 4.6", rief D. Kalander, der Konsultant der amerikanischen Firma "Control Data", deren Computer vom amerikanischen Programm stets

verwendet wird, die Zentrale in Minneapolis an, und gab den Auftrag, "Cyber- 176" solle die Studie von Nadareischwili losen.

Die ersten zwei Züge für Weiß konnte "Chess - 4.6" ermitteln, nachdem aber der dritte Zug des Computers mitgeteilt wurde, schaute D. Kalander auf das "Display", schüttelte lachend den Kopf und winkte ab: der Computer hatte rund eine Million Züge untersucht, war aber nicht auf den richtigen Zug gekommen

Die Autoren des Programms "Chess-4.6", D. Slade und L. Atkins, teilten mit, daß sie entschlossen sind, die "brut forces"-Methode aufzugeben, da sie keine Perspektiven hat und daß sie vorhaben ihr Programm auf dem "Evolutionsweg" weiterzuentwickeln .

Es stellt sich nun die Frage, ob das überhaupt möglich ist, und wieviel Zeit dafür erforderlich sein wird, um den Weg von "Pionier" nachzuvollziehen? Wenn unter Anwendung der "brut forces"-Methode die größere Rechengeschwindigkeit des Computers lediglich eine geringfügige Vertiefung der Berechnungen und damit eine relativ bescheidene Steigerung der Spielstärke ermöglicht, so ist der Einfluß der Zunahme der Rechengeschwindigkeit des Computers bei Verwendung von "Pionier" ungefähr proportional der Tiefe der Untersuchung der Zugfolgen im "Spielbaum der Generierung" .

Vorläufig spielt "Pionier" noch relativ langsam. Auf einem Computer vom Typ "Cyber - 176" würde jedoch die Lösung der Studie von G. Nadareischwili weniger als zehn Minuten dauern - und diese Leistung wäre sogar für einen hochqualifizierten Schachspieler mehr als beachtlich.

Die dritten Weltmeisterschaften im Computerschach sind für 1980 vorgesehen. Zuerst werden in Japan in Ausscheidungsspielen die erfolgreichsten Programme ermittelt, von denen die zwei Erstplazierten zusammen mit Chess-4.6" und "Kaissa" nach Australien gehen, wo der Champion der 3 Weltmeisterschaften ermittelt wird. Man hat allen Grund zu der Annahme, daß dieser Champion bereits ein guter Schachmeister sein wird.

Übersetzung aus dem Russischen:Ostsprachen-Übersetzungsdienst,Universitätsbibliothek Dortmund