Systemverantwortung verpflichtet Hersteller zur Beratung:

Pflichtenheft ergänzt Allgemeine Lieferbedingungen

04.08.1978

Manch Ärger zwischen Anwender und Hersteller könnte vermieden werden, wenn von vornherein feststehen würde, wer "systemverantwortlich" ist. Mag das in den Beziehungen zwischen Großsystem-User und Mainframer meist hinreichend geregelt sein - beim Einsatz von "maßgeschneiderten" Systemen (Turnkey-Solution) stellen sich die Dinge weniger simpel dar. Am Beispiel von BDE-Systemen beleuchtet Ladislaus Kovats*, erfahrener EDV-Berater, wo Fallstricke liegen können.

Eine anerkannte Normung und Abgrenzung des zunehmend verwendeten Begriffs "Systemverantwortung" scheint nicht zu existieren. Auf dem Gebiet der Datentechnik unterscheidet man jedoch etwa folgende Kategorien von Geschäftsbeziehungen:

Der Hersteller verkauft oder vermietet dem Anwender Hardwarekomponenten, Softwarekomponenten, Systemliteratur und Ausbildung und haftet für die spezifikationsgemäße Ausführung und technische Funktion dieser "Tools". Beim Angebot und Verkaufsabschluß hat der Hersteller dem Anwender gegenüber lediglich eine Beratungspflicht.

Der Anwender konzipiert und erstellt die anwendungsbezogenen Programme. Die Systemverantwortung für das Zustandekommen des erstrebten wirtschaftlichen Effektes liegt eindeutig beim Anwender; auch dann, wenn der Hersteller zur Unterstützung des Anwenders entgeltlich oder unentgeltlich in einem beschränkten Umfang eigenes oder fremdes Personal zur Beratung oder teilweisen Implementierung zur Verfügung stellt.

Diese Kategorie des Geschäftes praktizieren im wesentlichen die Hersteller von General-Purpose-Computern, kommerziellen Datensammelsystemen, stekkerkompatiblen Peripheriegeräten und - sehr selten - die Hersteller von BDE-Systemen.

Geteilte Systemverantwortung liegt vor, wenn der Hersteller oder Lieferant des Systems Design und Implementierung eines definierten Teiles der Anwendersoftware verantwortlich übernimmt. In diesem Falle vereinbaren die Partner zweckmäßigerweise eindeutig definierte Schnittstellen und Abgrenzungen für die Systemverantwortung.

Diese Kategorie der Systemverantwortung ist beispielsweise üblich bei BDE-Systemen, die online mit einem General-Purpose-Computer (Planungsrechner) gekoppelt sind. In der Regel ist der Anwender für die anwendungsbezogene Funktion des Planungsrechners systemverantwortlich, der Lieferant des BDE-Systems für die Funktion der Anwendung BDE bis zur Schnittstelle des Planungsrechners.

Die Abgrenzung der Systemverantwortung ist in solchen Fällen - insbesondere bei mangelhafter Konzeption und ungenügend detaillierter Vertragsvereinbarung - nicht unproblematisch.

Auskunftspflicht gegenüber dem Hersteller

Übernimmt der Hersteller entgeltlich oder unentgeltlich die verantwortliche Erstellung der Anwenderprogramme und Datenübertragungsprozeduren für das gelieferte Hardwaresystem, so liegt die Systemverantwortung nach branchenüblichen Maßstäben eindeutig beim Hersteller.

Der Anwender hat hierbei eine Auskunftspflicht gegenüber dem Hersteller bezüglich der Anwendung. Dies wird in Form eines von beiden Seiten akzeptierten Pflichtenheftes erfüllt.

Die Haftung des Herstellers erstreckt sich in diesem Fall nicht nur auf spezifikationsgemäße Funktion der Einzelkomponenten, sondern auch auf die Funktion der im Pflichtenheft vereinbarten Anwendung.

Diese Kategorie des Geschäftes ist häufig bei bestimmten Prozeßsteuerungsanwendungen, bei BDE-Systemen sowie Personalzeiterfassungs- und Zutrittskontrollsystemen.

Haftungs-Einschränkungen durch Kleingedrucktes

Durch die Haftung für die pflichtenheftgemäße Nutzbarkeit des Systems werden die "Allgemeinen Lieferbedingungen" des Herstellers ergänzt und erweitert. Dort in der Regel massenhaft vorhandene "kleingedruckte" Einschränkungen der Haftung werden automatisch gewandelt.

Ein seriöser Hersteller wird für die Übernahme der Systemverantwortung und der damit verbundenen Dienstleistung eine angemessene besondere Vergütung verlangen und den Anwender im Rahmen seiner allgemeinen Beratungspflicht auf die Besonderheit der Geschäftsbeziehung explizite hinweisen.

Infolge der übernommenen Systemverantwortung entsteht aber auch eine spezielle Beratungspflicht des Herstellers in bezug auf die Anwendung. Der Hersteller ist verpflichtet, den Anwender bereits in der Angebotsphase, spätestens aber bei Vertragsschluß auf die voraussehbaren Komplikationen (Verfügbarkeit, Systemstabilität, Anlaufzeiten, notwendige Parallelläufe mit dem vorhandenen Verfahren, Notorganisation) ausdrücklich hinzuweisen. Auf keinen Fall darf der Hersteller versuchen, den Anwender absichtlich oder fahrlässig zu täuschen.

Komplexitätsgrad entscheidet

Zur Beurteilung der zumutbaren Anlaufzeiten, der Dauer von Parallelarbeit mit dem früheren Verfahren und der zumutbaren Ausfallzeiten und Störungen ist der Grad der Komplexität sowie die Einordnung der Komplexität in unterschiedliche Kategorien von einiger Bedeutung. Hierbei ist klar daß eine niedrigere Komplexität weniger Komplikationen verursachen darf als eine große Komplexität.

Zur Kategorie der äußerst komplexen BDE-Systeme gehören Systeme, die etwa folgende Merkmale aufweisen:

- Erfassung von Bedienungseingaben (Tastatur, Ausweisleser, Kartenleser) als auch von digital oder analog anfallenden Daten von automatischen Gebern (Waagen, Zähler, Zustandsimpulse etc.) über entsprechend ausgerüstete Terminals, die von einer BDE-Zentrale gesteuert werden.

- Der Aufgabenstellung angemessene Bedienerführung.

- Online-Kopplung des BDE-Systems an den übergeordneten Planungsrechner. Synchrone oder asynchrone Datenübertragung zwischen BDE-System und Planungsrechner nach den Konventionen der vereinbarten DFÜ-Prozeduren.

- Bidirektionaler Verkehr (Dialog) zwischen BDE-System und Planungsrechner.

- Datenfernübertragung über Stand- oder Wählleitungen innerhalb und außerhalb des eigenen Werksgrundstückes.

- Erhöhte Verfügbarkeit und Ausfallsicherheit durch Mehrfachauslegung bestimmter Komponenten sowie gegebenenfalls durch unterbrechungsfreie Stromversorgung .

Nach branchenüblicher Einstufung kann man zu den nicht komplexen BDE-Systemen sogenannte Stand alone-BDE-Systeme zählen, die die in der Produktion anfallenden Daten als Bedienungseingaben (über Tastatur, Ausweisleser, Kartenleser) offline (mit dem Planungsrechner nicht gekoppelt) auf ein Datenträgermedium (Magnetband, Diskette, Lochstreifen) zwecks späterer Verarbeitung des erstellten Mediums im Planungsrechner erfassen. Solche Systeme haben eine gewisse Verwandtschaft zu Datensammelsystemen, die allgemeine kommerzielle Daten erfassen, wobei sie sich von diesen mindestens in folgenden Merkmalen unterscheiden:

- Aufwendigere, auf die Fertigungsbelange abgestellte Bedienerführung,

- robustere, auf die Fertigungsumgebung abgestellte Terminalausführung,

- aufwendigere Datensicherungs-, Wiederanlauf- und DFÜ-Routinen.

Solche Systeme repräsentieren - relativ - den niedrigsten Grad an Komplexität.

Es existiert zwar kein Ehrenkodex für die Dauer von Anlaufschwierigkeiten und Umstellungskomplikationen; je nach Komplexitätsgrad des Systems und der Anwendung können jedoch etwa folgende Anlaufzeiten ab Installation - leider - als durchaus branchenüblich gelten:

- Bei äußerst komplexen BDE-Systemen sollte der Anwender etwa 6 bis 18 Monate Anlaufzeit mit Parallelarbeit mit den vorherigen Verfahren schon aus Sicherheitsgründen als sachlich vertretbar planen,

- bei komplexen BDE-Systemen eine entsprechende qualifizierte Untermenge wie vorher beschrieben,

- bei nicht-komplexen BDE-Systemen, wie unter Ziff. 3.3 definiert, sollte der Anwender noch immer etwa 3 bis 6 Monate Anlaufzeit und Parallelarbeit als selbstverständlich und angemessen einplanen.

Die Anzahl installierter BDE-Systeme wächst relativ langsam, aber stetig. Die Marktstudie eines angesehenen BDE-Marktforschers aus dem Jahre 1976 prognostiziert bis zum Jahre 1980 einen Bestand von knapp über 1500 installierten BDE-Systemen in der Bundesrepublik bei einem potentiellen Markt von etwa 8000 Anwendern, für die BDE-Systeme der verschiedenen Kategorien in Frage kommen.

Diese Zahlen rechtfertigen es, der besonderen Problematik der Systemverantwortung eine spezielle Aufmerksamkeit zu widmen.

*Ladislaus Kovats ist Geschäftsführer der Explora GmbH Institut für Industrieberatung und Marktforschung, München.

Den Herstellern ins Stammbuch

* Die Definition der Systemverantworung sollte vom Produkt Marketing und nicht von Verkaufsingenieuren im Feld "erfunden" werden.

* Eine solide Schulung des Vertriebes bezüglich Systemverantwortung und Beratungspflicht sollte mit Produktschulung und Verkaufstraining gleichberechtigt erfolgen.

* Euphorische Angebotsformulierungen bezüglich Ausfallsicherheit und Systemstabilität können vom Anwender später als Täuschung empfunden werden.

* Der Implementierungsaufwand für die Anwendungssoftware und für Engineering sollte ebenso detailliert angeboten werden wie die Hardwarekomponenten.

Den Anwendern ins Stammbuch

* Erwarten Sie nicht, daß mehrere Hersteller in der Angebotsphase für Sie kostenlos die Aufgabenstellung ermitteln; seriöse Hersteller bevorzugen schriftlich definierte Ausschreibungen.

* Für die Implementierung der BDE-Anwendung und der damit verbundenen Systemverantwortung steht dem Hersteller eine angemessene Vergütung zu. Es ist dem Anwender abzuraten, ausgerechnet diese Kostenposition herunterzufeilschen.

* Ein Hersteller mit verblüffend niedrig angebotenen Kosten für die Implementierung der Anwendung (relativ zu anderen) könnte der unerfahrenste Anbieter sein.

* Die Systemverantwortung sollte bei Vertragsabschluß detailliert schriftlich abgegrenzt werden.