Vor etwa zehn Jahren begannen Dienstleister des amerikanischen Gesundheitswesens, Computerprogramme im klinischen Bereich einzusetzen. Sie sollten die Kommunikation zwischen medizinischem Personal, Klinik-Management und IT-Abteilung verbessern und so eine gute Behandlung der Patienten ermöglichen. Für das Projekt schuf man die neue Position des Chief Medical Information Officer - eine Aufgabe für einen allseits anerkannten und zukunftsorientierten Arzt. Er sollte von Anfang an mit allen Beteiligten zusammenarbeiten, sie vom Projekt überzeugen und dadurch einen reibungslosen Übergang garantieren.
Digitale Strategien fehlen noch
Derzeit wären viele Unternehmen gut beraten, ähnlich vorzugehen, wenn sie den digitalen Wandel bewältigen wollen. Firmenchefs diskutieren zwar Strategien zu Themen wie Mobile, Social Media, Cloud oder Big Data, doch bis zu den Ursachen dieser Veränderungen dringen sie nicht vor. Dabei benötigen Unternehmen jetzt dringend Strategien, um sich auf die digitale Veränderung der Welt einzustellen - mit der Konsequenz, dass sich auch die Rolle der Chefs verändert. Die Rede ist vom "digitalen Leader". Und Digital Leadership erfordert ein neues Denken.
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Gebraucht wird der digitale Leader
Wir haben fünf wichtige Fähigkeiten herausgearbeitet, die einen digitalen Leader auszeichnen. Selbst wenn sie auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen: Sie sind in Zeiten des digitalen Wandels erfolgsentscheidend. Was aber bedeutet zunächst dieser Wandel für Unternehmen?
Richtig ist, dass im vergangenen Jahrzehnt die "digitale Dichte" stark zugenommen hat. Als digitale Dichte definieren wir die Gesamtzahl aller Menschen, Dinge und Prozesse (mit einer ständigen Verbindung zum Internet) in Bezug auf eine soziale Einheit - etwa eine Organisation, ein Land oder gar die Welt. Nicht nur die Zahl der Interaktionen hat zugenommen, sondern auch deren Komplexität und Vielfalt. Sie reichen vom einfachen Austausch (Fotos verschicken, Statusmeldungen posten) bis zu aufwendigen Dienstleistungen. Wir erleben mit Big Data eine regelrechte Explosion von Informationen, die gesucht, gelagert, analysiert, übertragen und manipuliert werden können.
- Big Data: Neue Berufsbilder
In den teilweise euphorischen Einschätzungen von Markforschern und IT-Unternehmen ist immer wieder die Rede von neuen Berufsbildern, die Big Data mit sich bringen soll. Dazu zählen unter anderem folgende Tätigkeiten: - Data Scientist
Er legt fest, welche Analyseformen sich am besten dazu eignen, um die gewünschten Erkenntnisse zu erzielen und welche Rohdaten dafür erforderlich sind. Solche Fachleute benötigen solide Kenntnisse in Bereichen wie Statistik und Mathematik. Hinzu kommen Fachkenntnisse über die Branche, in der ein Unternehmen beziehungsweise tätig ist und über IT-Technologien wie Datenbanken, Netzwerktechniken, Programmierung und Business Intelligence-Applikationen. Ebenso gefordert sind Verhandlungsgeschick und emotionale Kompetenz, wenn es um die Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen geht. - Data Artist oder Data Visualizer
Sie sind die "Künstler" unter den Big-Data-Experten. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Auswertungen so zu präsentieren, dass sie für Business-Verantwortliche verständlich sind. Die Fachleute setzen zu diesem Zweck Daten in Grafiken und Diagramme um. - Data Architect
Sie erstellen Datenmodelle und legen fest, wann welche Analyse-Tools Verwendung finden und welche Datenquellen genutzt werden sollen. Auch sie benötigen ein umfassendes Know-how auf Gebieten wie Datenbanken, Datenanalyse und Business Intelligence. - Daten-Ingenieur
Diese Aufgabe ist stark auf die IT-Infrastruktur ausgerichtet. Der Dateningenieur ist das Big-Data-Analysesystem zuständig, also die Hard- und Software sowie Netzwerkkomponenten, die für das Sammeln und Auswerten von Daten benötigt werden. Eine vergleichbare Funktion haben System- und Netzwerkverwalter im IT-Bereich. - Information Broker
Er kann mehrere Rollen spielen, etwa die eines Datenhändlers, der Kunden Informationen zur Verfügung stellt, oder die eines Inhouse-Experten, der Datenbestände von unterschiedlichen Quellen innerhalb und außerhalb des Unternehmens beschafft. Außerdem soll er Ideen entwickeln, wie sich diese Daten nutzbringend verwenden lassen. - Data Change Agents
Diese Fachleute haben eine eher "politische" Funktion. Sie sollen bestehende Prozesse im Unternehmen analysieren und anpassen, sodass sie mit Big-Data-Initiativen kompatibel sind. Nur dann lässt sich aus solchen Projekten der größtmögliche Nutzen ziehen. Wichtig sind daher ausgeprägte Kommunikationsfähigkeiten, Verständnis für Unternehmensprozesse sowie Kenntnisse im Bereich Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement (Six Sigma, ISO 9000).
Dadurch entsteht ein neues digitales Gefüge, das unsere Lebenswelt durchdringt und erweitert. Der Gutscheindienstleister Groupon Now beispielsweise erlaubt Händlern, Kunden in Echtzeit Rabatte zu gewähren, wenn sie ernsthaft an einem Produkt interessiert sind. Das Navigationssystem Waze bietet Verkehrshinweise in Echtzeit, um Verkehrsteilnehmern Staus zu ersparen. Die bislang klare Trennung zwischen Online und Offline löst sich auf. Und dies erfordert ein radikales Umdenken in Unternehmen.
Verbindende Strategien
Professor Joan Enric Ricart von der IESE Business School erläutert in seinem Aufsatz "Strategy in the 21. Century: Business Models in Action", warum Geschäftsmodelle im 21. Jahrhundert noch dynamischer werden müssen. Das sei "heute relevanter als zu jedem anderen Zeitpunkt unserer Wirtschaftsgeschichte". Dies belegen Beispiele aus der Praxis.
Mitte der 90er Jahre eröffnete das Internet neue Möglichkeiten, Kunden zu erreichen. Amazon entstand, um Zugang zu Büchern zu bieten, die nicht in Buchläden erhältlich waren. Erst später konkurrierte der Internet-Händler mit dem traditionellen Buchhandel. Amazon bot mehr Auswahl, war bequemer und sorgte dafür, dass Kunden durch Empfehlungsalgorithmen und Kundenrezensionen rascher die für sie geeigneten Produkte fanden. Schließlich digitalisierte das Unternehmen seine Bibliothek, lieferte den Lesern die Lektüre ohne Zeitverzögerung aufs E-Book Kindle und revolutionierte damit gleichzeitig das physische Leseerlebnis.
Bei Schuhen dagegen ist es noch immer praktikabler, sie im Laden anzuprobieren und zu kaufen. Allerdings: Dies könnte sich mit dem Aufkommen von Sensoren und Wearable-Technik ändern. Jetzt schon haben es traditionelle Schuhläden schwer. Grund dafür ist das sogenannte Showrooming: Kunden testen das Produkt im Laden, vergleichen anschließend die Preise im Internet und greifen zum billigsten Angebot. Früher galt das Ladengeschäft mit reichlich Publikumsverkehr als entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg einer Firma. Mit zunehmender digitaler Dichte ändert sich das dramatisch.
Geschäftsmodelle hinterfragen
Unternehmen sollten also ihre Geschäftsmodelle überdenken beziehungsweise weiterentwickeln und herausfinden, welcher Mehrwert für ihre Kunden attraktiv wäre und was diese dafür zu zahlen bereit wären. Manager müssen deswegen nicht gleich ihre bisherigen Strategien über Bord werfen, aber sie sollten sie digital ausdehnen und mit neuen Maßnahmen verbinden. Der Handelsriese Walmart reagierte zum Beispiel auf das Showrooming mit dem Versprechen, Produkte noch am selben Tag direkt nach Hause zu liefern.
Die Vorstellung, Kunden in die Produkt- und Dienstleistungsentwicklung einzubinden, schreckt viele Unternehmer noch ab. Im digitalen Zeitalter müssen sie sich aber darauf einstellen, dass Kunden dies erwarten. Die Verantwortlichen sollten also gezielt Input von außen einholen und ihn mit firmeninternen Werten und Know-how verknüpfen. Ein gelungenes Beispiel dafür ist die Connect+Develop-Plattform von Procter & Gamble. Dort kann jeder Kunde Vorschläge für neue Produkte unterbreiten. Heute stammt mehr als die Hälfte der Ideen für Produktneuheiten von den Kunden.
Weniger Kontrolle
Der digitale Wandel verändert auch die internen Strukturen von Unternehmen. Wenn sich jeder Mitarbeiter quasi überall mit IT seiner Wahl eindecken kann, lockert das Hierarchien auf, die seit der industriellen Revolution Bestandteil der Geschäftsmodelle vieler Firmen sind. Thomas Malone vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) erklärt dies sehr schön in seinem Buch "The Future of Work"sowie in einem Artikel der IESE Insight Business Review "The New Order of Business: Decentralization Is the New Center of Command". Nur wenn Firmen Regelungen durchsetzen und unkontrollierten Informationsaustausch verhindern können, haben Hierarchiestrukturen Bestand. Die Digitalisierung erschwert aber genau das. Den Kontrollverlust spüren die Firmen bereits deutlich: Beispielsweise wenn Arbeitnehmer eigene mobile Geräte oder digitale Plattformen wie Facebook oder Google Docs nutzen und sich dabei jeglicher Kontrolle des Arbeitgebers entziehen. Viele Firmen sind skeptisch und befürchten, dass dies hohe Risiken für die Wahrung des geistigen Eigentums und den Datenschutz mit sich bringt.
Je größer Firmen werden, desto schwieriger gestaltet sich die interne Abstimmung. Bislang unterhielten Unternehmen ein kostspieliges Koodinationssystem: Informationen wurden an einem zentralen "Kommandostützpunkt" gesammelt und dann über die verschiedenen Hierarchien umgesetzt. Die digitale Dichte erlaubt es uns heute, viel flexibler zu agieren. Cisco Systems beispielsweise setzt gezielt Social-Web-Applikationen und ein "intelligentes Netzwerk" ein. Die Mitarbeiter können sich unkompliziert vernetzen, um neue Ideen zu entwickeln und umzusetzen - und das in der Geschwindigkeit und Flexibilität eines kleinen Startups.
Die Chance der kleinen Firmen
Auch kleine und mittelständische Betriebe profitieren von der digitalen Transformation. Die Unternehmensberatung Rief Media beschäftigt zwar nur 14 Mitarbeiter, kooperiert aber über die Plattform oDesk weltweit mit vielen Freiberuflern. Ähnlich agiert das Unternehmen LiveOps. Es stellt seinen Kunden länderübergreifend einen Service mit digital erreichbaren Kundendienstmitarbeitern zur Verfügung. In beiden Fällen liefern die Firmen ihren Kunden Lösungen, die flächendeckend, kostengünstiger und flexibler sind als die traditioneller, größerer Mitbewerber.
Damit Unternehmen diesen Wandel bewältigen können, benötigen Führungskräfte bestimmte Fähigkeiten. Obendrein müssen sie sich mit scheinbar widersprüchlichen Ansätzen vertraut machen. Wir stellen fünf davon vor.