Mitarbeiterloyalität als Wettbewerbsfaktor

Personal ist Kapital - aber nur in der Theorie

28.04.2000
FRANKFURT/M. (ag) - In Zeiten der Personalnot werden Rekrutierung und Bindung von Mitarbeitern zu Wettbewerbsfaktoren. Viele Unternehmen bekennen sich zumindest in der Theorie zum Humankapital, haben aber in der Praxis Schwierigkeiten, die Potenziale der Mitarbeiter auszuschöpfen.

"Solange noch Stellen ausgeschrieben werden, spielen Menschen in Unternehmen keine Rolle. Wir behandeln hochqualifizierte Kräfte wie Kleinkinder oder Kriminelle." Für Jürgen Fuchs, Mitglied der Geschäftsleitung des IT-Dienstleisters CSC Ploenzke und Vordenker in Sachen Personal, ist die "Stelle" ein Relikt des Taylorismus - Vehikel, um die Tätigkeiten für angelernte und ungelernte Arbeiter in der Fabrik zu beschreiben. In seinen Augen ist es höchste Zeit, den Mitarbeitern mehr Freiraum zu gewähren. Wenn ihnen weiterhin die Verantwortung abgenommen werde, bleibe die allseits beliebte Forderung nach "Unternehmern im Unternehmen" reines Lippenbekenntnis. "Warum muss ein Mitarbeiter, der privat ein Auto für 40000 Mark kauft oder sich im Fußballverein als Vorstand engagiert, in der Firma fünf Genehmigungen für die Bahnfahrt zweiter Klasse einholen?" fragte Fuchs die Teilnehmer des von Management Circle veranstalteten Kongress "Human Capital World". "Wir müssen die Nach-17-Uhr-Kompetenz unserer Mitarbeiter ernst nehmen und ins Unternehmen holen."

Vor diesem Hintergrund definierte Fuchs die Führungskräfte als Vermögensberater, deren wichtigste Aufgabe darin bestehe, das Potenzial der Mitarbeiter zu erkennen und weiterzuentwickeln. Dass manche Mitarbeiter überhaupt kein Potenzial hätten, hat der CSC-Ploenzke-Mann bisher noch nicht erlebt. Allerdings müsse in manchen Fällen Aufbauarbeit geleistet werden. In seinem Unternehmen ist es durchaus üblich, dass Berater vier Monate auf Schulung gehen, in dieser Zeit aber auf 20 Prozent ihres Gehalts verzichten.

Als Chefsache betrachtet auch Michael Kern, Chief Executive Officer (CEO) von Europcar International, Paris, die Bindung und Rekrutierung von hochqualifizierten Mitarbeitern. Er ist sich des "dramatischen Wettbewerbs" um den Führungsnachwuchs bewusst und gab auf der Konferenz zu, dass sein Unternehmen nur noch auf Zugänge aus der zweiten Riege hoffen kann: "Die Entrepreneur-Typen gründen heute gleich ihr eigenes Internet-Startup."

Die Anstrengungen von Unternehmen, mit immer aufwendigeren Rekrutierungsveranstaltungen die Bewerber anzulocken, sieht Kern nicht nur positiv: "Es besteht die Gefahr, dass sich Firmen anders darstellen, als sie wirklich sind. Man vergisst, dass gerade unter den sogenannten High Potentials ein für Firmen nicht durchschaubares Netzwerk existiert. Nichts verbreitet sich schneller als eine schlechte Erfahrung, die ein Bewerber gemacht hat."

Ein weiterer Knackpunkt ist für Kern das Thema Aufstiegschancen. So hat er die Erfahrung gemacht, dass das Prinzip der flachen Hierarchien beim hoch qualifizierten Nachwuchs nicht immer auf positive Resonanz stößt.

Die Arbeit in wechselnden Projekten schätzen Mitarbeiter zwar einerseits, weil sie ihr Wissen erweitern können und der Einsatz in unterschiedlichen Bereichen Abwechslung bringt. Andererseits gibt es durchaus Mitarbeiter, die Wert auf einen Titel legen. Kern bringt dafür Verständnis auf: "Erklären Sie mal in Ihrem Bekanntenkreis oder gar einem Headhunter, dass sie mittlerweile das 35. Projekt machen, aber immer noch die gleiche Position im Unternehmen haben."

Da die Bedürfnisse der Mitarbeiter so unterschiedlich sind, verzichtet der Autovermieter bei den High Potentials auf Standardprofile. Schon in Bewerbungsgesprächen wird ein individuelles Profil erstellt und die wesentlichen Entscheidungskriterien des Bewerbers geprüft: Legt er mehr Wert auf Sicherheit oder ist ihm Abwechslung wichtig? Will er in erster Linie mehr verdienen, oder braucht er einen gewissen Status? Je nach Schwerpunkten des Bewerbers fällt dann der Arbeitsvertrag aus. Allerdings müsse das Unternehmen sich auch darauf einstellen, dass sich die Bedürfnisse der Mitarbeiter ändern können. Dementsprechend anpassungsfähig müssten auch die Verträge gestaltet sein.

Materielle Anreize sind in der Regel nicht der ausschlaggebende Grund, warum Mitarbeiter bei einem Unternehmen bleiben. Christian Brauner, Mitgeschäftsführer der CSC Ploenzke Akademie, Kiedrich, warnte vor dem Trugschluss, dass sich Mitarbeiterbindung erkaufen lasse: "Wenn ein Unternehmen nur auf die gute Bezahlung setzt, um Mitarbeiter zu halten, kann aus einer ursprünglich intrinsischen Motivation eine extrinsische werden. Ein sehr hohes Gehalt wird schnell als Schmerzensgeld wahrgenommen, wenn die Aufgaben und die Unternehmenskultur nicht stimmen." Vor allem bei Letzterer setzt Brauner an: Fitnessprogramme oder Veranstaltungen für die Mitarbeiter und deren Familien kämen zwar gut an, würden die Unternehmenskultur aber nicht prägen. Wichtiger sei es, dass eine Lern- und Ergebniskultur gelebt würde. Die Mitarbeiter müssten dafür belohnt werden, wenn sie ihr Wissen an andere weitergeben und wenn sie zu einem Ergebnis kommen. "Wenn dagegen das Absitzen von Zeit belohnt wird, wirkt sich das verheerend auf die Motivierten aus", sagt Brauner.

Dass sich auch börsennotierte Unternehmen nicht ausschließlich auf materielle Anreize, sprich Aktienoptionen als Bindungsinstrument verlassen können, zeigte das Beispiel der Brokat Infosystems AG und der Intershop AG. "Wenn viele unserer Mitarbeiter im kommenden Herbst zum ersten Mal ihre Optionsrechte ausüben dürfen und 200 000 Mark Gewinn einfahren können, braucht man nicht mehr mit einer Gehaltserhöhung von 1000 Mark im Monat zu kommen. Die Leute wollen dann vielleicht eine Weltreise machen oder ein eigenes Unternehmen gründen." Marion Dedora will darum mit allen betroffenen Mitarbeitern "intensive Gespräche" führen, um ihre neuen Bedürfnisse auszuloten.

Für die Brokat-Frau ist es auch entscheidend, die Mitarbeiter nicht nur finanziell am Unternehmen zu beteiligen. "Wer Aktienoptionen hat, mischt sich ein und stellt viele Fragen." Dabei genüge es nicht, die Mitarbeiter auf die nächste Hauptversammlung zu vertrösten. Vielmehr müssten börsennotierte Unternehmen eine Art interne Investor Relations betreiben und ihre Strategie offen legen. Bei Intershop hängt diese klar formuliert in jedem Büro. "Wir müssen unseren Mitarbeitern immer wieder vor Augen halten, warum und wofür sie 16 Stunden am Tag arbeiten", sagt Intershop-Finanzvorstand und Mitgründer Wilfried Beeck. Die Loyalität der Mitarbeiter betrachtet er als Wettbewerbsfaktor, da nur so der Aufbau von langfristigen Kundenbeziehungen, eine Kontinuität im Produkt-Support und eine konsistente Marktansprache gelingen.

Vor allem in den USA musste der Hersteller von E-Commerce-Software die Erfahrung machen, dass selbst großzügig geschnürte Aktienoptionspakete nicht alle Mitarbeiter binden. Während bei Intershop in Hamburg und Jena die Fluktuationsrate mit zwei Prozent unter dem Durchschnitt liegt, beträgt sie an der amerikanischen Westküste 30 Prozent. "Im Silicon Valley herrscht ein gnadenloser Wettbewerb. Darum verlagern wir unsere Aktivitäten stärker an die Ostküste, wo die Fluktuation mit 15 Prozent deutlich niedriger ist", schildert Beeck.