Osteuropa: IT-Werkbank für Mittelständler

24.07.2006
Die neuen EU-Länder eignen sich vor allem für das Auslagern komplexer Prozesse. Staaten wie Weißrussland und Ukraine sind für das Geschäftsprozess-Outsourcing dagegen noch nicht reif.
Vor allem in den neuen EU-Ländern sind die Löhne gestiegen. So kostet ein Ingenieur in Tschechien heute 5,4 Dollar pro Stunde, in Indien nur 2,4 Dollar. Rumänien und Bulgarien gelten dagegen mit 2,6 beziehungsweise 1,4 Dollar noch als Niedriglohnländer.
Vor allem in den neuen EU-Ländern sind die Löhne gestiegen. So kostet ein Ingenieur in Tschechien heute 5,4 Dollar pro Stunde, in Indien nur 2,4 Dollar. Rumänien und Bulgarien gelten dagegen mit 2,6 beziehungsweise 1,4 Dollar noch als Niedriglohnländer.

Offshoring beschränkt sich längst nicht mehr auf einfache Programmieraufgaben und Call-Center. Auch komplexe und anspruchsvolle Prozesse wie Rechtsberatung werden zunehmend ins Ausland ausgelagert. General Electric (GE), die Citigroup, Oracle und Cisco beispielsweise beziehen Zeit juristische Dienstleistungen aus Indien. Den Marktforschern von Forrester zufolge werden bis 2010 fast 39000 Arbeitsplätze im Rahmen des Legal Process Outsourcing (LPO) an Offshore-Standorte verlegt werden. Auch die Auswertung von Wirtschaftsdaten eignet sich für Offshoring. McKinsey etwa beschäftigt 100 Mitarbeiter im indischen Madras, die die Berater mit Auswertungen und Präsentationen unterstützen.

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Auch IT-Offshoring legt zu

Nicht nur beim Business Process Outsourcing, auch beim Auslagern von IT-Funktionen ins Ausland hinkt Westeuropa den USA noch hinterher: Laut IDC werden in diesem Jahr weltweit gut 14 Milliarden Dollar in IT-Offshoring investiert. Davon entfallen elf Milliarden Dollar auf die USA und 2,5 Milliarden Dollar auf Westeuropa. In den kommenden Jahren sollen die dortigen Ausgaben aber stark zulegen - um durchschnittlich 16,5 Prozent pro Jahr bis 2009 (USA: 14,4 Prozent). Auch für Westeuropa ist Indien mit Abstand der größte Lieferant von IT-Services.

Nearshoring in Osteuropa

-- Geografische Nähe zu Westeuropa;

- kulturelle Nähe;

- Sprachkenntnisse (Deutsch und Englisch, in Rumänien Französisch);

- hohes Ausbildungsniveau;

- niedrigere Löhne als in Westeuropa;

- politisch stabil (außer Weißrussland);

- hohe institutionelle Qualität (Rechtstaatlichkeit, wenig Bürokratie).

- Zum Teil wesentlich höhere Löhne als in Indien oder China;

- Mangel an IT-Spezialisten.

Allerdings wird Offshoring bislang vorrangig von US-amerikanischen Firmen praktiziert. Egal ob IT-Outsourcing oder BPO (Business Process Outsourcing) - mit Ausnahme von Großbritannien haben viele Unternehmen in Kontinentaleuropa Bedenken, IT-Funktionen und Geschäftsprozesse in großen Stil in Niedriglohnländer zu verlagern. Um den Anschluss nicht zu verlieren, bietet sich für diese Firmen die Nearshoring-Alternative, also das Outsourcing in nahe gelegene Regionen, an. Für westeuropäische Firmen stellen vor allem die Länder in Mittel- und Osteuropa (MOE) aufgrund ihrer geografischen, sprachlichen und kulturellen Nähe ein vergleichsweise geringes Risiko dar.

Osteuropa ist teurer als Indien

Einer Studie von Deutsche Bank Research zufolge lässt sich das Erfolgsmodell von Indien, dem Offshore-Land par excellence, jedoch nicht eins zu eins auf die MOE-Länder übertragen. Das liegt unter anderem daran, dass die Löhne in den vergangenen Jahren zum Teil erheblich ge- stiegen sind (siehe Grafik "Arbeitskosten im Verhältnis zu Deutschland"). Insgesamt ist Arbeit in Mittel- und Osteuropa zwar nach wie vor deutlich bil- liger als Deutschland. In den neuen EU-Staaten betragen die durchschnittlichen Lohnkosten bei nichtöffentlichen Dienst- leistungen gut ein Fünftel der hiesigen Ausgaben. Abgesehen von Rumänien und Bulgarien, wo die Arbeitskosten bei weniger als einem Zehntel des deutschen Durchschnittswerts liegen, sind China und Indien aber günstiger.

Wenig IT-Spezialisten

Zudem verfügt Mittel- und Osteuropa über ein geringes Angebot an IT-Spezialisten. Generell ist das Bildungsniveau zwar relativ hoch. In den neuen EU-Ländern machen im Schnitt sogar mehr Abiturienten einen Hochschulabschluss als in den alten. Allerdings erfüllen nicht alle Universitäten die in Westeuropa oder USA üblichen Standards, auch praktische Erfahrungen fehlten häufig.

So eignen sich laut einer Studie von McKinsey nur knapp die Hälfte der Ingenieure, Physik-, Mathematik- und Statistikabsolventen in Tschechien, Ungarn oder Polen für einen qualifizierten Job bei einem internationalen IT-Dienstleister. In den Industrieländern sind es 80 Prozent. Dadurch relativiert sich die Zahl der tatsächlich verfügbaren Arbeitskräfte. In Indien und China wird zwar ein noch kleinerer Prozentsatz diesen Anforderungen gerecht. Angesichts der hohen Bevölkerungsdichte liegt die absolute Zahl der IT-Spezialisten jedoch deutlich höher.

Zudem scheinen die Studenten in den MOE-Ländern seit dem Abflauen des Internet-Booms das Interesse an technischen Fachrichtungen verloren zu haben. Einer Erhebung von Eurostat zufolge studierten in den alten EU-Mitgliedsstaaten 2003 fast zwölf Prozent aller Absolventen Naturwissenschaften, Mathematik oder Informatik. In den neuen EU-Ländern waren es nur sechs Prozent, in Rumänien und Bulgarien sogar noch weniger. Zum Vergleich: In Indien entfielen im Studienjahr 2003/04 allein auf das Fach Informatik 5,7 Prozent der Absolventen. Damit standen dem Arbeitsmarkt auf einen Schlag 141000 neue IT-Spezialisten zur Verfügung.

Geografische und kulturelle Nähe

Trotzdem bietet das Nearshoring in Mittel- und Osteuropa nach Ansicht der Marktforscher der Deutschen Bank handfeste Vorteile. Von der geografischen und kulturellen Nähe profitierten vor allem Unternehmen, die noch keine Erfahrungen mit dem Auslagern ins Ausland gemacht haben und speziell der Mittelstand: Angesichts kleinerer Auftragsvolumina und einem geringeren Grad an Standardisierung ist Offshoring für kleinere Firmen meist keine Option, weil die Investitionen in die Auswahl und Kontrolle des Partners in einem Land wie Indien die Einsparpotenziale schnell übersteigen. In Nearshore-Regionen sind die Rüstkosten dagegen vergleichsweise gering.

Gut aufgestellt sind MOE-Länder zudem im Hinblick auf makroökonomische und institutionelle Faktoren wie politisches Risiko, Bürokratie oder Rechtsstaatlichkeit. So sind die Kosten, um einen Zahlungsanspruch im Falle eines Streits gerichtlich durchzusetzen, in ärmeren Ländern besonders hoch: In Indien können sie mehr als 40 Prozent der ausstehenden Summe ausmachen, in China und Russland sind es im Schnitt jeweils 20 Prozent. In Rumänien und Bulgarien liegen die Kosten der Vertragsdurchsetzung dagegen nur bei 15 Prozent, in Ungarn und Tschechien sogar bei unter zehn Prozent und damit niedriger als in Deutschland.

Kommunikation klappt besser

Zum einen funktioniert die Kommunikation mit mittel- und osteuropäischen Partner wegen der guten Sprachkenntnisse, aber auch mentalitätsbedingt in der Regel besser als etwa mit indischen Offshorern. So sind die Mitarbeiter in den MOE-Ländern selbstsändiges Arbeiten gewöhnt und müssen nicht ständig kontrolliert werden. Und bei neuen Aufträgen oder Veränderungen pflegen sie genau nachzufragen, um Missverständnissen vorzubeugen. "MOE bietet möglicherweise genau die Faktoren, die die kontinentaleuropäischen Firmen bislang vermisst haben - vor allem mit Blick auf Sprache und Kultur", fasst Michael Meyer, Autor der Studie, zusammen.

Vor allem bei anspruchsvolleren Prozessen, die kreativen Input erfordern, ist eine gute Kommunikation erfolgsentscheidend. Nach Ansicht von Meyer werden sich in Mittel- und Osteuropa angesichts der mangelnden IT-Spezialisierung und der im Vergleich zu Indien oder China höheren Löhne daher weniger die Erbringung von klassischen IT-Dienstleistungen als vielmehr anspruchsvolle Entwicklungs- sowie BPO-Services etablieren. Ein Beispiel hierfür ist der Autozulieferer Continental, der an seinem rumänischen Standort für Forschung und Entwicklung rund 200 Mitarbeiter beschäftigt. Speziell bei komplexeren Back-Office-Prozessen seien Mitarbeiter mit einem hohen und breiten Bildungsniveau sowie eine reibungslose Kommunikation zwischen den Partnern gefragt - und genau hier hätten die MOE-Staaten ihre Stärken.

Steigende Nachfrage nach BPO

Welche BPO-Dienstleistungen westeuropäische Unternehmen künftig aus Mittel- und Osteuropa konkret beziehen werden, wird sich noch zeigen. Doch die Voraussetzungen in diesen Länder sind gut, und auf der Anwenderseite besteht viel Nachholbedarf: Laut IDC wird das westeuropäische BPO-Volumen bis 2009 auf 35 Milliarden Dollar ansteigen. Damit wäre es fast so groß wie das prognostizierte IT-Outsourcing-Volumen in dieser Region.