OSF: Microsoft verschweigt die Wahrheit ueber NT

15.07.1994

CW: Die OSF hat zwar durch die Einigung der Unix-Szene eine neue Chance bekommen aber die Zweifel sind gross, ob sie genutzt werden kann. So heisst es, die Organisation habe sich beim Distributed Computing Environment (DME), uebernommen.

Gourd: Die Schuld liegt nicht bei uns. Was koennen denn wir dafuer, wenn die Hersteller DME schon ankuendigen, bevor wir eine Zeile Code entwickelt haben?

CW: Weshalb haben so viele Mitglieder dem OSF/1-Unix zumindest oeffentlich den Ruecken gekehrt?

Gourd: Das verstehe ich auch nicht. Fast alle Sponsorunternehmen zahlen Lizenzen an uns. Zum Beispiel die IBM. Workplace OS laeuft mit dem OSF/1-Microkernel und mit der OSF/1-Personality. Ich habe das selbst gesehen. Aber vermarktet wird lediglich die OS/2- Personality. Ich begreife das nicht. Aber was soll's - die Unix- Kriege sind vorbei. Wir haben das Betriebssystem-Niveau laengst verlassen und sind heute eine Middleware-Company. Ausserdem wollen wir uns um den Desktop kuemmern. Die grafische Benutzer- Schnittstelle CDE ist hier ein erster Schritt.

CW: Dieses Common Desktop Environment ist auschliesslich fuer Unix- Umgebungen vorgesehen. Glauben Sie nach den Misserfolgen von Novell mit Unixware und von Sun mit Interactive und Solaris Intel immer noch, dass man mit Unix den Desktop erobern kann?

Gourd: Warum nicht? Ich benutze OSF/1 seit zwei Jahren auf einem Macintosh-Rechner.

CW: Ich meine nicht die technische, sondern die kommerzielle Moeglichkeit.

Gourd: Deshalb konzentrieren wir uns vor allem auf die Middleware. Betriebssysteme sind nicht mehr sonderlich interessant. Als ich einem Freund erzaehlte, dass OSF/1 jetzt den Spec 1170 erfuellt, meinte er: "Interessant, nur leider zehn Jahre zu spaet."

CW: Was halten Sie davon, dass IBM MVS und OS/400 mit den Spec- 1170-Spezifikationen immer Unix-aehnlicher machen will?

Gourd: Wenn die IBM ueberall Spec 1170 unterstuetzt, ist es einfacher, Anwendungen von einer Plattform auf eine andere zu portieren.

CW: Will die IBM tatsaechlich Unix-Anwendungen auf MVS-Systeme bringen?

Gourd: Warum nicht? Zumindest laesst sich dieser Ansatz gut vermarkten.

CW: Die alte OSF hat sich immer um Microsoft bemueht. Es heisst, Microsoft arbeite nicht konstruktiv mit, sondern hole sich nur Ideen fuer proprietaere Produkte wie den DCE-Nachbau.

Gourd: Ich kenne diese Aussagen. Als sich Bill Gates entschieden hat, DCE selbst zu entwickeln, haben wir ihn fuer verrueckt gehalten. Die Microsoft-Programmierer haben dabei sicher viel gelernt, aber ich bezweifle, dass sie es allein geschafft haben. Sie wissen ja, dass Microsoft Partner hat, die DCE bereits lizenziert haben.

CW: DEC?

Gourd: Ich habe den Namen nicht genannt. Was Microsoft betrifft, so gibt es dort eine starke Abneigung dagegen, Techniken einzukaufen, weil sie dann nicht kontrolliert werden koennen. Bei allen proprietaeren Bestrebungen wird Microsoft aber nie von den industrieweit anerkannten technischen Spezifikationen abweichen. Sonst stehen sie ploetzlich im Abseits.

CW: Was halten Sie von Windows NT? Angeblich hat das Betriebssystem entgegen den Microsoft-Behauptungen keine sauber voneinander isolierten Abstraction Layer, geschweige denn einen Microkernel.

Gourd: Ich war einmal bei DEC der Chef von Dave Cuttler, als er VMS entwickelt hat, und unterhalte mich auch heute noch oft mit ihm. Lassen Sie es mich so ausdruecken: NT ist strukturierter als ein monolithisches Betriebssystem, aber einen sauber abgetrennten Microkernel hat es nicht. Vor allem das Modell fuer die Geraetetreiber ist eng mit dem Kernel verbunden. Aber das macht nichts, schliesslich ist das Betriebssystem nicht besonders erfolgreich.

CW: Aber das bedeutet doch, dass Microsoft mit der Wartung seines Systems in zwei, drei Jahren riesige Probleme bekommen wird

Gourd: Das ist gut moeglich. Aber auch monolithische Betriebssysteme koennen lange funktionieren. Unix ist das beste Beispiel.

Roger Gourd ist derzeit Vice-President Staff und wird am 1. Januar 1995 im Rahmen der im wesentlichen vollzogenen Umstrukturierung Chef der OSF Technology Group. Das Gespraech, das kommende Woche auf den Software-Seiten fortgesetzt wird, fuehrte CW-Redakteur Hermann Gfaller.