Anwender: "Damit ist das Betriebssystem unten"

OS/2: IBM greift mit Java nach rettendem Strohhalm

04.10.1996

"Wir werden Microsoft nicht mehr hinterherlaufen", zog IBM- Chefberater Herbert Kahl einen Schlußstrich unter die Unterstützung von Windows 95 und NT durch OS/2. Bislang führte das Betriebssystem Windows-Programme (Win16, Win32s, Win32c) auf Basis von Binärkompatibilität aus. Nun ersetzt ein Satz von Programmierschnittstellen ("Open 32") dieses Verfahren für eine 32-Bit-Software. Es bleibt jetzt den Entwicklern überlassen, ihre Windows-Applikation für OS/2 zu kompilieren

Big Blue wird in Zukunft keinerlei Engagement mehr für den Binärsupport von Windows 95 und NT aufwenden. Nach wie vor wird OS/2 jedoch mit älteren Applikationen zurechtkommen, die auf Win32s, dem Subsystem von Win32, basieren. Dieses API wurde in Windows 3.x implementiert und garantierte, daß 32-Bit-Programme unter dem 16-Bit-Betriebssystem liefen.

Windows ade, willkommen Java - so ließe sich IBMs Kehrtwendung bei dem langjährigen Nischen-Betriebssystem beschreiben: "Wir wollen mit jemandem, der durch die permanente Änderung von APIs den Markt kontrolliert, kein Geschäft aufbauen", begründet Big Blues Deutschland-Geschäftsführer Richard Seibt die Abkehr von Microsoft.

Zudem sei man davon überzeugt, daß die Internet-Programmiersprache Java von Sun Microsystems in Zukunft zur Grundlage des PC- Geschäfts avancieren und "das Windows-API gleichzeitig an Bedeutung verlieren wird". Die IBM werde deshalb künftig sämtliche Investitionen in OS/2 auf Java ausrichten. "Man kann die IBM abschreiben, wenn es kein Network Computing und Java geben wird", betont der Topmanager einen seiner Ansicht nach radikalen Paradigmenwechsel in der IBM-Geschichte. Mit einem Aufwand von "mehreren hundert Millionen Dollar" habe IBM die Sun-Technologie genutzt, um dem bis dato knapp 15 Millionen Mal installierten Betriebssystem Auftrieb zu geben.

Mit der Java-Strategie will die IBM primär dem Mangel an OS/2- Applikationen abhelfen. Dieser, so die einhellige Meinung von Analysten und Anwendern gleichermaßen, war für das laue Interesse am 32-Bit-Betriebssystem maßgeblich verantwortlich. So soll der Java-Boom Entwickler überzeugen, endlich die langersehnten Anwendungen in Form von Applets zur Verfügung zu stellen. Hierbei hilft, daß OS/2 Warp 4 mit einer Ablaufumgebung für Java-Applets ausgeliefert wird. Damit läuft jedes Java-Applet, das irgendwo auf der Welt entsteht, automatisch unter Merlin. Neben der Internet- Programmiersprache Java unterstützt das knapp 440 Mark teure Release die Dokumentenarchitektur Opendoc (vgl. CW Nr. 28 vom 12. Juli 1996, Seite 13: "IBM spart bei OS/2 Merlin mit technischen Neuerungen").

Offenbar haben die Anwender noch Schwierigkeiten, den Kurswechsel nachzuvollziehen. "Damit ist OS/2 unten", so die private Meinung von Erhard Weiß, zuständig für SAP-Themen bei der Computerland GmbH, Bielefeld, einem Mittelstandssystemhaus der Walldorfer. IBMs Richtungswechsel bedeute, daß sich Benutzer in Zukunft entweder für Windows oder OS/2 entscheiden müßten. Denn mit dem Beschluß, künftig die Windows-Kompatibilität einzuschränken, ziehe sich Big Blue nicht nur aus dem Windows-95-, sondern gleichzeitig auch aus dem NT-Umfeld zurück.

Alle "Hoffnungen begraben" hat auch Roland Stelling, zuständig für Telekommunikation, Netze und PCs beim Musikhersteller EMI Electrola GmbH aus Köln. "Es werden in Zukunft keine größeren OS/2-Investitionen mehr getätigt", so der DV-Experte, dessen Brötchengeber das IBM-Betriebssystem seit 1992 im Einsatz hat. Nachdem selbst Lotus seine Hauptprodukte immer noch nicht zur Verfügung gestellt hat, befürchtet Stelling nun die Fortdauer des Mangels an OS/2-Programmen. Offenbar mag der Anwender an eine Überschwemmung des Marktes mit Java-Applets nicht so recht glauben.

OS/2 Warp 4: Neues und Altes

Die IBM hat ihr neues Desktop-Betriebssystem OS/2 Warp 4 freigegeben. Von den Wünschen, die die Betaversion noch offen ließ, (vgl. CW Nr. 28 vom 12. Juli 1996, Seite 13: "IBM spart bei OS/2 Merlin mit technischen Neuerungen") wurden nur wenige erfüllt. So fehlt nach wie vor eine einheitliche Konfigurationsdatenbank, die Config.sys und ähnliches ersetzen soll. Ebenso ist ein Abfangen der Warmstart-Kombination Strg-Alt- Entf und das Speichern einer benutzerabhängigen Arbeitsoberfläche als Profil am Server nicht möglich. Ferner fehlt es noch an einem Papierkorb mit Wiederherstellfunktion für gelöschte Dateien und der Client-Variante an einem Backup-Programm für Bandlaufwerke. Ebenso wenig hat sich die IBM um ein Dateisystem, das Laufwerksbuchstaben beseitigt oder eine Zugriffsmöglichkeit von DOS-Programmen auf Dateien mit langen Namen gekümmert. Nahezu sämtliche dieser Funktionen können laut Hersteller jedoch mit Share- oder Freeware-Tools eingerichtet werden. Anders als in der Interimsversion enthält das neue Release jedoch Plug-and- play- Support, die Möglichkeit für ein lokales Logon sowie Funktionen für den Einsatz von ISDN.