Gewerkschaften tun sich schwer mit der New Economy

Optionen statt Betriebsrat heißt die Devise

06.10.2000
Die Profis der Internet-Welt haben mit Arbeitnehmerorganisationen wenig im Sinn. Doch Kurseinbrüche und erste Pleiten von Dotcoms belegen, dass auch in der New Economy nicht alles Gold ist, was glänzt. Die Gewerkschaften wittern ihre Chance. Von Ina Hönicke*

Vor der Zentrale des aus Bell Atlantic Corp. und GTE Corp. neu geschaffenen Fusionkonzerns Verizon standen zwei Wochen lang die Vertreter der Gewerkschaft der Telekommunikationsarbeiter und demonstrierten. Obwohl von den Chronisten der New Economy schon längst abgeschrieben, hatten sie es geschafft, dass mehr als 87000 Verizon-Angestellte ihre Arbeit niederlegten. Dabei ging es nicht einmal um anstehende Massenentlassungen oder Kurzarbeit.

Die Gewerkschaften kämpften gegen unangenehme Überstundenregelungen, die Anstellung nichtorganisierter Arbeitskräfte im Internet-Bereich und für eine Arbeitnehmervertretung bei Verizon Wireless. Die Hoffnung der Streikenden: Wenn es eine Gewerkschaft bei den Mobilfunknutzern des Konzerns gibt, müssen andere Unternehmen nachziehen.

In den US-Medien hat der Verizon-Streik große Publizität erlangt. Nicht nur Gewerkschaftsvertreter waren überzeugt, dass in diesem Konflikt die Weichen für die Zukunft der amerikanischen Arbeitnehmerorganisationen gestellt würden. Inzwischen sind die Streikenden an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt, viele ihrer Forderungen sind erfüllt worden. So erhalten die Verizon-Beschäftigten in den kommenden fünf Jahren je 3,5 Prozent mehr Lohn pro Jahr. Darüber hinaus gab es eine Einigung über Fragen der Arbeitsplatzsicherung und des gewerkschaftlichen Organisationsrechts. In den USA wartet man nun gespannt darauf, ob andere Telefongesellschaften mit einer großen Mobilfunksparte dem Beispiel des Marktführers folgen werden.

Während die US-Gewerkschaften den Streikausgang als Durchbruch bei den New-Economy-Firmen feiern, halten sich die Arbeitnehmerorganisationen hierzulande eher zurück.

Weder Vertreter der Deutschen Postgewerkschaft noch der IG Metall glauben, dass der Verizon-Streik sich auf die deutschen Verhältnisse auswirken wird. Siegfried Balduin, Vorstandsmitglied der IG Metall in Frankfurt am Main, meint dazu: "Die Situation in den USA ist nicht vergleichbar zu Deutschland. Sowohl bei der Deutschen Telekom als auch bei den Töchterunternehmen sind Tarifverträge gang und gäbe."

Viel schwieriger dagegen sehe die Lage bei den Mitbewerbern der Telekom aus. Die Mobilfunkunternehmen seien nicht gerade als gewerkschaftsfreundlich einzustufen. Dementsprechend schwer sei es, dort einen Fuß in die Tür zu bekommen.

Die Arbeitnehmervertreter indes sind Kummer gewöhnt. Schließlich konnten sie in den vergangenen Jahren in der IT-Welt noch nie einen Blumentopf gewinnen. Lediglich jeder fünfte Computerprofi ist Mitglied in einer Arbeitnehmervertretung. Dass der Organisationsgrad überhaupt 20 Prozent beträgt, haben die Gewerkschaften vor allem dem Umstand zu verdanken, dass sie in Hardwarefirmen wie IBM, Siemens oder Hewlett-Packard verhältnismäßig gut vertreten sind. In der Softwarebranche sieht die Situation desolater aus. Dort gehören nur drei bis vier Prozent einer Arbeitnehmervertretung an. Hochbezahlte, junge Softwerker scheren sich nicht im geringsten um eine Interessenvertretung, wie sie von Betriebsräten angeboten wird.

Dazu kommt, dass die Gewerkschaftsvertreter - zumindest was die Vergangenheit betrifft - gewisse Berühungsängste gegenüber dem Hightech-Milieu nicht leugnen können. Michael Richter, bei der Beans Industry Software GmbH in Starnberg im Bereich Strategische Planung tätig, bringt die Haltung der Softwerker auf den Punkt: "Sie sehen schlichtweg keinen Handlungsbedarf für einen Betriebsrat. Schließlich sind hochqualifizierte Leute so begehrt, dass sie bei auftretenden Problemen jederzeit wechseln können." Richter weiß, wovon er spricht. Headhunter gehören schließlich bei der Beans Industry zu den hartnäckigsten Anrufern. Nach seiner Erfahrung setzt sich eine Berufsgruppe, die so gefragt ist, nicht mit Themen wie Arbeitsplatzsicherheit, Arbeitszeitregelungen oder tariflicher Gehaltserhöhung auseinander. Das Wort Solidarität sei ebenfalls ein Fremdwort für Softwareprofis. Sie seien überzeugt, alle Probleme alleine regeln zu können.

Noch schwerer tun sich die Gewerkschaften in der New Economy. Hier schwankt die Stimmung zwischen totalem Desinteresse und vollkommener Ablehnung. Die "Yetties" (young, entrepreneurial, tech-based) sitzen bis spät in die Abendstunden am Bildschirm - und haben Spaß dabei. IG-Metaller Balduin räumt ein, dass Arbeitnehmervertretungen hier keine allzu großen Chancen haben: "Der Großteil der hochqualifizierten Internet-Fachleute sehen uns nicht als ihren Repräsentanten an. Aber die Zeit arbeitet für uns." Seiner Meinung nach wird die Startup-Euphorie nicht mehr von langer Dauer sein.

Sollten sich daraufhin die Arbeitsbedingungen verschlechtern, würde sich auch die Stimmung ändern. "Als Schutz gegen die Risiken des Arbeitslebens bieten sich nun einmal die Arbeitnehmerorganisationen an", so Balduin. Der IG-Metaller erkennt bei den jungen Firmen schon jetzt einen wunden Punkt: die Weiterbildung. Genau wie die Softwareexperten seien auch viele Dotcom-Beschäftigte mit den beruflichen Fortbildungsmöglichkeiten unzufrieden.

Schließlich sei ihnen bewusst, dass angesichts der geringen Halbwertszeit des IT-Know-hows die permanente Qualifizierung für ihr berufliches Weiterkommen entscheidend ist. Der Gewerkschaftsvertreter: "Wenn wir die Beschäftigten der New Economy für uns gewinnen wollen, müssen wir uns stärker als Berater und Dienstleister darstellen. Dazu gehört auch ein individuelles Angebot für jeden Einzelnen." Um solche Dienstleistungen liefern zu können, werden Leute mit IT-Erfahrung benötigt. Für Balduin kein Problem: "Davon gibt es bei der IG Metall zum Glück genug."

Die Arbeitnehmerorganisation versucht sich nach und nach zum Dienstleister der Arbeitswelt, zum ADAC der Arbeitnehmer zu entwickeln. Das Dilemma ist nur, dass diejenigen, die es angeht, nichts davon wissen wollen. Auf die Frage, ob in ihrem Haus ein Betriebsrat installiert sei, reagieren die Vorzeigeunternehmen der New Economy mit Unverständis. Egal ob Pixelpark oder Icon Medialab - das Hohelied auf Motivation, Spaß und hervorragende Unternehmenskultur klingt immer gleich. Dass die meisten Internet-Firmen sich nicht darauf einlassen, die vielen Überstunden der Mitarbeiter zu vergüten, wird klaglos hingenommen - schließlich liefert der nächtliche Pizzadienst das Essen auf Firmenkosten -, und am nächsten Morgen warten das Frühstücksbuffet und manchmal sogar der Masseur.

Stefan Röver, Vorstandssprecher des Stuttgarter Softwareherstellers Brokat, macht sich um die Motivation seiner Leute jedenfalls keine Sorgen: "Wenn ich allen Mitarbeitern Aktienoptionen biete, brauche ich keinen Betriebsrat. Dann arbeiten sie sogar gern mehr." Der Brokat-Chef würde Bewerber, die nach Arbeitszeitregelungen oder gar Betriebsrat fragen, sowieso nicht einstellen. Röver: "Die Frage ist doch, ob überhaupt noch jemand die Gewerkschaften braucht."

Schließlich werde in den meisten New-Economy-Unternehmen die Arbeitszeit nicht einmal gemessen. Für sein Haus seien Mitarbeiter gleichberechtigte Verhandlungspartner, die sich ihren Arbeitgeber frei auswählen können und denen das Unternehmen etwas bieten müsse. Gewerkschaften in der Hightech-Industrie hält Röver für absolut überflüssig. Über so viel Arroganz kann Wolfgang Müller, IT-Spezialist und heute Gewerkschaftssekretär bei der Bezirksleitung der IG Metall Bayern, nur den Kopf schütteln: "Das Ende der Goldgräber-Stimmung in den Neuen Märkten ist abzusehen. Marktforscher prognostizieren das Aus von mehr als 80 Prozent der New-Economy-Unternehmen innerhalb des nächsten Jahres. Was nutzen den Internet-Leuten die schönsten Aktienoptionen, wenn Pleiten in der Dotcom-Welt zur Tagesordnung gehören?"

*Ina Hönicke ist freie Journalistin in München.