Thema der Woche/Es mangelt an Praktikern

OOP-Spezialisten: Der Jobmarkt ist leergefegt

31.05.1996

Georg Heeg, Geschäftsführer des gleichnamigen Softwarehauses in Dortmund, erklärt die Objektorientierung mit einem einfachen Bild. Aus der Sicht des klassischen Programmierers ist der Bleistift ein zylinderförmiger Holzkörper mit 20 Zentimeter Länge und fünf Millimeter Durchmesser, der an einem Ende kegelförmig zugespitzt ist etc. Diese Informationsanalyse lasse sich in ein Datenmodell umsetzen mit den vier Attributen: Holz, Graphit, Lackierung und Beschriftung.

Aus der Sicht eines Schülers dagegen ist der Bleistift ein Gegenstand zum Schreiben. Bei Datenmodellen habe man es also mit einer konstruktivistischen Sichtweise zu tun, während die "normale" Denkwelt in aller Regel utilitaristisch, also nutzenorientiert ausgerichtet sei, meint Heeg.

Das habe zur Konsequenz, daß "in einem Objektmodell die Dienste, die mit einem Objekt verbunden sind, in den Vordergrund treten", während die technischen Details als unbedeutend verkapselt und unsichtbar gemacht werden. Mit der Objektorientierung nähere sich also die Denkweise der klassischen DV der realen Welt.

Seit Jahren macht Heeg Werbung für den OO-Ansatz. So erzählt er beispielsweise in Vorträgen, daß die objektorientierte Programmierung gar nicht schwer sei, "wesentlich ist das objektorientierte Denken". Von der CW darauf angesprochen, präzisiert der Informatiker Heeg seine Aussage: "Die Fähigkeiten objektorientierter DV-Experten, wie wir sie bei uns beschäftigen, liegen in der Offenheit gegenüber den Anwendungsdisziplinen." Sie müssen Business Process Engineering, Informations-Management und Analysetechniken kennen und insbesondere mit einer großen Kommunikationsfähigkeit und gesundem Menschenverstand ausgestattet sein. Zur Realisierung der objektorientierten Client-Server-Systeme benötigen sie laut Heeg Kenntnisse über verteilte Software-Architekturen und praktische Erfahrungen mit objektorientierten Client-Systemen sowie der Implementierung von Business Object Application Servern.

Dennoch fehlt es an qualifizierten Mitarbeitern. So war auf der letzten Fachmesse Objektorientierte Programmierung (OOP) in München die Personalnot eines der zentralen Themen.

Seit März dieses Jahres sucht beispielsweise die Westfälische Provinzial-Versicherung der Sparkassen in Münster Smalltalk-Designer und -Entwickler. Auf Stellenanzeigen haben sich bisher 27 Bewerber gemeldet, berichtet Wolfgang Schulte von der Personalabteilung. Allerdings besitzen die meisten Kandidaten keine Berufspraxis. Schulte stellt fest: "Die Mehrheit der Interessenten kommt aus dem technisch-wissenschaftlichen Umfeld", also aus den Hochschulen.

Auch Heeg würde gerne ein paar OO-Profis einstellen. Sein Fazit bisher: "Fertige Spezialisten gibt es nicht." Er ist nun dazu übergegangen, den Nachwuchs selbst auszubilden. Fritz Letters, Geschäftsführer des IBL Ingenieurbüros aus Esslingen, hat es ebenfalls aufgegeben, auf dem üblichen Weg, also über Stellenanzeigen, zu suchen. Er bildet ebenfalls selbst aus. Das habe sich herumgesprochen, so daß ihm die Konkurrenz mittlerweile Mitarbeiter abwerbe.

"Es überrascht mich nicht, daß kaum OO-Experten auf dem Arbeitsmarkt zu finden sind", meint Leobert Fäßler von der Hewlett-Packard-Schulung aus Böblingen. Er beobachtet, daß viele Unternehmen ihre gesamte IT-Strategie neu entwickeln und auf verteile Umgebungen setzen. Im Rahmen dieser Umstrukturierung würden OO-Spezialisten benötigt, da sich Unternehmen, die am Markt konkurrenzfähig bleiben wollen, für diese Vorgehensweise und Technologie entscheiden müssen.

Großunternehmen seien dabei, die zahlreichen Cobol-Programmierer selbst für die neue DV-Welt auszubilden. HP habe dafür ein "ganzheitliches Schulungskonzept" entwickelt, wie es Fäßler nennt. Dies beinhalte unter anderem Trainingseinheiten für die unterschiedlichen Zielgruppen, die mit dieser IT-Umstrukturierung konfrontiert sind. Unternehmensleitung und Führungskräfte erhielten in Management-Veranstaltungen, Fachtagungen und in firmenspezifischen Seminaren Antworten auf Fragen, die für die Planung der Einführung wichtig seien.

Bei den Implementierern geht es nicht nur um den technischen Know-how-Transfer. Wichtig sei hier, daß alle Beteiligten die Veränderung als Chance für sich und das Unternehmen sehen. Hierzu, so Fäßlers Erfahrung, sollten die umstiegsbereiten Unternehmen ihre Mitarbeiter nicht in den technischen Details der Umsetzung schulen, sondern ihnen die neuen Konzepte, Methoden und Vorgehensweisen vermitteln und sie auch in die Planung des Umstiegs miteinbeziehen.

"Das Vorurteil, daß jemand, der einmal mit Cobol entwickelt hat, nicht mehr davon wegkommt, kann ich nicht bestätigen", so Werner Müller von der Anwendungsentwicklung beim Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerk (RWE) in Essen. Sein Problem dürfte vielen IT-Entscheidern bekannt vorkommen: Das RWE hat die strategische Entscheidung getroffen, alle Neuentwicklungen objektorientiert zu schreiben, hat aber schon vor Jahren einen Einstellungsstopp beschlossen. Bereits vor drei Jahren wurde mit der Ausbildung von drei Mitarbeitern in Richtung OOP begonnen. Heute arbeiten etwa 30 bis 40 Mitarbeiter im neuen Umfeld, wobei aber, so Müller einschränkend, nicht alle aus dem eigenen Haus kommen. Man kooperiere mit einem externen Schulungs- und Beratungshaus aus der Region, das RWE bei den OO-Projekten professionell unterstütze.

Daß objektorientierte Analyse- und Designmethoden keinen Kulturschock hervorrufen müssen, beweist auch das Großprojekt der bundesdeutschen Steuerverwaltung. Über einen Zeitraum von zehn Jahren entsteht dort ein DV-System, in dem das gesamte Besteuerungsverfahren auf der Basis eines bundeseinheitlichen Datenmodells neu konzipiert und arbeitsteilig realisiert wird. Involviert sind etwa 100 Mitarbeiter. Nach einer Einführung von zweimal drei Tagen in die objektorientierten Paradigmen und einem halbjährlichen projektbegleitenden Training konnten die Mitarbeiter das Projekt selbständig ohne weitere Schulung fortführen.

Die Arbeitsämter scheinen auf diesen offensichtlichen Trend zu reagieren. Werner Brendli vom Münchner Arbeitsamt betont, seine Behörde sei der neuen Entwicklung gegenüber aufgeschlossen - "auch wenn wir nicht immer genau wissen, was sie bringt".

Brendli verweist darauf, daß die Münchner seit einiger Zeit Kurse fördern, in denen den Umschülern die Objektorientierung beigebracht werde. So habe ein Institut im Süden der bayerischen Hauptstadt eine sechsmonatige Fortbildung für DV-Profis initiiert, in der auf wichtige Neuentwicklungen eingegangen werde, "mit einer guten Vermittlungsquote von 80 Prozent".

Wichtig sei ihm aber, daß die Teilnehmer nicht nur in der Programmierung fit gemacht werden: "Objektorientierung allein reicht nicht." Diesen Satz unterschreibt sicherlich auch jeder DV-Chef. Denn gerade beim Umstieg in die Client-Server-Welt sollten die Bewerber etwas von Netzen, Datenbanken und den aktuell gefragten Betriebssystemen verstehen.

Auch wenn der Staat helfe, Menschen durch Fortbildungs- und Umschulungskurse wieder in Arbeit und Brot zu bringen, spiele gerade bei neuen Technologien wie der Objekttechnik das Alter eine große Rolle. "Oft kommt die Vorgabe von Firmen, daß die Bewerber nicht älter als 32 oder vielleicht 35 Jahre sein dürfen", so Brendli.

Die Unternehmen befürchteten nämlich Generationskonflikte, wenn Teams nur aus jungen Menschen bestünden und dann ein Älterer dazustoße. Andererseits kenne er auch positive Beispiele von kleinen Software- und Beratungshäusern, in denen der Firmeninhaber sich selbst von den Qualitäten des älteren Bewerbers überzeugt und ihn eingestellt habe.

Aber auch bei den Jüngeren, die frisch von der Hochschule kommen, besteht keine Garantie, daß sie das objektorientierte Paradigma beherrschen. Heeg beobachtet, daß an den wissenschaftlichen Einrichtungen erst in einem geringen Maße die Objektorientierung als Freiheit von technologischen Fesseln begriffen wird. "In manchem Informatik-Curriculum würde das Abschneiden alter technischer Zöpfe einen Schub im Lern- und Forschungsfortschritt zur Folge haben", so der Dortmunder Geschäftsführer.

Informatiker, die in 20 Jahren gelernt hätten, kompliziert zu denken, sind geschockt, wenn sie erfuhren, wie einfach die Objektorientierung das Analysieren, Entwerfen und Entwickeln machen könne. Die Zukunft liegt nach Heeg dort, wo die Objektorientierung eine Selbstverständlichkeit in der Informatikausbildung ist und auf ihrer Basis "fundierte Konzepte und moderne Technologien wie Dienste im Internet aufgebaut werden".

Starker Zuspruch seitens der Studenten

Auch der Unternehmer Letters, der einen Lehrauftrag an der Fachhochschule Esslingen hat, muß die Einsteiger erst noch ausbilden. Allerdings ist er nicht so pessimistisch wie Heeg. Zu einer Einführungsveranstaltung über Objektorientierung kamen etwa 150 Studenten, in der Regel fänden sich in derartigen Lehrveranstaltungen aber nicht mehr als 70 Teilnehmer.

Noch sei das Angebot nicht so, wie er es sich wünsche, "aber es ändert sich allmählich". Das bestätigt auch eine Umfrage der Zeitschrift "Objekt-Spektrum". Demnach hat die Objekttechnologie an 27 von 36 Informatikfakultäten Eingang in die Pflichtveranstaltungen des Grundstudiums gefunden. Die Studie kommt zur Schlußfolgerung, daß "die Objekttechnologie an den Hochschulen als Stand der Technik angesehen wird und Eingang in die Lehre gefunden hat".