Online-Vertrieb rüttelt an gewohnten Marktgesetzen

Online-Vertrieb rüttelt an gewohnten Marktgesetzen Im Internet spielt MP3 für jeden die Musik

12.02.1999
MÜNCHEN (wt) - Der Verkauf von Tonträgern via Internet hat herkömmliche Vertriebsstrukturen in Frage gestellt. Durch den digitalen Vertrieb wird das Web nun zum internationalen Umschlagplatz für Musik, auf dem die Grenzen zwischen legaler und illegaler Vermarktung verschwimmen. Branchengrößen versuchen den Schock zu überwinden und ihre Pfründe zu sichern.

Ein Kürzel verbreitet zur Zeit Angst und Schrecken unter den Verantwortlichen der großen Musikkonzerne: MP3, ein Standard zur Komprimierung von Audiodaten in CD-Qualität. Er wurde unter der Regie des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen (IIS; www.iis.fhg.de) in Erlangen entwickelt und verkleinert Musikdateien um den Faktor zwölf (siehe Kasten, Seite 26). Der MP3-Standard hat sich innerhalb eines Jahres rasant verbreitet. Er ermöglicht jedem Internet-Nutzer das kostenlose Herunterladen beliebiger Musikstücke - und deren Veröffentlichung.

Über Nacht muß ein ganzer Industriezweig sein Marktmodell überdenken. Wenn kostenlose Kopien von CDs frei verfügbar im Internet kursieren, reißt die Wertschöpfungskette auseinander. Die Musikindustrie investiert viel Geld in die Produktion von Tonträgern. Langfristig verlören sowohl Künstler als auch Hersteller das Interesse an ihrem Job, wenn sie für ihr Engagement nicht angemessen honoriert würden. Merkwürdigerweise hat jedoch der Schaden durch Musikpiraterie nach Einschätzung der International Federation of the Phonographic Industry von 414 Millionen Dollar im Jahr 1993 auf nur noch 115 Millionen Dollar 1997 abgenommen. Das war das Jahr, in dem MP3 zur Eroberung des Web ansetzte. Die Auswirkungen eines solchen Standards konnte sich damals noch keiner ausmalen.

Marktforscher von Forrester Research glaubten im Januar 1998, es werde noch mindestens fünf Jahre dauern, bis das Herunterladen von Musikstücken via Internet sich zum Massenphänomen entwickle. Schon Mitte 1998 urteilten die Kollegen von Jupiter Communications wesentlich vorsichtiger: Auch wenn die Einnahmen über die digitale Vertriebsschiene gemessen am Gesamtumsatz von im Internet verkaufter Musik (CDs etc.) noch verschwindend gering seien (siehe Grafik), müßte die Branche doch unbedingt diesen Markt besetzen. Im Herbst 1998 schließlich waren auch die Forrester-Experten überzeugt: Die weitverbreitete MP3-Piraterie habe die großen Plattenfirmen in Bedrängnis gebracht.

Nach Einschätzung von For- rester besuchten bereits im September 1998 jeden Tag 90000 Surfer die populäre Web-Site www. mp3.com und sorgten für 50000 Downloads der Titel von 75 Interpreten.

Auf dieser Web-Site finden sich nur entweder von den Künstlern oder den Agenturen autorisierte Stücke. Darüber hinaus bieten unzählige Internet-Seiten Raubkopien aller erdenklichen Interpreten an. Ein ganz neuer Markt ist durch den Standard des Fraunhofer-Instituts entstanden. Kleine, unabhängige Produzenten kommen ohne teure CD-Pressungen und Marketing-Kampagnen aus. Junge, unbekannte Künstler umgehen ebenso wie etablierte Musiker, darunter David Bowie oder die Beastie Boys, durch den Direktverkauf ihrer Titel via Internet die Vertriebsmaschine der großen Player. Software-Startups wie Nullsoft oder Music Match etablierten sich mit ihren MP3-Playern (Win-Amp und Jukebox) für den PC.

Inzwischen gibt es auch tragbare Geräte mit Flash-Memory-Speicher zu erschwinglichen Preisen. Den Beginn machten Firmen wie Diamond Multimedia mit dem Rio-Player oder Saehan aus Korea. Bezeichnend ist, daß auch Giganten wie Sony oder Samsung eigene Geräte für unter 100 Dollar angekündigt haben. Die deutsche Micronas Intermetall aus Freiburg steuert dazu Layer-3-Decoderchips in großen Stückzahlen bei. Forrester rät der Musikindustrie, die Herausforderungen durch MP3 schnellstens anzunehmen und die digitale Vertriebsschiene zu erschließen. Über fünf Millionen Win- Amp-Nutzer, elf Millionen Nutzer des G2 von Real Networks sowie sämtliche Windows-98-Anwender können per MP3-Standard bereits Musik am PC hören. Auch Microsoft hat also sein neues Betriebssystem für MP3 fit gemacht.

Kein Wunder, daß die etablierte Musikindustrie überaus empfindlich auf den in Deutschland entwickelten Standard reagiert. MP3 ermögliche und fördere die Musikpiraterie, nörgelt die Branche. Nach Aussage eines deutschen Insiders aus der Musikbranche ist die Rechtslage bei abgespeicherten MP3-Dateien völlig unklar.

Wichtig ist daher nach Ansicht des Experten ein gemeinsames Vorgehen der großen Plattenfirmen, der Künstler und der Softwareproduzenten. Der Konsument werde sich immer das holen, wofür er nichts bezahlen müsse. Also sei ein Verfahren erforderlich, um Musik abrechnen und legale von illegaler Musik unterscheiden zu können. Man brauche eine Handhabe gegen die Leute, die Musik illegal im Netz vertrieben, so der Insider.

Wenn illegale Musik schwer zu finden sei, werde sie kein Massenmarkt, so der Experte. Wichtig sei allerdings, daß sich die Branche auf einen Standard einige, der eine kommerzielle Vermarktung ermögliche.

Seit kurzem sind die Anbieter auf dem besten Weg dahin. Die Branchengiganten Bertelsmann Music Group (BMG), EMI, Sony Music, Universal und Warner haben sich zur Secure Digital Music Initiative (SDMI) zusammengeschlossen. Bis Ende 1999 wollen sie zusammen mit Firmen wie AT&T, IBM und Liquid Audio ein Rahmenwerk erstellen, das ihnen die kontrollierte Eroberung des digitalen Musikmarkts ermöglicht.

Interview

Ein Gespräch mit Harald Popp, dem MP3-Experten des Fraunhofer- Instituts, über Piraterie und Standards finden Sie im Internet unter www.cowo.de.

MP3 und Co.

MP3 steht für MPEG (Moving Pictures Experts Group) Layer-3, ein von der International Organisation for Standardization (ISO) anerkanntes Format zur Datenkomprimierung. MP3 darf nicht mit MPEG-3 verwechselt werden. Letzteres Format wurde ursprünglich für High Definition TV (HDTV) entwickelt. Ein MPEG-4-Standard ist in Arbeit und hat wiederum nichts mit MP4 zu tun, einem proprietären, mit Verschlüsselung versehenen Format der Firma Global Music Outlet. MP3 ermöglicht bis zu zwölfmal kleinere Audiodateien gegenüber der herkömmlichen CD - ohne spürbare Qualitätseinbußen.