Mainframes und RISC-Rechner bilden das Rückgrat

Olympische Spiele von Atlanta: DV-technisch ist alles gelaufen

14.06.1996

Inzwischen haben die Herren der Ringe einen Mythos zum Geschäft geformt. Drei Mil- liarden Fernsehzuschauer, elf Millionen Besucher und über 130000 Akkreditierte, davon 16500 Athleten und Offizielle sowie 15000 Medienvertreter werden zu den Spielen erwartet. Um das Informationsbedürfnis dieser Massen zu befriedigen, die Besucherströme vor Ort zu steuern und einen reibungslosen Ablauf der Wettkämpfe zu garantieren, wurde ein DV- System gigantischer Größenordnung aufgebaut. In jeder der 27 Austragungsstätten, in jedem der olympischen Dörfer sowie in sechs Presse- und Fernsehzentren wird eine eigene dezentrale DV-Umgebung vorhanden sein, die wiederum mit zentralen Großrechnern verbunden ist. Während der 17 Tage der olympischen Wettkämpfe werden Daten in einem Volumen von rund 3 TB anfallen - soviel, daß man eine Tageszeitung in den nächsten 30000 Jahren damit füllen könnte. Es sind nicht nur riesige Datenmengen, sie sind auch besonders zeitkritisch.

Das Olympische Komitee ACOG (Atlanta Committee for the Olympic Games) hat die Gesamtverantwortung für die Informations- und Kommunikationstechnik der IBM als einem der Hauptsponsoren der Olympischen Spiele übertragen. Als Generalunternehmer fungiert die für Systemintegration und Outsourcing zuständige IBM-Tochter Integrated Systems Solution Corpora- tion (ISSC).

Dabei begnügen sich die Organisatoren nicht mit einem 08/15- System. So sollen die Antwortzeiten der Systeme unter einer Sekunde liegen und die Anwendungsprogramme einfach bedienbar sein, denn sie sollen für den größten Teil der 130000 Akkreditierten ohne Schulungsmaßnahmen nutzbar sein. An jedem Standort muß genügend Rechenkapazität vorhanden sein, um den Wettkampf im Notfall mit der dezentralen Systemumgebung ausführen zu können. Zudem mußten die von anderen Sponsoren bereitgestellten Technologien, beispielsweise Zeitnahmeuhren und Anzeigetafeln von Swatch, Sicherheitssysteme von Sensormatic, Drucksysteme von Xerox und Lexmark sowie Imageprocessing von Kodak in die IBM- Informationssysteme integriert werden.

Das Herzstück bildet ein komplexes Netzwerk, das aus einem Rechnerverbund von insgesamt vier Großrechnern der S/390-Familie, 80 AS/400-Servern, 16 RISC-System/6000-Rechnern und 7000 PCs und Notebooks sowie 1000 Arbeitsplatz- und 150 Systemdruckern besteht.

Basis für das Netz ist ein leistungsstarker Backbone. Für die insgesamt 250 lokalen Netzwerke und die WAN-Verbindungen sind insgesamt 2000 Meilen Glasfaser- und 5450 Meilen Kupferkabel gelegt worden.

Als Sicherheitsnetz für den gesamten Verbund fungiert ein sogenanntes Consolidation Center, an das die verschiedenen Netzwerk-Ringe angeschlossen sind. Als Ausfallsicherung für die SNA-basierten Netze dienen ISDN-Netze, die automatisch in Betrieb gehen, wenn es im Backbone zu Schwierigkeiten kommt. Sämtliche Daten aus den Servern werden dann über Bridges auf die öffentlichen Datenverbindungen umgeleitet.

Viele der mehr als 100 Anwendungen sind mit Tools für die Client- Server-Anwendungsentwicklung (zum Beispiel Visual Age, VisualGen, C++) neu entwickelt worden. Zu den wichtigsten zählen das Akkreditierungs- und das Ergebnissystem sowie ein Kommentatoren- Informationssystem und Info'96.

450 Sicherheitskontrollpunkte sind an den Austragungsorten installiert, um über das Akkreditierungssystem sicherzustellen, daß Athleten, Funktionäre und Mitarbeiter richtig identifiziert werden. Für die Olympischen Spiele werden neue Identifikationssysteme wie Sende-/Empfangsgeräte für Hochfrequenzen und Handabdruck-IDs verwendet. Das Ergebnissystem stellt Wettkampfinformationen zur Verfügung. Auf PCs und stiftbasierten Notebooks werden Ergebnisse gesammelt und in weniger als einer Sekunde an die Anzeigetafeln und das Informationssystem für Sportkommentatoren weitergeleitet. Das Kommentatoren-Informationssystem stellt ihnen neben den Ergebnissen mehr Daten zur Verfügung, als sie in ihrer Olympia- Berichterstattung jemals verarbeiten können.

Mit Info'96 werden alle Informationen, die für die 130000 Akkreditierten bei den Olympischen Spielen interessant sind, aufbereitet. Dazu zählen aktuelle Wettkampfergebnisse, Wetterbericht, Transportwege und kulturelle Veranstaltungen. Diese sind in englischer und französischer Sprache über Touch-Screens an insgesamt 1800 in den Wettkampfstätten und Dörfern installierten interaktiven "Kioske" abrufbar. Außerdem können elektronische Briefe verschickt und Funkrufempfänger erreicht werden.

Nicht nur die 2,5 Millionen Zuschauer, die vor Ort in den Wettkampfstätten erwartet werden, auch etwa drei Viertel der Menschheit, die die Olympischen Spiele daheim vor dem Fernseher oder Radio verfolgen, wollen alles hautnah miterleben. Das ACOG wollte sicherstellen, daß jeder Zuschauer tatsächlich "in der ersten Reihe" sitzt. Deshalb waren bereits vor Baubeginn "Spaziergänge" durch das virtuelle Olympiagelände möglich, wobei potentielle Sichthindernisse für Fernsehkameras schnell erkannt und optimale Kamerastandorte gefunden werden konnten.

Entworfen wurde die Olympiade am PC

Die Neu- und Umbauten von zahlreichen Wettkampfstätten und Olympischen Dörfern sowie der Ausbau der gesamten Infrastruktur für die Olympischen Spiele wurden mit Computer-Aided- Design-(CAD- )Systemen und geografischen Informationssystemen auf RISC- Workstations und auf PCs realisiert. Das Architektur- und Engineering-Design startete im Juli 1992 mit dem CAD-System Autocad von Autodesk.

Neu gebaut wurden das Olympia-Stadion, das Platz für 85000 Zuschauer bietet, das Stone Mountain Tennis Center, das Georgia Tech Aquatic Center für die Schwimmwettkämpfe sowie sechs weitere Sportstätten. Viele Wettkämpfe finden jedoch in bestehenden Sportstätten statt, die für die Olympischen Spiele umfunktioniert wurden, wie beispielsweise das Football-Stadion Georgia Dome, in dem die Gymnastik-Wettkämpfe ausgetragen werden. Insgesamt kosteten die Neu- und Umbauten für Olympia96 rund 515 Millionen Dollar.

Die CAD-Planungen bilden auch die Grundlage für weitere olympische Systeme, beispielsweise für den Ticket-Verkauf, die Sicherheit und die Logistik. Sämtliche CAD-Zeichnungen und -Informationen sind daher zentral und jederzeit in der neuesten Version über die IBM Product-Data-Management-Lösung Product Manager verfügbar.

Geoinfosystem bewegt die Massen

Ebenfalls mit Hilfe eines geografischen Informationssystems erstellten die Olympia-Planer eine Karte vom olympischen Ring innerhalb des Stadtgebietes Atlanta, in dem sich der größte Teil der olympischen Wettkampfstätten und Dörfer befindet. Außerdem bilden sie die Basis für das olympische Transport-System, mit dem Tausende von Athleten, Journalisten, Funktionären und Besuchern täglich zwischen Hotel und Wettkampfstätten sowie vom und zum Flugplatz und Bahnhof transportiert werden sollen. Und für Disziplinen wie Reitsport, Marathon und Radsport wurden topografische Streckenbeschreibungen angefertigt.

Bei vielen Sportdisziplinen spielt auch das Wetter eine große Rolle. Daher können Informationen über die aktuelle Wetterlage von Internet-Benutzern über eine Home Page des nationalen Wetter- Service abgerufen werden. Auch Athleten wird über Info'96 die Wetterabfrage ermöglicht. Der Nationale Wetter Service ist in der Lage, Wetterdaten hinunter bis auf ein Gebiet von 2x2 Kilometern aufzulösen und drei-, sechs- und zwölfstündige Vorhersagen in einem Intervall von drei Stunden zu liefern. Dieses wird von einem massiv-parallelen System und der Meteorologie-Software RAMS (Regional Atmospheric Modeling System) der Colorado State University sowie dem Visualization Data Explorer von IBM ermöglicht.

Go Olympiade: http://www.atlanta.olympic.org

Zum ersten Mal sind Olympische Spiele über World Wide Web auf dem Internet zugänglich. Internet-Benutzer können über einen Server auf die Home Page des Olympischen Komitees zugreifen. Bereits heute finden sie dort 4000 Seiten, 65 Videos und 5000 Bilder vor. Darin sind sowohl aktuelle Informationen über die Athleten, die Sportstätten, über alle Veranstaltungen, Verkehrsverbindungen, Hotels als auch historische Daten von früheren Olympischen Spielen enthalten. Es können sogar Eintrittskarten über das Internet bestellt werden. Der Server basiert auf einem mit 30 Prozessorknoten ausgestatteten IBM RS/6000 SP-System. Schon Anfang des Jahres erhielt dieser Server rund 75 000 Anfragen pro Tag. Während der Spiele werden rund zehn Millionen Anfragen pro Tag erwartet, weshalb IBM neben dem derzeitigen Server, der in New York steht, noch zwei weitere in England und in Japan installieren wird.

Erste Teilbereiche der Informationssysteme sowie einzelne Anwendungen kamen bereits bei den olympischen Winterspielen in Lillehammer, Norwegen, zum Einsatz. Außerdem wurden 1995 bei insgesamt 13 Sportveranstaltungen in den USA Tests durchgeführt. Das Marktforschungs- und Beratungsunternehmen Aberdeen Group aus Boston, Massachusetts, hat die Olympia'96-Systeminstallation und - Anwendungen beurteilt. Die Berater befürchteten zunächst, daß keine Lösungen von unterschiedlichen Herstellern in die Informationsarchitektur integriert werden konnten. Das Zusammenspiel stellte jedoch kein Problem dar.

Wenn nach 17 Wettkampftagen die olympische Flamme erlischt, bleibt noch eine Reihe von Anwendungen, Systemen und Netzwerken für die Behindertenspiele Paralympics zurück. Ein großer Teil der olympischen Anwendungen ist jedoch für eine Weiterwendung bei den nächsten Winter- und Sommerspielen bis ins Jahr 2004 vorgesehen.

*Anne Christina Remus ist freie Journalistin in Kuddewörde bei Hamburg.