Interaktive Systeme benötigen Konzept

Ohne Lernkultur bringt Weiterbildung wenig

05.07.1996

Weiterbildung solle in der Freizeit stattfinden, forderte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT), Hans Peter Stihl, anläßlich der Eröffnung des fünften Weiterbildungskongresses in München. Bei weiter sinkender Jahresarbeitszeit könne der Erwerb von Wissen und gewünschten Fertigkeiten während der Produktionszeit nicht länger hingenommen werden, so der Unternehmer. Mit modernen Kommunikationsmitteln ausgestattete Lernmedien weisen nach Meinung Stihls aus dem Dilemma heraus. Doch der Einsatz von interaktiven Systemen in Unternehmen gestaltet sich oft schwieriger, als es den Verantwortlichen lieb ist.

"Wir sind nicht daran gewöhnt, selbstgesteuert zu lernen", sagte Erich Behrendt im Rahmen eines Workshops über Multimedia-Einsatz in Großunternehmen. Viele Projekte, so der Geschäftsführer des Bochumer Instituts für Medien und Kommunikation (IMK), kämen nicht über das Stadium des Probierens hinaus oder endeten im totalen Desaster. Solange interaktive Systeme nicht in ein übergeordnetes Konzept eingefügt seien, bleibe vieles Stückwerk. Produktivität, so der streitbare Experte, lasse sich eher über informelle Kommunikation erzielen und sei weniger die Folge technologischer Vorstöße.

Als derzeit größtes europäisches Projekt stellte Behrendt die Qualifizierungsoffensive der Ford-Werke in Köln vor. Durch die Einrichtung von insgesamt acht Lernzentren auf dem Gelände könne jeder Mitarbeiter in weniger als sechs Minuten einen Lernort aufsuchen. Doch die beispielhafte Infrastruktur allein bürgt noch lange nicht für die erfolgreiche Umsetzung der am Reißbrett entworfenen Bildungsinitiative.

"Man muß die Leute in die Trainings treiben", so Behrendts pointierte Erklärung dafür, daß die Lernenden nicht voller Euphorie die Schulbank drücken wollen. Dies sei oft auch Ergebnis einer fragwürdigen Lernkultur in Unternehmen.

"Selbstlernzentren haben keine Zukunft", konterte Werner Mehrling, Leiter der Zentralstelle Weiterbildung bei der Robert Bosch GmbH in Stuttgart. Er plädiert für schlanke, "elegante" Konzepte der betrieblichen Weiterbildung. Beim Stuttgarter Elektrokonzern werden Mitarbeiter als Outsourcing-Partner umworben, indem man ihnen Hard- und Software für das multimediale Lernen in Eigenregie anbietet. Und dies zu konkurrenzlos günstigen Preisen.

Inzwischen, berichtete Mehrling, hätten Bosch-Mitarbeiter rund 14000 Computer-Based-Training-(CBT)-Programme erworben, die knapp unter hundert Mark kosten. Die meisten Lernenden bestellten gleich mehrere interaktive Programme im Paket: über PC-Anwendungen oder technische und betriebswirtschaftliche Themen. Unter 216 Angeboten können die Mitarbeiter ihre Wahl treffen.

Ausgangspunkt der Bosch-Initiative ist die Erkenntnis, daß der Einzug von PCs in private Haushalte unaufhaltsam voranschreite. "Wer einen PC zu Hause zur Verfügung hat, will damit auch lernen", ist Mehrling überzeugt. Dem Trend zur lebenslangen Weiterbildung und der hohen Mitverantwortung des Lernenden komme das Modell der CBT-Partnerschaft entgegen.

Maximal fünf Tage dauere es, erklärte der Stuttgarter Bildungs-Manager den Workshop-Teilnehmern, bis der Mitarbeiter das gewünschte CBT mit der Post zugeschickt bekomme. Derzeit tüfteln die Experten an einem Telelearning-Konzept. In Zukunft, so sieht es der Plan vor, sollen sich die Anwender analog oder per ISDN über einen Service-Provider - im Gespräch ist die Deutsche Telekom - individuelle "Lernhappen" aus dem Netz herunterladen. Dazu stehe eine große Auswahl an Softwaremodulen anstatt speicherfressender Kompaktprogramme zur Verfügung.

Der von Mehrling präsentierte CBT-Sonderweg seines Hauses rief Skepsis beim Moderator der Diskussion, Claus Möbus, hervor. Der Professor an der Universität Oldenburg und Direktor des dortigen Forschungs- und Entwicklungsinstituts für Informatik-Werkzeuge und -Systeme (Offis) vermißt außer lerntheoretischen Grundlagen die Überprüfung des Lernfortschritts. "Wo zeigen sich Verhaltensänderungen, können Sie dies überhaupt feststellen mit Ihrem Konzept?", so seine kritische Frage an Mehrling.

Doch der Bosch-Mann entgegnete, daß Lernen nichts mit Kontrolle zu tun habe. "Hauptsache, der Mitarbeiter verfügt zum richtigen Zeitpunkt über das richtige Wissen." Im übrigen dienten Mitarbeitergespräche zur Auslotung des Weiterbildungsbedarfs sowie zur Lernzielkontrolle.

"Die klassische Schulung reicht hinten und vorne nicht", beurteilt BMW-Manager Burkhard Tenbusch den wachsenden Weiterbildungsbedarf in der Wirtschaft. Deshalb kämen interaktive Konzepte wie gerufen und könnten zur Entlastung in der Vermittlung von Grundlagenwissen beitragen. Das Telelearning im 21. Jahrhundert habe vor allem zum Ziel, die kritische Medienkompetenz unter Lernenden zu erhöhen. Dabei stehe die Lösung von Problemen im Mittelpunkt und weniger die technischen Möglichkeiten eines interaktiven Programmes.

Eine Reihe von Ansätzen entspricht laut Tenbusch bereits diesem Wandel: So entstünden neue Berufsbilder und größere Herausforderungen an die Trainer. Während zunehmend das Coaching und immer weniger die bloße Wissensvermittlung gefragt sei, müßten sich Hersteller von technischen Systemen auf die neuen Anforderungen einstellen. Auf die Problemeingabe folge die Ausgabe von Lösungsvarianten. Wie Tenbusch berichtete, arbeiteten bereits einige Online-Anbieter wie beispielsweise Compuserve an der Entwicklung von besonderen Benutzeroberflächen..

*Winfried Gertz arbeitet als freier Journalist in München.