Warum Deutschland bei Industrie 4.0 hinterherhinkt

Offenheit ist alles: So wird Fabrik-IT smart

Kommentar  01.05.2017
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Franz E. Gruber, Jahrgang 1963, ist Gründer und Chef des Smart-Factory-Spezialisten FORCAM in Ravensburg. Der studierte Wirtschaftsingenieur war in den 1990er Jahren die rechte Hand von Dietmar Hopp bei SAP, bevor er im Jahr 2001 mit FORCAM als Pionier für Fabriksoftware startete, lange vor dem Begriff "Industrie 4.0".
Bis heute werden in Fabriken hierzulande fortwährend Datensilos geschaffen, und zwar durch die Betriebsdatenerfassung durch ein herkömmliches Manufacturing Execution System (MES). Das hat in der Industrie 4.0 keine Zukunft. Die smarte Produktion gelingt nur mit offenen Schnittstellen (Open API) in einem MOS - einem Manufacturing Operation System

Wir schreiben das Jahr 2017. Seit über zwanzig Jahren rollt die Revolution digitaler Vernetzung um den Globus und führt zu tektonischen Verschiebungen unseres Zusammenlebens und Wirtschaftens. Auf dem weiten Feld des Internet of Things (IoT) kommen fast täglich Innovationen auf den Markt. Konzepte wie Industrie 4.0, Industrial Internet und Smart Manufacturing adaptieren diese neuen Informations- und Kommunikationstechnologien in der Produktion.

Erfüllen Manufacturing Execution Systeme (MES) alle Anforderungen von Industrie 4.0?
Erfüllen Manufacturing Execution Systeme (MES) alle Anforderungen von Industrie 4.0?
Foto: Zapp2Photo - shutterstock.com

Nur: In manchen deutschen Fabriken hält sich noch immer eine IT-Infrastruktur aus dem vergangenen Jahrhundert. Die Rede ist von der Maschinen- und Betriebsdatenerfassung in einem Manufacturing Execution System (MES). Oberflächlich betrachtet ist ein MES nichts anderes als eine Sammlung von Anwendungsprogrammen, die mit der Maschinen- und Betriebsdatenerfassung zu einem monolithischen System verschmolzen sind.

Schaut man sich den Markt der MES-Anbieter in Deutschland genauer an, stellt man schnell fest, dass sich deren Produkte hinsichtlich ihres Leistungs- und Funktionsumfangs drastisch unterscheiden. Allen gemeinsam aber ist die monolithische Architektur, durch die nur der MES-Anbieter selbst vollen Zugriff auf die erfassten Produktionsdaten seiner Kunden hat. Die in einem MES erfassten Daten landen in einer Datenbank, die aufgrund der Abgeschlossenheit des Systems für keine weitere Anwendung zur Verfügung steht. Eine solche Datenbank wird als Datensilo bezeichnet.

In der MES-Falle

Betroffen sind zunächst die von den MES-Protagonisten als MES-Aufgaben definierten Anwendungsgebiete (siehe dazu auch VDI 5600 Blatt 1): Auftragsfeinplanung und Feinsteuerung, Betriebsmittel-, Material- und Personalmanagement, Leistungsanalyse, Qualitätsmanagement.

Weitaus tragischer ist, dass darüber hinaus sämtliche Produktinnovationen im Bereich des Smart Manufacturing durch die Zugriffsbarrieren eines MES nicht zum Einsatz gelangen können. Hierzu zählen Funktionen auf Basis von Big-Data-Analysen, zum Beispiel eine "vorhersagende" Wartung (Predictive Maintenance), welche anhand von historischen Daten und Resonanzanalysen Ausfälle prognostiziert, bevor die Fehler tatsächlich auftreten.

Nicht zuletzt werden auch neue Technologien und Konzepte smart vernetzter Wertschöpfungsketten blockiert, weil verschiedene MES innerhalb von Lieferketten selbst untereinander keine Daten austauschen können. Verhindert wird dadurch die Rückverfolgbarkeit aller Prozesse innerhalb von Wertschöpfungsketten (Supply Chain Traceability) und eine die Lieferkette übergreifende Fertigungsplanung und -steuerung.

MES schafft "Datensilos"

Fakt ist: Sobald die Maschinen- und Betriebsdatenerfassung einmal in einem MES erfolgt, ist der Kunde in allen Bereichen des Shop Floor Managements auf das Portfolio des jeweiligen MES Anbieters beschränkt. Betriebsdaten stehen nur in der jeweiligen MES-Welt zur Verfügung. Die Produktion ist IT-seitig vom Rest des Unternehmens isoliert, mit Ausnahme einer ERP-Schnittstelle zur Rückmeldungen von Fertigungsaufträgen.

Solche isolierten Datenbanken, auf die andere Anwendungen keinen Zugriff haben, werden zu Recht als Datensilo bezeichnet. In der Fertigung gängige Anwendungen können - wenn überhaupt - nur mit extrem hohen Kosten und technischen Aufwänden eingesetzt werden, weil sie keinen Zugriff auf die im MES erfassten Daten erhalten.

Gerne wird der Einwand vorgetragen, dass ein MES keine offenen Schnittstellen benötigt, da es ja alle erforderlichen Funktionen in sich vereint. Wie leistungsstark aber sind diese selbstgestrickten Funktionen der MES Anbieter? Beispiel Auftragsfeinplanung: In einem MES kann der Fertigungsplaner Stunden vor einer Plantafel verbringen, das Planungsszenario mit diversen Planungsvarianten simulieren und das Ergebnis nochmal nach diesem oder jenem Parameter optimieren. Am Ende hat sein Planungsszenario mit der Realität wenig zu tun, weil ein MES mit einfachen Durchschnittswerten plant.

Monolithische Lösungen nicht zukunftsfähig

Da eine solche Planung schon nach kurzen Zeitintervallen hinfällig ist, sind Wortschöpfungen wie, 'Short Interval Technology' im Umlauf, die dem Planer das Überarbeiten der Feinplanung in Echtzeit abverlangen. Eine Feinplanung, die noch nicht einmal für die nächste Schicht Stabilität und Planungssicherheit gewährleistet, ist ihren Aufwand nicht wert.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich MES-Anbieter mit ihren monolithischen Lösungen letztlich die Möglichkeit verschaffen, ihre eigenen Produkte mittels Querverkauf (Cross Selling) immer weiter zu vermarkten, obwohl sie auf den internationalen Märkten vernetzter und nach allen Seiten offener Lösungen womöglich gar nicht wettbewerbsfähig wären.

Das Programm MES geht in Deutschland schon viele Jahre auf. Doch geschlossene, nur auf eine Produktion bezogene IT-Architekturen sind nicht kompatibel mit den Anforderungen der digitalen Revolution 4.0. Datensilos erweisen sich mehr und mehr als nachteilig für Anwender. Über kurz oder lang dürften daher Anbieter, die an der MES-Strategie festhalten, ihre Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Wer die seit mehr als zehn Jahren gängigen Internettechnologien hartnäckig ignoriert, wird keine eigene Expertise in diesem Bereich aufbauen und für talentierte Nachwuchskräfte nicht mehr interessant sein.