"Odette" prüft Handelsdaten-Norm auf Rentabilität und Anwendbarkeit:Automobilbranche spielt Scout für neuen Standard

22.08.1986

BONN/WOLFSBURG - Der kürzlich zwischen europäischen und nordamerikanischen Experten ausgehandelte Entwurf für eine Standardisierung des Handelsdaten-Austauschs, EDI, ist in die Erprobungsphase getreten: Vorreiterin ist die europäische Automobilindustrie, soweit sie sich am "Odette"-Projekt beteiligt.

Odette bedeutet Organisation for Data Exchange by Teletransmission in Europe und ist ein europäisches Experiment zur Erprobung des EDI-Entwurfs, der im September 1986 der ECE und wahrscheinlich Anfang des nächsten Jahres der ISO vorgelegt wird. Verschiedene europäische Automobilhersteller, insbesondere General Motors (GM) in Antwerpen, die schwedische Volvo sowie die Wolfsburger VW AG und einige Zulieferfirmen wollen sie unterstützen.

Neue Norm muß sich an alter messen lassen

Der Verband der deutschen Automobilindustrie (VDA) verfügt seit fast zehn Jahren über eine eigene Schnittstellenvereinbarung, die von etwa 200 Unternehmen akzeptiert wird. VW hat dafür eine VSE- und MVS-kompatible Monitor-Software (Rechner-Verbund-System = RVS) entwickelt, die für eine Lizenzgebühr von 550 Mark monatlich weitergegeben wird. Rund 114 Firmen allein in der Bundesrepublik nutzen sie - neben den VW-Zulieferbetrieben auch die Hersteller Audi, BMW Ford, Opel und Porsche sowie automobilfremde Konzerne wie Hoesch und Mannesmann. Die VDA-Empfehlung ist jedoch softwareunabhängig einsetzbar.

Aufgrund des Konkurrenzdrucks aus Fernost ist der VDA an der Entwicklung eines internationalen Übertragungs-Standards interessiert und folglich personell beteiligt.

Wolfram Gallasch, Odette-Abgeordneter des VDA und Mitglied der Abteilung Führungs-Organisation und Systeme bei VW, spricht von einer "freiwilligen Verpflichtung" des VDA, eine Empfehlung zu Gunsten, von Odette auszusprechen, falls die neue Norm sich als wirtschaftlicher weise. So jedenfalls hat es der VDA-Ausschuß "Rohstoff", dem die Chefs der Hersteller- und Zulieferfirmen angehören, beschlossen. Die Entscheidung hierüber bleibt jedoch den einzelnen Unternehmen vorbehalten. Und die sind, was Absichtserklärungen angeht, äußerst zurückhaltend.

Während das VDA-Protokoll mit festen Satzlängen operiert, sieht der Odette-Standard flexible Datensätze vor. Durch die damit verbundene horizontale Kompression sollen Übertragungszeit und somit Kosten eingespart werden. In Verbindung mit dem RVS-Monitor kann aber auch innerhalb des VDA-Protokolls komprimiert werden - sowohl horizontal als auch vertikal.

Ohne den RVS-Monitor ist die Kommunikation allerdings zeit- und kostenintensiver; sie gehorcht nur minimalen Schnittstellenvereinbarungen, dem "file transfer protocol'', und erlaubt keine Kompression. Aus firmenpolitischen Erwägungen verwenden einige dem VDA angeschlossene Betriebe trotzdem andere Software. So besitzt Daimler-Benz ein auf Nixdorf-Software basierendes System namens Daks (Daten-Abfrage und Kommunikations-System).

Kleinere Firmen nehmen nicht an einer Online-Kommunikation teil, sondern gehen den längeren Weg über E-Mail. Opel läßt seine Datenverarbeitung seit 1985 von der GM-Dienstleistungstochter Electronic Data Systems (EDS) erledigen, die über ein eigenes weltweites Netzwerk verfügt und mit der IBM-Software CICS, aber auch mit dem RVS-Monitor betrieben wird. Die Verwendung von IBM-Mainframes ist allen genannten Herstellern gemeinsam.

Ein nicht zu widerlegendes Argument für die Einführung des Odette-Protokolls ist seine internationale Einheitlichkeit, wodurch die Anschaffung mehrerer verschiedener Anpassungsmodule überflüssig würde. Gallasch spricht von einer Entwicklung, die "so dramatisch wie die Einführung der Datenverarbeitung" sei, weil sie auch kleineren Firmen

den internationalen Datenaustausch ermögliche. Allerdings wird sie erst dann optimal eingesetzt sein, wenn neben der Beschaffungs- auch die Lieferungsseite, sprich: die Spediteure, darin integriert ist.

Laut EDS wird Opel den Odette-Standard einführen, wenn von Seiten der Geschäftspartner jemand darauf einsteigt. Ford wird sich erst dann festlegen, "wenn ein Produkt vorliegt". Daimler-Benz will vor eine eigene Entscheidung die, des DIN stellen; die wird aber kaum vor Anfang nächsten Jahres erfolgen. BMW möchte zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine konkreten Aussagen machen.

Vorläufig wird Odette versuchsweise in kleinerem Umfang auf Wirtschaftlichkeit und universelle Anwendbarkeit geprüft - in der Bundesrepublik von VW, Opel, den Zulieferbetrieben Bosch, Hella, Vegla-Sekurit und einer Handvoll weiterer (insgesamt zehn) Unternehmen. Die Tatsache, daß alle daran beteiligten Firmen auch die VDA-Norm verwenden, ermöglicht den Vergleich beider Standards. Das Experiment ist bereits im Frühjahr angelaufen und wird voraussichtlich bis September dauern. Mit einem offiziellen Testbericht ist frühestens im Oktober zu rechnen.

Die Investitionskosten für Rechnerkapazität und Dienstprogramm-Entwicklung rechnen sich angeblich durch kürzere Übertragungszeiten, geringere Kosten, höhere Fehlersicherheit aufgrund von weniger Medienübergängen und die Einsparung bei der jeweiligen Anpassung. Den fachweis hierfür soll das derzeit lauende Experiment erbringen.

Ein Zulieferer, der nicht genannt werden möchte, hat das VDA-Protokoll "Byte für Byte" mit dem Odette-Standard verglichen sowie mehrmals die Übertragungszeit für ein und dieselbe Datei innerhalb beider Normen gemessen. Das Ergebnis sieht alles andere als günstig aus: Die Übertragung nach Odette benötigte doppelt soviel Zeit wie die herkömmliche mit RVS. Ein ähnlich verlaufener Versuch sei auch von seiten eines Herstellers unternommen worden. Der Programmierungsaufwand für die Umsetzung in das Odette-Format betrug rund zwei Mann-Monate.

Aus Gründen, die stärker an der internationalen Einsetzbarkeit als an kurzfristigen Rentabilitätsrechnungen orientiert sind, wird das Unternehmen nichtsdestoweniger am Odette-Projekt festhalten. An Verbesserungen werde dort schon gearbeitet. Das Bundesministerium für Wirtschaft macht sich ebenfalls für EDI - und somit auch für Odette - stark. Immerhin stellt es ein greifbares Ergebnis im Bereich der europäischen Einigung dar. VW wird seinen RVS-Monitor dem Odette-Protokoll anpassen und somit für neue Kunden attraktiv machen; mit den bisherigen RVS-Kunden bestehen Wartungsverträge .

Übersetzungsprogramme stehen schon bereit

An Software-Lösungen wird unter anderem auch bei Philips, Siemens und der Münchner Gesellschaft für Logistik und Informationssysteme (GLI) gearbeitet. Siemens verfügt über ein bislang nur betriebsintern genutztes Übersetzungsprogramm namens Atrium (Anwenderneutraler Interpreter und Umsetzer), das kürzlich mit einem Aufwand von vier Manntagen für die Übersetzung von VDA- in Odette-Dateien eingesetzt wurde.

"Es wird überlegt", das Produkt vertriebsfertig zu machen und gegebenenfalls noch in diesem Jahr auf den Markt zu bringen, teilte Hartmut Hermes vom Zentralbereich Betriebswirtschaftliche Organisation der Siemens AG mit. Es fehle noch an den zum Vertrieb nötigen Qualitätsgarantien sowie an Wartungs- und Servicemöglichkeiten.

Schnelle Lösung nicht unbedingt die beste

Als "einen Schritt in die richtige Richtung" bezeichnet der Siemens-Berater und Odette-Insider Werner Knafler das Projekt. Seiner Ansicht nach hätte man jedoch besser noch zwei Jahre gewartet und einen Standard entwickelt, der auch OSI- und ISDN-Anforderungen genügt. Odette orientiere sich stärker an den von namhaften DV-Herstellern propagierten Standards für File-Transfer-Anwendung und MVS (Message Handling Systems) als an internationalen Normen.

Zwar sei eine internationale branchenunabhängige Lösung ein vordringliches Problem; doch eine "kleinkarierte, einseitige Insellösung" aus "persönlichen, materiellen oder politischen" Motiven sei keine geeignete Basis für ein Projekt von weitreichenden technisch-wirtschaftlichen Konsequenzen. Speziell dem Odette-Projekt gibt Knafler zwar gute Chancen, weil es sich stark an realen Gegebenheiten orientiere. Nur hegt er die Befürchtung, daß die zu erwartenden Investitionen für die Lobby der daran beteiligten Unternehmen Grund genug sein werden, einer möglicherweise noch nicht ganz ausgereiften Lösung das Placet zu geben.