Ob Chicago oder OS/2 - die Anwender zahlen drauf Kampf um den Desktop wird auf dem Ruecken der Kunden ausgetragen

16.09.1994

Mit Microsofts Chicago, seit kurzem auch als "Windows 95" in aller Munde, bricht ein neues Zeitalter fuer die Desktop-Betriebssysteme an. So sieht man es jedenfalls in Redmond, wo man kurzerhand erreichen will, was IBM seit Jahren relativ erfolglos versucht: 32-Bit-Technologie sowohl in den Bueros als auch in den Privathaushalten als Standard zu etablieren. Beim Kampf um den Titel "Koenig der PC-Betriebssysteme" geht es um einen Markt, der viele Milliarden Dollar schwer ist. Wer ihn beherrscht, regiert auch im Applikationsgeschaeft. Waehrend sich Microsoft aufgrund der derzeitigen Dominanz von Windows seiner Anwender offenbar sicher waehnt, versucht Big Blue mit einer abgespeckten OS/2-Ausfuehrung vom Marketing-Knueller Windows 95 abzulenken. Die Kundschaft reagiert verunsichert.

Die IBM-Verantwortlichen wurden unsanft aus ihrem Dornroeschenschlaf gerissen: Bislang mit dem vielerorts belaechelten OS/2 im 32-Bit-Geschaeft als einziger Anbieter praesent, muss sich der DV-Riese aus Armonk nun einem Herausforderer stellen, der im 16-Bit-Betriebssystem-Markt mit rund 50 Millionen Windows- Installationen das Zepter fest in Haenden haelt. "Windows 95 wird das groesste Ereignis der Softwarebranche im naechsten Jahr", kostet Thomas Koll, General Manager fuer den Geschaeftsbereich Unternehmen und Oeffentlicher Dienst Microsoft Zentraleuropa, den erwarteten Triumph vorzeitig aus. 20 bis 30 Millionen Firmen- und Privatanwender sollen, so die Prognosen des Quasi-Monopolisten, dem Gates-Imperium im ersten Windows-95-Jahr in eine neue Betriebssystem-Aera folgen. Ohne rot zu werden, sieht man in Redmond offensichtlich darueber hinweg, dass mittlerweile von der Auslieferung des neuen Produkts im Juni kommenden Jahres gesprochen wird: Microsoft-Boss Bill Gates hoechstpersoenlich hatte das einstige Chicago urspruenglich fuer den Dezember 1994 versprochen. Auch die im Informationsdienst "Compuserve" verbreiteten Meldungen ueber Kompatibilitaetsprobleme mit existierenden Systemen und Klagen ueber erneute monopolistische Absichten scheinen Microsoft nicht zu beunruhigen. In Redmond jedenfalls ist offenbar alles auf den Erfolg des 32-Bit- Betriebssystems ausgerichtet.

Ex-Partner IBM hat den Braten jedoch gerochen. Grossangelegte Werbekampagnen sollen eine erneut drohende Dominanz Microsofts nun auch im 32-Bit-Terrain verhindern und dem Klassiker OS/2 neues Leben einhauchen. IBMs Ziel fuer den Desktop-Markt steht fuer Richard Seibt, Geschaeftsfuehrer des IBM-Bereichs PSM, fest: Big Blue will sich mit dem derzeitigen Reservoir an fuenf Millionen OS/2-Anwendern keineswegs zufriedengeben und wird noch im Oktober dieses Jahres mit einem 4-MB-tauglichen OS/2-Pendant zu Windows 95 kontern. "Warp II", so der Codename des Betriebssystems, soll vor allem den Zeitvorsprung gegenueber Windows 95 nutzen und die OS/2- Basis auf zehn Millionen Installationen hochschrauben. Dass die Forderungen der Kundschaft dabei im Marketing-Laerm beider DV- Giganten unterzugehen drohen, stoert anscheinend weder Microsoft noch IBM - Hauptsache, die Anwender setzen letztendlich aufs richtige Pferd.

In den Lagern der Klientel beider DV-Grossmaechte herrscht unterdessen Verunsicherung. So gibt es einige gebrannte Kinder, die mit den ersten Versionen von Windows und Windows NT schlechte Erfahrungen gemacht haben. Nur die wenigsten glauben deshalb an eine reibungslose Jungfernfahrt von Windows 95.

Eine Studie des Marktforschungsinstituts International Data Corp. (IDC) belegt zudem: 65 Prozent der Anwender wuerden es als unklug erachten, ihre derzeitigen Windows-Applikationen an Microsofts 32- Bit-Betriebssystem anzupassen. Unabhaengig davon sehen sich jedoch viele schon aufgrund der Allgegenwart von Windows 3.1 und 3.11 gezwungen, einen Wechsel auf Windows 95 zu vollziehen.

Die OS/2-Gemeinde hat indes nach wie vor an dem oft zitierten Henne-Ei-Problem zu knabbern: Solange die Entwicklung von OS/2- Applikationen stagniert, krankt es an der Akzeptanz des Betriebssystems - und umgekehrt.

"Man wird nicht daran vorbeikommen, auf Windows 95 umzusteigen", prophezeit Norbert Jakob, Geschaeftsfuehrer des auf Networking spezialisierten Consulting-Unternehmens Compass GmbH in Esslingen. Die wenigsten Firmen werden seiner Ansicht nach das Risiko eines Betriebssystem-Wechsels auf sich nehmen. Auch Sigleif Lenart, Projektleiter Telematik bei der Stuttgarter Mercedes Benz AG ist davon ueberzeugt, dass ein Umstieg auf Microsofts neuen Hoffnungstraeger aufgrund der Dominanz von Windows 3.1 und 3.11 wohl oder uebel noetig sein wird. Schon allein deshalb muesse sich der Automobilhersteller mit seinen Produkten wie Routeninformationssystemen, digitalen Strassenkarten und GSM- Telefonen frueher oder spaeter auf Windows 95 konzentrieren.

OS/2 ist in Lenarts Zustaendigkeitsbereich momentan hingegen kein Thema: "Der Aufwand fuer eine Umstellung auf OS/2 waere zu gross gewesen", macht er IBMs Hoffnungen in Sachen Kundenakquisition bei der Stuttgarter Aktiengesellschaft zunichte. "Mit dem richtigen Betriebssystem allein ist es noch lange nicht getan; auf die aufsetzenden Anwendungen und Treiber kommt es an", bringt Lenart die seit Jahren bekannte OS/2-Problematik auf den Punkt.

Bei einem deutschen Luftfahrtkonzern rangiert Windows 95 indes unter "ferner liefen". "Wir werden einen Teufel tun und irgendwelche Technologietests durchfuehren, die nicht zu knapp Geld kosten," erklaert ein Mitarbeiter seine Ablehnung gegen Microsofts Betriebssystem-Sproessling. Sein Unternehmen sei nicht bereit, sich "in diesem fruehen Stadium um irgendein Betriebssystem zu kuemmern, das noch nicht entsprechend eingesetzt wird".

Auch Mercedes-Mitarbeiter Lenart fuehlt sich zeitweise wie ein Windows-Versuchskaninchen: "Es scheint immer mehr in Mode zu kommen, unausgereifte Produkte auf den Markt zu bringen, um den Test anschliessend den Kunden zu ueberlassen. Dies sei auch der Grund, weshalb Mercedes sich dazu entschlossen habe, Tests externen Unternehmen zu ueberlassen.

Unterdessen fragen sich nicht nur Anwender und Analysten, ob es die von Microsoft genannten weltweit 20000 Empfaenger einer Testversion von Windows 95 ueberhaupt gibt. Waehrend die Gates- Company vollmundig damit wirbt, im Juni 1994 ihre bis dato umfangreichste Testphase ins Rollen gebracht zu haben, schauen viele Anwender, was ein Beta-Release des einstigen Chicagos betrifft, nach wie vor in die Roehre. "Wir warten schon ewig darauf", schimpft Compass-Geschaeftsfuehrer Jakob. Bereits seit vier Wochen wird er nach eigenem Bekunden von Microsoft mit Hinhalteparolen besaenftigt. "Alle potentiellen Betatester, die mir bekannt sind, haben bisher keine Lizenz bekommen", so Jakob.

Mehr Glueck hatte anscheinend Christoph Kaemmerle, Geschaeftsfuehrer der Adlon Datenverarbeitungs GmbH, Ravensburg. Sein Betrieb kann bereits auf erste Erfahrungen mit Windows 95 zurueckgreifen und plant im Moment den Umstieg auf Microsofts 32-Bit-System. Der Allgaeuer DV-Spezialist raeumt allerdings ein, dass sich derzeit vor allem fuer private PC-Anwender die Frage Windows 95 oder OS/2 stellen wird, wohingegen der Benutzer im Unternehmen noch auf den geeigneten Zeitpunkt warten koenne. Kaemmerle, dessen Betrieb sowohl Mercedes als auch Dornier mit Testinformationen beliefert, habe in puncto Ablaufgeschwindigkeit von Windows 95 gute Erfahrungen gemacht. Probleme traten nach Aussagen des Geschaeftsfuehrers allerdings bei der Adaption der Treiber und mit der integrierten DOS-Box auf. Vor allem aber bemaengelt er die lange Eingewoehnungszeit seiner Mitarbeiter fuer die Oberflaeche von Windows 95.

Ein klares Bild herrscht hierzulande, wenn es um die Investitionskosten bei einem Umstieg von Windows 3.1 und 3.11 auf Windows 95 geht. Zusaetzlich erforderliche Hardware und Schulungen fuer das 32-Bit-Betriebssystem werden viele Unternehmen, so die einhellige Meinung, zu immensen finanziellen Anstrengungen zwingen. Das Marktforschungsinstitut Gartner Group Inc. ist sogar zu dem Schluss gekommen, dass die kuenftigen Hardware-Anforderungen fuer Windows 95 entgegen Microsofts optimistischen Versprechungen weitaus groesser sein werden, als es bei frueheren Versionen der Fall war.

"Neue Investitionen pro Arbeitsplatz sind auf jeden Fall noetig", gibt auch Betatester Kaemmerle zu bedenken. Dabei werden, so der Adlon-Chef, die Schulungskosten fuer die neue Oberflaeche des Produkts am kraeftigsten zu Buche schlagen. Fuer Mercedes- Projektleiter Lenart hingegen wird der Umstieg fuer kleinere Firmen hinsichtlich der benoetigten Hardware-Upgrades "ein Problem". Reimund Leffke vom Benutzerservice bei der Dornier GmbH in Friedrichshafen erklaert die Investitionskosten fuer Hardware und Schulung am Beispiel seines Konzerns: "Wir muessen 50 Prozent unserer 2500 PCs aufruesten, um Windows 95 sowie sinnvolle Software einsetzen zu koennen." Ein Hardware-Upgrade sei dabei vor allem bei RAM-Bausteinen vonnoeten. Mit rund 1000 Mark pro PC beziffert Leffke dabei den Preis fuer eine PC-Aufruestung. Zudem werde man bei Dornier saemtliche PCs mit veraltetem 386-Prozessor durch neuere Modelle abloesen muessen, um fuer die Anforderungen von Windows 95 gewappnet zu sein. Pro PC waeren das etwa 3000 Mark.

Noch tiefer ins Portemonnaie greifen muss die Dornier-Mannschaft jedoch, um eine benoetigte Einweisung in das Microsoft- Betriebssystem zu ermoeglichen. Diese Kosten stellen die Ausgaben fuer Hardware-Upgrades normalerweise in den Hintergrund, laesst Leffke seine bisherigen Erfahrungen Revue passieren:

"Wir berechnen bei der Schulung fuer die 2500 Mitarbeiter rund 500 bis 700 Mark pro Person." Ausschlaggebend seien vielmehr die internen Uebungsstunden, die mit jeweils etwa 100 Mark zu Buche schlagen. Wie gross der finanzielle Aufwand insgesamt wird, will Leffke momentan offenbar gar nicht so genau wissen: "Alles in allem kommen dabei Millionen raus", so das Fazit des Dornier- Angestellten.

Mit den hohen Anschaffungskosten fuer Windows 95 versucht IBM- Manager Seibt eine glorreiche OS/2-Zukunft zu begruenden.

Ein Wechsel vieler Anwender von Windows auf Microsofts 32-Bit- Version sei schon deshalb unwahrscheinlich, weil Windows 95 "Hardware-Anforderungen stellt, fuer die der normale Benutzer nicht zu investieren bereit ist", meint der IBM-Manager. "Ich mache mir ueberhaupt keine Sorgen." Schliesslich stehe es Anwendern offen, ob sie den proprietaeren Microsoft-Weg inklusive OLE oder die offene IBM-Alternative bis hin zu Opendoc waehlen, doziert Seibt.

Die Marketing-Auseinandersetzungen zwischen Microsoft und IBM um den kuenftigen Platz an der Desktop-Sonne koennten allerdings schon bald der Vergangenheit angehoeren. Insidern zufolge hat Microsoft bereits fruehzeitig vorgesorgt, um sicherzugehen, dass Big Blue der Gates-Company die Butter nicht mehr vom Brot nehmen kann. Derzeit, so die Argumentation der Experten, sei die IBM zwar noch in der Lage, Kompatibilitaet zwischen OS/2 und Applikationen von Windows 3.1 zu gewaehrleisten. Programme, die fuer Windows 95 konzipiert wurden, liessen sich jedoch nicht mehr ohne weiteres auf OS/2 einsetzen, weil IBM die dazu benoetigte Vertragsbasis fehle. Bestaetigt Microsoft-Manager Koll: "OS/2-Anwender muessen sich ueberlegen, wie das Produkt weiterentwickelt wird, da die IBM keine Rechte am Sourcecode von Windows 95 hat."

PSM-Chef Seibt uebt sich diesbezueglich jedoch in Optimismus. Zunaechst muesse man sehen, nach welchem Application Programming Interface (API) die Anwendungen fuer Windows 95 gestrickt werden. "Wenn diese Programme auf dem Win32s-API basieren", konstatiert der IBM-Manager, "laufen die auch auf OS/2." IBM verfuege ueber Abmachungen mit Microsoft, die es ermoeglichten, saemtliche von Microsoft entwickelten APIs, die mit Windows in Zusammenhang stehen, auch in die Produkte von Big Blue zu implementieren. "Wir haben die Rechte, APIs fuer alle Windows-Produkte zu erstellen. Und Chicago heisst ja bekanntlich nicht mehr Chicago, sondern Windows 95", gibt sich Seibt kaempferisch. (Ein Bericht ueber die Funktionen und wichtigsten Neuerungen von Windows 95 findet sich in der CW Nr. 21 vom 27. Mai 1994 auf Seite 11.)

Alexander Deindl