Ratschlaege zur High-speed-Migration (Teil 2 und Schluss)

Nur die ATM-Standards befreien vom Klammergriff der Hersteller

26.04.1996

Obwohl das ATM-Forum, eine fuer die Branche ungewoehnlich einmuetige Allianz der Hersteller, seit seiner Gruendung 1991 zuegig und zielstrebig an Spezifikationen fuer das asynchrone Protokoll arbeitet, konnte es bis dato einen fuer die Anwender wesentlichen Pferdefuss nicht beseitigen: Der Stand der Normierung garantiert derzeit keine Interoperabilitaet zwischen Geraeten verschiedener Hersteller.

Diesem Manko der ATM-Umgebungen muessen migrationswillige Anwender Tribut zollen: Die fuer die angestrebte asynchrone Uebertragung notwendigen Geraete sollten moeglichst nur von einem Hersteller bezogen werden. Das Einkaufen bei einem einzigen Anbieter erhoeht die Integrationstiefe der an einer Uebertragung beteiligten Komponenten.

Ein Rat uebrigens, der von ATM-Pionieren unter den Anwendern bestaetigt wird. "Den Tip, nur einen Hersteller zu waehlen, geben viele", untermauert etwa Paul Bradl, zustaendig fuer die DV-Planung bei der Raiffeisen Volksbank Augsburg eG, die These, und fuegt hinzu: "Zur Zeit ist diese Vorgehensweise auch sinnvoll." Erst wenn ATM einen aehnlichen Normierungsgrad wie etwa Ethernet erreicht habe, werde sich Equipment herstelleruebergreifend einsetzen lassen.

Von den im jeweiligen Anwendungsszenario zum Einsatz kommenden Geraeten muss dennoch nicht zwangslaeufig das gleiche Herstellerlogo leuchten. Der Batteriehersteller Varta implementierte etwa ein ATM-Netz mit Komponenten von Fore Systems, Xylan und Cisco. Die Kompatibilitaet sicherten sich die Hannoveraner, indem sie alle Komponenten von nur einem Systemintegrator bezogen: "Der Lieferant sorgt fuer die Interoperabilitaet", beschreibt Peter Spreemann, IT- Manager bei Varta die Zustaendigkeit des Dienstleisters, "insofern haben auch wir nur einen ATM-Anbieter im Hause."

Doch keine Regel ohne Ausnahme: Der Landwirtschaftliche Sozialversicherungstraeger (LSV) Oberbayern ignorierte die One- Stop-Shopping-Ratschaege der Consultants und integriert im eigenen ATM-Netz Geraete unterschiedlicher Hersteller. "Wir nehmen immer das fuer uns am besten geeignete Equipment", erklaert Ulrich Niessen, Dezernatsleiter der Abteilungen Organisation, Datenverarbeitung, Qualitaets-Management und Controlling beim LSV.

Doch wie laesst sich die jeweils optimale Loesung modellhaft charakterisieren? Technische Anforderungen grenzen bereits die Auswahl ein. Vorhandene und einzubindende Topologien wie Ethernet, Token Ring oder Terminalnetze, verlegte Leitungsmedien oder geforderte Bandbreiten wirken sich ebenfalls auf die Entscheidungsfindung aus.

Weitaus schwieriger ist die Wahl der Switch-Architektur. Grundsaetzlich lassen sich die Geraete in drei Typen unterscheiden (siehe Lexikothek). Welcher davon die beste Wahl ist, darueber schweigen sich die Fachleute aus. "Um konkrete Architekturen empfehlen zu koennen, sind umfangreiche Tests erforderlich", beschreibt etwa Ruediger Hartmann, stellvertretender Leiter des European Advanced Networking Test Centers (EANTC) der Technischen Universitaet Berlin, das Problem. Erst an der Belastungsgrenze machen sich Performance-Unterschiede bemerkbar. "Im Normalfall werden Switches jedoch nicht bis zu diesem Limit ausgereizt", vermutet Hartmann.

Abseits der technischen Finessen sind andere Kriterien bei der Wahl von entscheidender Bedeutung. Unter der Massgabe, nur die Produkte eines Anbieters zu integrieren, fesselt sich der Anwender mit einem ATM-Netz vermutlich auf Jahre hinaus zunaechst an einen Hersteller. Die Auswahl des Anbieters sollte also keinesfalls leichtfertig getroffen werden. Hat er etwa das ATM-Know-how eingekauft oder selber entwickelt? Sind akquirierte Komponenten in die Produktpalette integriert? Der Katalog an dringend ratsamen Fragen scheint kein Ende zu nehmen.

Hersteller mit einer durchgehenden Produktpalette sind natuerlich fuer das One-Stop-Shopping geeigneter. Doch Vorsicht: Haeufig wurden Produkte hinzugekauft, aber noch nicht tief genug integriert. Andere kleinere, schlagkraeftige und auf ATM spezialisierte Newcomer warten dagegen oft mit vergleichsweise leistungsstarken Boliden auf, decken aber die Funktionen eines unternehmensweiten Netzes nur teilweise ab.

Hersteller sollten Spezifikationen umsetzen

Jeder der in Frage kommenden Anbieter sollte aber einen eigenen Platz am Tisch des ATM-Forums haben. Mitglieder des Herstellerkonsortium sind an der Entscheidungsfindung ueber die ATM-Zukunft direkt beteiligt und haben Einfluss auf die Entwicklung. Sie kennen die Spezifikationen, sammeln Know-how an und koennen Neuerungen besser und schneller in marktreife Produkte umsetzen.

Doch damit nicht genug. Die Hersteller muessen in der Lage sein, das angesammelte Wissen und die stetig erweiterten Spezifikationen zum Upgrade auf leistungsstaerkere und ausgekluegelte Verfahren zu nutzen. Dazu benoetigen sie viel Kapital und ein kompetentes Entwicklungsteam. Ein Blick in die Firmengeschichte des Anbieters, auf seine bisherigen Praktiken im Umgang mit neuen Standards, laesst auf kuenftige Aktivitaeten schliessen. Nur die zuegige und stetige Umsetzung der aktuellen Standards verspricht dem Anwender, moeglichst schnell die anfangs zwangslaeufig angelegten Fesseln eines Herstellers abstreifen zu koennen.

Nicht nur kuenftige, auch aktuelle Vorgaben des ATM-Forums sind wichtig. "Switches sollten mindestens das User Network Interface (UNI) in der Version 3.0 unterstuetzen", raet etwa EANTC-Spezialist Hartmann. Das Verfahren definiert neben der Signalisierung auch die physikalischen Ports und den Betrieb von virtuellen Verbindungen. Hinzu kommen die wichtigen Spezifikationen zur Adressaufloesung Interim Layer Management Interface (ILMI) und das Interim Interswitch Protocol (IISP), der Vorlaeufer des dynamischen Routing-Protokol Privat Network to Network Interface (PNNI).

ILMI, IISP und UNI sind die grundlegenden Eigenschaften, um ein ATM-Netzwerk standardgerecht zu betreiben. Doch viele Anwender verlangen mehr. Um Anforderungen zu erfuellen, denen das ATM-Forum in den verabschiedeten Spezifikationen bis dato keine Beachtung geschenkt hat, muessen heute die sogenannten Goodies der Hersteller herhalten. Diese Implementationen fuellen die leeren Seiten der Dokumentationen des ATM-Forums mit proprietaeren Mustern. Die Meinung ueber diese spezifischen Funktionen sind gespalten.

"Kein einziges Extra war fuer uns interessant", lehnt etwa LSV- Manager Niessen die proprietaeren Implementationen ab, "wir sind froh, uns auf eine sichere und kompatible Loesung zurueckziehen zu koennen." Fuer die LSV, die Komponenten verschiedener Hersteller verwendet, ist die Offenheit das Nonplusultra. "Die hauseigene Qualitaetssicherung haelt uns zur Offenheit an", meint der Fachmann, "egal ob es sich um De-jure- oder De-facto-Standards handelt."

Anderswo hat man sich die proprietaeren Funktionen verschiedener Hersteller allerdings gerne ins Netz geholt. Ein grosses deutsches Klinikum verwendete etwa die LAN-Emulation in der Vorab-Version 0.4 von Fore Systems, um Ethernet-Server und -Clients in das ATM- Netz einbinden zu koennen. "Mit einer standardkonformen Loesung haetten wir warten muessen", begruendet der zustaendige Netzexperte die Entscheidung fuer das Extra- Feature.

In der Regel sind die herstellerspezifischen Erweiterungen Vorabimplementionen kommender Spezifikationen. Entlaesst das ATM- Forum im Laufe seiner Arbeit entsprechende Vereinbarungen in die Produktionsreife, sollten die Extras umgehend vom Hersteller den De-facto-Standards angepasst werden. In der Regel lassen sich jedoch gerade die Hersteller, die Kunden mit Extras gekoedert haben, Zeit mit der Umsetzung. Eigene Entwicklungsarbeiten sollen sich zunaechst amortisieren. Sind also spezielle Extrafunktionen unumgaenglich, sollten die Anbieter angehalten werden, die Features sobald als moeglich in Standards zu ueberfuehren.

Extrafunktionen der Switches, die in Silicon gegossen sind, lassen sich nur durch Hardware-Austausch auf neue Spezifikationen aufruesten. Aber nicht nur aus diesem Grund sollten die ATM-Geraete modular aufgebaut werden. Das Netz wird flexibler. Werden im ersten Migrationsschritt 25-Mbit/s-Verbindungen installiert, macht bei Bedarf ein einfacher Kartenwechsel das Netz flotter. Sollen spaeter neue Uebertragunsgmedien oder Telefonanlagen integriert werden, dann benoetigt der Switch mit Komponentenarchitektur lediglich einen neuen Einschub. Scheitert ein ATM-Projekt dann letztlich doch, beschraenken sich die Fehlinvestitionen zumindest auf die gekauften Komponenten. Die Abkehr von ATM zu Techniken wie FDDI faellt somit weniger schmerzhaft aus.

Derartige schlechte Erfahrungen lassen sich vermeiden, indem im Vorfeld des Projektes Referenzkunden des Herstellers besucht werden. Doch das ist leichter gesagt als getan. ATM-Projekte in Deutschland sind noch Mangelware. Wo moeglich, sollte die Option jedoch genutzt werden. Der Besuch lohnt in jedem Fall, denn Anwender mit bereits laufenden ATM-Netzen koennen aus einem reichen Erfahrungsschatz schoepfen.

Meistens haben sie die zum Einsatz kommenden Geraete im Hause getestet, bevor sie sie in den heissen Produktionsbetrieb entliessen. "Unsere DV-Abteilung spielt in derartigen Faellen immer das Versuchskaninchen", verraet Niessen von der LSV. Hilfe beim Probebetrieb bieten allenfalls die Hersteller, unabhaengige Institutionen gibt es hierzulande nicht. Das auf High-speed-Netze spezialisierte EANTC konzentriert sich derzeit auf Tests fuer Hersteller. Dem Anwender bleibt also nur der Test im eigenen Unternehmen.

Kraeftige Unterstuetzung seitens des Herstellers ist allerdings nicht nur waehrend der Testphase erforderlich. Mehr als alle anderen Protokolle ist ATM noch im Entwicklungsstadium, so dass die Supportmitarbeiter des Lieferanten zunaechst regelmaessige Gaeste im DV-Zentrum sein werden. Neue Standards muessen eingespielt, weitere Segmente erschlossen und vielleicht auch Dienste integriert werden. Ein qualifizierter Expertenstamm des Herstellers ist also ein nicht zu unterschaetzendes Kriterium bei der Equipment-Wahl.

Die Vor-Ort-Betreuung durch den Hersteller muss nach Moeglichkeit Bestandteil des Vertrages zwischen Kunde und Lieferant sein. Aber auch ATM-spezifische Probleme wie das Upgrade auf neue Standards sollten schriftlich fixiert werden. "Es ist allerdings relativ aussichtslos, grosse Hersteller auf Standardkonformitaet zu verpflichten", zweifelt LSV-Mann Niessen, wogegen die Raiffeisen Volksbank Augsburg derartige Absicherungen schwarz auf weiss vorliegen hat: "Wir haben zudem nur unter der Option gekauft, die Geraete bei einem Scheitern des Projekts zurueckgeben zu koennen", so DV-Planer Bradl.

Ratgeber ATM

Bei der Auswahl der ATM-Komponenten sind nicht nur die technischen Leistungsdaten entscheidend. Folgende Anregungen koennten bei der Migration auf ATM hilfreich sein.

1. Kompetenz des Herstellers ueberpruefen,

2. auf Standards achten,

3. nur notwendige Extrafunktionen integrieren

4. modulare Geraete auswaehlen,

5. Referenzkunden befragen,

6. ausfuehrlich testen,

7. Support sichern sowie

8. Standards vertraglich zusichern lassen.