NT kompensiert mangelnde Offenheit mit Preisvorteil Wer heute "offene Systeme" sagt, meint mehr als nur Unix.

16.09.1994

Konsequenterweise lief das bis dato "Unix in der Praxis" genannte und seit Jahren schon im schweizerischen Rueschlikon veranstaltete Fuehrungskraefte-Seminar heuer unter der Bezeichnung "Open Systems Forum". Das Thema der Podiumsdiskussion lautete diesmal: "Unix und Windows NT - Konkurrenz oder Kooperation?"

CW-Bericht, Karin Quack

Die Eingangsfrage haette schon nach einer Viertelstunde beantwortet werden koennen. In Gestalt von Windows NT ist den traditionellen Unix-Anbietern tatsaechlich ein Konkurrent ins Haus geschneit, auf den die meisten nicht vorbereitet waren. Auch wenn die Stueckzahlen noch nicht die von Microsoft gehegten Hoffnungen erfuellen moegen, wird Windows NT doch von vielen Anwendern bereits als Unix- Alternative in Erwaegung gezogen.

Die Anbieter der IX-Betriebssysteme reagieren unterschiedlich auf den Mitbewerber. Waehrend Digital Equipment das neue Microsoft- System auf seinen Rechnern anbietet und Siemens-Nixdorf noch das Fuer und Wider ueberlegt, gehen andere voll auf Konfrontationskurs - allen voran die IBM. Hat der blaue Riese doch zusaetzlich zu seinem Unix-Derivat AIX mit OS/2 ein zweites System im Angebot, dem Windows NT gefaehrlich zu werden droht.

Second Source und Schichtenarchitektur

Die traditionsgemaess am ersten Tag des Open Systems Forum einberufene Podiumsdiskussion gab Vertretern der genannten Unternehmen Gelegenheit, ihre Argumente fuer oder gegen das Microsoft-Betriebssystem vorzubringen. Zentrales Thema der Auseinandersetzung war die Frage, ob Windows NT genauso offen sei wie Unix.

In seiner Funktion als Diskussionsleiter definierte Kurt Bauknecht, Professor am Institut fuer Informatik der Universitaet Zuerich, einige der Punkte, die ein offenes System ausmachen: Unabhaengigkeit von einem Hersteller, Oeffentlichkeit der Spezifikationen und Weiterentwicklung durch eine Gruppe von Anwendern oder Herstellern. In diesem Sinn sei Windows NT sicher nicht offen.

Den "Second-Source"-Aspekt brachte Peter Litschig, Praesident der in Zuerich beheimateten Swiss Open Systems User Group, ins Spiel: "Ein System ist fuer mich nur dann offen, wenn es von verschiedenen Quellen her bezogen werden kann. Das ist bei Windows NT nicht der Fall." Das Betriebssystem stehe vielmehr vollstaendig unter der Kontrolle von Microsoft.

Francis Kuhlen, Produkt-Marketing-Manager in der Schweizer IBM- Zentrale, verwies auf ein weiteres Merkmal offener Systeme - den schichtweisen Aufbau. "Die Offenheit einer Betriebsumgebung oder einer Anwendungsumgebung, ob sie nun Unix, Windows NT oder wie auch immer heisst, ist erst dann erreicht, wenn die Komponenten in den einzelnen Schichten austauschbar sind," konstatierte der IBM- Marketier. Als Vorbild koenne hier die Vorgehensweise der Open Software Foundation dienen, die unterschiedliche Technologiekomponenten miteinander kombiniere.

Im Vergleich dazu beurteilt Kuhlen den Windows-NT-Ansatz als "recht proprietaer". Das Microsoft-Betriebssystem stehe da wie ein Monolith. Was er bislang von Windows NT gesehe habe, sei ihm vorgekommen "wie aus der alten MVS-Zeit".

Die geballte Kritik an Windows NT rief den Microsoft-Vertreter auf den Plan. Laut Joerg Schaeffeler, Systems Engineer bei der Microsoft AG im schweizerischen Wallisellen, ermoeglicht Windows NT den Austausch einer Reihe von Systemsoftware-Komponenten, so beispielsweise des Security-MechanismusA und der Subsysteme. Allerdings raeumte er ein, dass der Kernel selbst dem Entwickler als Blackbox gegenueberstehe: "Es ist nicht unser Bestreben, ein Betriebssystem in Grundmodule zu zerpfluecken," erklaerte er kategorisch.

Ueberdies unternahm Schaeffeler den Versuch, das Single-Source- Argument zu entkraeften. Ob ein System offen sei oder nicht, lasse sich nicht daraus ableiten, wer den Quellcode besitze. "Im Prinzip kommt auch Unix kuenftig aus einer Hand", so sein Hauptargument, "und dann gibt es dieselben Probleme wie heute mit NT."

Auf heftigen Widerspruch stiess der junge Microsoft-Mitarbeiter mit der Feststellung, die das Betriebssystem definierende Spec-1170- Definition sei ebenso "proprietaer" wie die eigene Win-32- Schnittstelle. Vor allem der IBM-Manager Kuhlen monierte die "Arroganz", die hinter einer solchen Bemerkung stecke. "Das Gremium, das diese Spezifikation standardisiert hat, arbeitet erstens nicht gewinnbringend, stellt zweitens nicht selbst etwas her, das am Markt verkauft wird, und ist ausserdem sicher nicht in der Applikationssoftware taetig," empoerte er sich.

Schimpfwort "proprietaer"

Schuetzenhilfe erhielt Kuhlen von der Veranstalterseite. Peter Domann, neben seiner Taetigkeit fuer die Siemens AG, Muenchen, Mitinitiator der Tagung, rueckte die Tatsachen zurecht: "Sie haben gesagt, Unix komme jetzt aus einer Hand und sei damit auch ein proprietaeres System. Sie wissen genau, dass das nicht stimmt." Die Unix-Spezifikationen seien von einem Konsortium verschiedener Hersteller abgesegnet worden. Ausserdem werde das Betriebssystem nicht von diesem Zusammenschluss geliefert, sondern von den einzelnen Firmen.

Schaeffeler konterte mit dem Hinweis auf die unterschiedliche Finanzkraft der beteiligten Unternehmen. "Die Staerkeren entscheiden, wie die Spezifikationen aussehen, die anderen koennen sie nur noch implementieren." Bei Microsoft wuerden ebenfalls unterschiedliche Firmen an den Spezifikationen mitwirken - aber, ohne dass sie dafuer Beitraege zahlen muessten.

Das wollte Matthias Dolder nicht gelten lassen. Der bei der Digital Equipment Corporation AG im schweizerischen Duebendorf beschaeftigte Unix-Spezialist: "Beim Zustandekommen der Spec 1170 hat das Geld kaum eine Rolle gespielt." Es sei hier "ausnahmsweise" mal nicht darum gegangen, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Vielmehr habe das Firmenkonsortium ein paar Dutzend der gaengigsten und komplexeren Unix-Applikationen bezueglich ihres Betriebssystemgebrauchs untersucht und darauf aufbauend die Spezifikation definiert.

Schaeffeler sah sich dann wohl doch genoetigt, seine Kritik abzuschwaechen. Er habe sich damit nicht explizit auf die Spec 1170 bezogen. Aber generell sei es in den Herstellerkomitees haeufig so, dass die Grossen das Sagen haetten und die Kleinen das Hoeren - auch wenn behauptet werde, das Gremium sei nicht profitorientiert und handle fair.

Nichtsdestoweniger raeumte der Microsoft-Mitarbeiter ein, dass die Spec 1170 aus Sicht des Softwareriesen zumindest nicht ganz vernachlaessigt werden duerfe. "Wir sind bereit, die Standards, die vom Markt verlangt werden, zu integrieren", lautet Schaeffelers Statement. Namentlich erwaehnte er OSI, aber auch die Betriebssystem-Spezifikation, die auf jeden Fall ernster zu nehmen sei als das "traurige Kapitel" Posix.

Zur Ehrenrettung des IEEE-Standards schwang sich daraufhin der Digital-Manager Dolder auf. Den Posix-Urhebern sei es zwar nie gelungen, ihre vielfaeltigen Arbeitsgruppen in einer Gesamtschau zu vereinen, doch liesse sich mit den dort verabschiedeten Spezifikationen durchaus etwas anfangen. Insbesondere zwei davon wuerden immer wichtiger: die Definition der Echtzeitsysteme und die Programmierschnittstelle fuer Multi-threaded-Systeme.

Eine Lanze fuer Microsoft brach dann doch Beate Arnold, Beraterin bei der Pico Consult in Schwarzenbruck. Sie unterstuetzte Schaeffelers Argument, dass ein proprietaeres Betriebssystem trotzdem offen sein koenne. "Proprietaer heisst doch nur, das es

irgend jemandem gehoert." Statt sich ueber Microsoft aufzuregen, sollten die Unix-Anbieter lieber die Herausforderung annehmen. "Was setzen wir denn dagegen? Wir haben uns zurueckgelehnt mit unserem Unix." Auf diese Weise erinnerte sie die

Diskussionsteilnehmer an die unangenehme Wahrheit, dass die Spec 1170 ohne die Bedrohung durch Microsoft wahrscheinlich nie zustande gekommen waere. Der Newcomer hat diese Stagnation in der Unix-Welt genutzt, so Arnold weiter, um sich einen Markt zu erobern. Und ploetzlich faenden sich viele, die auf den Zug aufspringen wollten. "In der Anwendungssoftware kennen wir das schon eine ganze Weile, naemlich von der SAP. Der rennen auch alle hinterher. Warum setzt denn niemand etwas dagegen?" schimpfte die Branchenkennerin. "Ich sehe das nicht so, dass da jemand zurueckgepfiffen werden muss. Vielmehr sollten die anderen mobilisiert werden."

Nach Arnolds Prognose wird es in Zukunft doch wieder mehr proprietaere Systeme geben - aber diesmal mit offenen Schnittstellen. Diese Stellungnahme deckt sich in etwa mit der Ansicht, die Schaeffeler bereits zu Anfang der Diskussion vertreten hatte: "Die Systeme sind gar nicht mehr so wichtig wie die Interoperabilitaet."

Hierzu meldete sich ein Teilnehmer aus dem Plenum zu Wort. Wolfgang Stubenrauch, DV-Chef der Muenchner Knorr-Bremse AG, warnte davor, sich in puncto Connectivity mit zu wenig zufrieden zu geben: "Als Siemens, Nixdorf und DEC damals SNA-Emulationen herstellten, hatten wir als Anwender zwar die Moeglichkeit, Rechner miteinander zu verbinden - aber nur in eine Richtung. VT- Emulationen auf einem SNA-Rechner gab es beispielsweise nicht." Zu fragen sei, wie Windows NT und Unix in beiden Richtungen miteinander verbunden werden koennten.

Anwender fuerchten neue Abhaengigkeit

Trotz dieser eher versoehnlichen Diskussionsbeitraege wurde doch deutlich, dass nicht nur die Unix-Anbieter, sondern auch solche Anwender, die fruehzeitig auf offene Systeme gesetzt haben, mit Beunruhigung auf Microsofts Marktmacht reagieren. Ein Beispiel dafuer ist Rudolf Goeldner, RZ-Verantwortlicher bei der Finanzverwaltung Nordrhein-Westfalen.

Wie Goeldner berichtet, hat die Duesseldorfer Behoerde zu einer Zeit auf Unix umgestellt, als sie kaum auf externes Betriebssystem- Know-how zurueckgreifen konnte und das Betriebssystemwissen von der Pike auf selbst erwerben musste. Belohnt wurde sie dafuer nicht nur mit niedrigen Preisen, sondern auch mit einem Stueck Unabhaengigkeit.

Durch Windows NT wird sich das, so fuerchtet Goeldner, moeglicherweise wieder aendern. "Ich habe schlicht und einfach Angst, dass jetzt die alten Zeiten wiederkommen. Das heisst: Die Schnittstellen sind verborgen, das Betriebssystem-Know-how ist nur beim Hersteller vorhanden, und die Anwender sind wieder so abhaengig wie frueher."

Guenstigere Nutzerlizenzen

In bezug auf die Softwarepreise kann Windows NT es mit Unix nicht nur aufnehmen. Vielmehr empfiehlt sich das Microsoft- Betriebssystem dem Massenmarkt geradezu als die billigere Alternative. Diese Tatsache veranlasste Professor Bauknecht, die Diskussionsrunde mit einer Frage zu provozieren: "Das Preis- Leistungs-Verhaeltnis von Windows NT ist sehr interessant, muss man also Offenheit um jeden Preis haben?"

Christel Feederle, fuer das Marketing der Siemens-Nixdorf AG in Kloten verantwortlich, nahm den Ball an: Sicher seien sehr viele Applikationen unter Windows NT zur Zeit guenstiger im Einkauf - rein von den Benutzerlizenzen her betrachtet. Ob die Rechnung fuer den Kunden am Ende aufgehe, haenge jedoch vom konkreten Fall ab.

Ergaenzte Garmhausen: "Beim Preis-Leistungs-Verhaeltnis sollte man sich genau anschauen, was zu dem Produkt gehoert, was man dazukaufen muss und wie viele Benutzer letzten Endes mit dem Produkt arbeiten koennen."