Brainshare 2000: Selbstbewusste Netzwerker

Novell sieht in Denim seine Zukunft

07.04.2000
SALT LAKE CITY - "Wir bauen das Netz": So lautete die zentrale Botschaft, mit der Novell seine über 7000 Anhänger auf der hauseigenen Messe Brainshare empfing und ihnen die Vision eines "One Net" präsentierte. Im Mittelpunkt dieser Idee steht das Denim-Modell (Directory Enabled Net Infrastructure Model). Im vierten Jahr unter der Führung von CEO Eric Schmidt strotzte die Networking Company geradezu vor Selbstbewusstsein. Vergessen scheinen die Zeiten, in denen die Netzwerker noch um ihre Glaubwürdigkeit bei den Anwendern kämpfen mussten.CW-Bericht, Jürgen Hill

Mit frenetischem Beifall begrüßte die Novell-Gemeinde auf der Brainshare-Eröffnungsveranstaltung CEO Eric Schmidt, der seit April 1997 die Geschicke der Company leitet. Unter seiner Führung fand das Unternehmen zu altem Selbstbewusstsein zurück und wurde mit neuen Produkten wie Zenworks (ZEN = Zero Effort Networks), dem Internet Caching System und verschiedenen Directory Services wieder salonfähig.

Zur Erinnerung: Als Schmidt 1997 das Ruder der Company in die Hand nahm, galt das Unternehmen als angeschlagener Übernahmekandidat, und der Kampf gegen Goliath Microsoft schien auf allen Fronten verloren. Eine verfahrene Situation, welche die Börse damals mit einem Aktienkurs von unter zehn Dollar bestrafte. Dank der konsequenten Restrukturierung durch Schmidt kletterte der Aktienkurs seitdem und stand während der Brainshare vor dem Kurseinbruch des Nasdaq-Index bei rund 29 Dollar, nachdem er zwischenzeitlich sogar die Schallmauer von 40 Dollar durchbrochen hatte. Zudem konnte die Company im letzten Geschäftsjahr den Umsatz gegenüber 1998 um 17 Prozent auf 1,27 Milliarden Dollar steigern.

Mit dieser positiven Entwicklung im Rücken betrat in Salt Lake City ein sichtlich entspannter Schmidt die Bühne und überraschte die Besucher mit dem Anspruch, das eine, umfassende Netz (One Net) zu bauen. Eine Vision, mit der laut Schmidt das Ende des steinigen Weges der letzten Jahre erreicht ist. Anfangs, so blickte der Novell-Boss zurück, mußte das Unternehmen erst wieder das Vertrauen der Anwender in Netware gewinnen. Dann, in einem zweiten Schritt, galt es, Tools für eine Netzinfrastruktur bereitzustellen, die mit einem deutlichen Mehrwert gegenüber der Konkurrenz aufwarteten. Eine Aufgabe, die zur Idee der zehn ZENs (Zero Effort Networkings) führte. Glaubt man Novell-Mitarbeitern, so sind die Produkte, welche die Administration von Servern etc. vereinfachen, im Markt ein voller Erfolg. Zudem hätten sie dem Unternehmen neue Käuferschichten erschlossen, die bislang wenig mit Verzeichnisdiensten zu tun hatten.

Am Ende dieses Weges kristallisiert sich nun der neue Anspruch der Netware-Company heraus: Den Anwendern Netzdienste zu liefern, die ihnen in einem Netz die Realisierung von E-Business-Anwendungen erlauben. Zugleich, so die Novell-Vision, verschwindet in dieser "Net Economy" der Unterschied zwischen LANs, WANs, Intranet und Extranet. Dieser Gedanke des One Net, das laut Schmidt in Zukunft ohne abgrenzende Elemente wie etwa Firewalls auskommt, basiert auf einem zentralen Element: dem "Directory Enabled Net Infrastructure Model", kurz Denim. Dabei erfüllt Denim für Novell zwei Funktionen. Zum einen ist es das künftige Architekturmodell, zum anderen die Roadmap, an der sich die weitere Produktentwicklung des Unternehmens orientiert.

Als plattformübergreifendes Modell, so der Anspruch der Netzwerker, erlaubt Denim eine einfachere, sicherere und schnellere Verwirklichung von E-Business-Umgebungen, "ganz gleich, ob es sich um B-to-B- oder B-to-C-Beziehungen handelt", so der Novell-Chef. Herzstück von Denim ist dabei das E-Directory, das Novell nach derzeitigem Stand für die Plattformen Solaris, NT, Netware, Windows 2000 und Linux anbieten will. Hinter dem modisch klingenden Begriff E-Directory verbergen sich die bekannten Novell Directory Services (NDS). Allerdings scheint dieser Begriff nicht zum neuen Selbstverständnis der Company als Anbieter von plattformübergreifenden Netzdiensten zu passen, da er zu sehr mit den alten, reinen Netware-Tagen verknüpft ist. Entsprechend entschloss man sich zu einer Umbenennung, die zudem verdeutlichen soll, dass für Novell die Zeiten der Glaubenskriege um die Wahl des passenden Betriebssystems vorbei sind.

Auf dem E-Directory selbst setzen wiederum drei Servicekategorien auf: Netz-Management-Services, Netz-Content-Services sowie Netz-Portal-Services. Im Bereich Netz-Management siedeln die Netzwerker Dienste an, die die Administration von Benutzern, Endgeräten, Servern, Netzhardware und Applikationskonfiguration erlauben. Ebenso gehört hierzu das weite Feld des Security-Managements. Die Content-Services widmen sich dagegen den Themen Speicherung von Informationen, ihrer Veröffentlichung im Netz sowie ihrer Auslieferung. Dabei sollen diese Dienste den persönlichen Zugriff eines Nutzers auf Informationen gemäß seinen Berechtigungen kontrollieren und an das verwendete Endgerät anpassen. Die Net Portal Services wiederum haben die Aufgabe, eine flexible und sichere Grundlage für E-Business-Applikationen zu bilden. Hierzu zählt unter anderem, Anwendungen über die Grenzen einer Firewall hinaus sicher im Netz zu betreiben oder bei unternehmensübergreifenden Geschäftsbeziehungen die Authentizität der beteiligten Kommunikationspartner einwandfrei zu garantieren.

Denim markiert nicht nur eine Trendwende weg von einer Netware-fokussierten hin zu einer plattformübergreifenden Company, sondern ist auch der Beginn eines neuen Geschäftsmodells. Künftig wollen die Netzwerker nämlich ihre Produkte nicht nur in den bekannten Red Boxes an die Endkunden ausliefern, sondern auch verstärkt Service-Provider und andere Hersteller einbeziehen. So ist es etwa vorstellbar, dass ein großes Unternehmen nach wie vor das Produkt in der Box kauft, während der Mittelständler die Funktionalität der Software über einen Service-Provider als Dienstleistung bezieht oder als schlüsselfertige Server-Appliances von einem dritten Hersteller erwirbt.

Wie bereits angesprochen, dient Denim zugleich auch als Roadmap, an der sich die künftige Novell-Produktentwicklung orientiert. Glaubt man Steve Adams, der als neuer Senior Vice President für das Marketing zuständig ist, so müssen sich alle Produkte künftig an den Grundsätzen des Denim-Modells messen lassen und dabei vier Anforderungen erfüllen. Die erste Bedingung für ein neues Produkt ist, dass es plattformübergreifend konzipiert ist. Zweitens muss es modular aufgebaut sein, um über offene Standards mit den anderen Netzservices kommunizieren und Informationen austauschen zu können. Last, but not least hat eine Neuschöpfung universell zu sein oder, wie es Adams formuliert, "einen konsistenten und sicheren Mehrwert in den internen und externen Netzen zu offerieren, um so die Idee eines One Net zu realisieren". Und zu guter Letzt hat das Produkt, für eine Netzwerk-Company eigentlich selbstverständlich, netzorientiert zu sein und im Netzwerk eine spezifische Aufgabe zu erfüllen, die entweder den Anwendern, Prozessen oder Applikationen in der Praxis einen Vorteil bietet.

Bei aller Euphorie in Sachen One Net und Denim sind die Netzwerker nicht so vermessen, zu glauben, dass die Netze von morgen nur noch auf Novells E-Directory und einem einzigen Verzeichnisbaum basieren. Vielmehr zeichneten die Netzwerker auf der Brainshare das Szenario einer Netzwelt verschiedener unabhängiger Verzeichnisdienste (= Federation of Directories). Als Bindeglied zwischen diesem Verzeichnisverbund sieht Novell-Manager Adams "Dir XML". Dieses übernimmt quasi als Metadirectory den Informationsaustausch zwischen den einzelnen Directories und ermöglicht Dienste wie Single-Sign-on etc.

In der Theorie klingt diese Idee des One Net mit Dir XML als Verknüpfungspunkt überzeugend. In der Praxis bleiben jedoch noch einige Fragen offen. Gelingt es Novell wirklich, all seine Dienste oder im alten Sprachgebrauch Produkte in kürzester Zeit auf alle gängigen Plattformen zu migrieren? Schaffen es die Netzwerker, ihr E-Directory so mit den Authentifizierungsverfahren der anderen Betriebssysteme zu verweben, dass ein Netware-Server im Netz künftig nicht mehr benötigt wird?

Wenige Konnektoren für Dir XMLEin weiterer, ebenfalls noch ungeklärter Punkt ist die Frage mit welchen Konnektoren das Meta Directory Dir XML mittelfristig aufwartet. Bislang ist lediglich zu hören, dass die erste, für Sommer geplante Version den Informationsaustausch zwischen Exchange, Lotus Notes, Netscapes LDAP, dem Active Directory sowie dem Novell-eigenen E-Directory beherrscht. Konnektoren für Datenbanken wie etwa Oracle oder unternehmenskritische Anwendungen wie SAP sind erst zu einem späteren Zeitpunkt geplant - Liefertermin unbekannt.

Ohne diese Konnektoren dürfte aber die Novell-Vision vorerst für größere Unternehmen mit ihren heterogenen Umgebungen wenig reizvoll sein, zumal auch auf der Seite der unterstützen Endgeräte noch viele offene Fragezeichen stehen.

Novells Produkt-PipelineAQUARIUM - Unter diesem Codenamen entwickelt die Company eine File-Service-Software, die laut Unternehmensangaben ein File-Sharing im Netz erlaubt und zudem mit Synchronisationsdiensten und Speicherservices aufwartet. Das Produkt beruht auf Know-how, das Novell mit der Übernahme von Just On und PG Soft erwarb.

DIR XML - Novells Metadirectory Dir XML befindet sich seit der Brainshare in der öffentlichen Betaphase. Eine erste offizielle Version ist für den Sommer geplant.

GROUPWISE - Auf der Brainshare kündigte Novell für die USA den öffentlichen Betatest einer Wireless Groupwise-Lösung an. Über das AT&T-Pocketnet können Anwender auf die Groupwise-Dienste zugreifen. Zur Realisierung dieser Lösung verwendet Novell Techniken wie WAP und WML. Ferner arbeiten die Netzwerker unter dem Codenamen "Bulletproof" bereits an der nächsten Groupwise-Version. Das zum Jahresende geplante Release soll auch in einer Variante für Solaris und Linux erhältlich sein. Als Schlüsselkomponente der Portalservices im Denim-Modell wird Bulletproof Dir XML unterstützen.

INSTANTME - Hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich ein Messaging-Client, der es den Anwendern ähnlich dem "AOL Instant Messenger" erlaubt, in Echtzeit über ein Netz zu kommunizieren. Um die Sicherheit der Kommunikation zu gewährleisten, setzt Instantme auf dem E-Directory sowie der im letzten Jahr vorgestellten Digitalme-Plattform auf, die eine Art digitale Visitenkarte darstellt.

MIGRATION WIZARD - Mit diesem Werkzeug sind Administratoren in der Lage, zum Beispiel Benutzerkonten von Windows 2000 per Drag and Drop auf Netware zu migrieren.

NETWARE - Erstaunlich ruhig war es auf der diesjährigen Brainshare in Sachen Netware. Anwender, die bereits das Aus für das Netz-Betriebssystem befürchteten, beruhigte CEO Schmidt mit der Zusage: "Wenn Nachfrage besteht, bauen wir auch in 100 Jahren noch Netware. Zudem bleibt Netware unter Denim die Referenzplattform." Darüber hinaus zeigte Novell drei Technologiedemonstrationen von "Modesto", wie die künftige 64-Bit-Version von Netware für Intels "Itanium"-Prozessor heißt. Ferner ist das Jahresende als Erscheinungstermin von Netware 6 anvisiert.

NOAH - Der Novell Open Administration Host ist ein offenes, Java-basiertes Administrations-Tool zum Einsatz auf Servern, die Java unterstützen. Er ist der große Bruder der "Console One", die Novell als erstes Administrations-Werkzeug in Java konzipierte.

NOVELL INTERNET MESSAGING SYSTEM (Nims) - Nims ist als Messaging-Plattform für Internet-Service-Provider und Application-Service-Provider konzipiert. Um diesen die Administration von möglichst vielen Mail-Accounts zu ermöglichen, setzt die Messaging-Plattform auf dem E-Directory auf. Nims verfügt über einen Mail Proxy, sodass die Benutzer Nachrichten von Benutzerkonten auf Groupwise, Eudora World Mail Server und MS Exchange empfangen können. Das Produkt ist für Linux und Solaris im zweiten Quartal erhältlich.

Abb.: Zentrales Bauelement der Denim-Architektur ist Novells E-Directory. Quelle: Novell