Noch sind im DV-Markt Ost nicht alle Chancen vertan

05.11.1993

Die allgemeine Wirtschaftsflaute daempft auch das Interesse der etablierten DV-Anbieter am ostdeutschen Markt. Gleichzeitig fordert sie jedoch Flexibilitaet, Leistung und Innovation von den neugegruendeten Unternehmen. Die Situation ist eher duester, so dass die ostdeutsche DV-Szene in den naechsten Jahren stagnieren wird. Auch muss man kein Prophet sein, um eine weitere Selektion unter den verbliebenen ueber 2000 lokalen Anbietern vorauszusagen.

Dem Kenner der ostdeutschen DV-Szene zeigt sich ein sehr widerspruchsvolles, aber nicht einseitig trostloses Bild von Depression und Schrumpfung. Nicht wenige Hoffnungstraeger - Katalysatoren fuer Innovationen - haben sich aus dem Informatikpotential der ehemaligen DDR herauskristallisiert. Mit Erfolg agieren sie mit anspruchsvollen Loesungen in einigen DV- Anwendungsgebieten und strecken ihre Fuehler nach Kunden ausserhalb der Region aus.

Ende September 1993 praesentierte der Unternehmensverband Informationssysteme e.V. seinen juengsten Report "Software und DV- Dienstleistungen +93 - Marktentwicklung vor dem Hinter-grund der Anpassungsprozesse in den neuen Laendern der Bundesrepublik Deutschland" der Oeffentlichkeit. Dieses Gemeinschaftswerk von DV- Anbietern und -Anwendern, Wirtschaftswissenschaftlern sowie Entscheidungstraegern aus oeffentlichen Verwaltungen stuetzt sich auf empirische Erhebungen und Expertenbefragungen bei ueber 400 Unternehmen und Organisationen. Das so entstandene Bild der ostdeutschen DV-Landschaft soll den Unternehmen Chancen fuer wirtschaftliche Betaetigung und gestalterische Spielraeume aufzeigen.

Neben der Landwirtschaft kaempft das verarbeitende Gewerbe mit den marktwirtschaftlichen Prinzipien. Das betrifft auch einzelne Subbranchen mit erfreulicher Aufwaertsentwicklung wie die Gewinnung und Verarbeitung von Steinen und Erden, die Feinkeramik, Teile der Eisen- und Stahlindustrie und der Elektrotechnik, die Kunststoffverarbeitung, das Druckgewerbe und die Mineraloelverarbeitung. Relativ gut ist auch die Lage im Stahl- und Leichtmetall- sowie im Strassenfahrzeugbau. Die Wachstumskerne, die fuer DV-Anbieter von grossem Interesse sind, liegen im Bau- und Dienstleistungsgewerbe, den industriellen Zulieferbranchen sowie vorrangig lokale Maerkte bedienenden Branchen. Vor allem sind es kleine und mittelgrosse Unter-nehmen, die ihre Investitionen aufstocken wollen. Hingegen schrumpfen solche Bereiche, die zu DDR-Zeiten die DV-Anwendungen stark gepraegt haben wie die Elektrotechnik und Elektronik, der Maschinen- und Anlagenbau oder die chemische Industrie.

Die DV-Zentren der ehemals grossen Unternehmen konnten nur mit radikalen Schnitten ihre in ueber zwei Jahrzehnte entwickelte DV- Kultur in der Substanz erhalten.

Westdeutsche Investoren haben 1992 etwa drei Fuenftel aller gewerblichen Investitionen in den neuen Bundeslaendern getragen. Der "Bericht zur Hauptversammlung 1993" des Bundesverbandes Buero- und Informations-Systeme e.V. weist fuer das vergangene Jahr DV- Lieferungen von West- nach Ostdeutschland von runden 746 Millionen Mark aus. Somit werden Angebot und Nachfrage auf dem ostdeutschen Computermarkt weitgehend durch Firmen aus den alten Laendern bestimmt. Damit hat sich die Frage nach einer eigenstaendigen DV- Landschaft Ost von selbst erledigt. Von Interesse sind lediglich die in den neuen Laendern ansaessigen Unternehmen und Organisationen als DV-Nachfrager sowie die weitere Ueberlebensfaehigkeit des ostdeutschen DV-Potentials.

Die unguenstige Kundenstruk-tur der ostdeutschen DV-Anbieter hat gute Gruende: In den florierenden Branchen - vor allem bei Banken und Versicherungen und im Handel - geben seit der Wende westdeutsche DV-Haeuser den Ton an. Die Anbieter aus den ostdeutschen Regionen haben bis heute keinen Zugang in diese Sphaere gefunden. Bei Reprivatisierungen oder kleineren Neugruendungen gelang ihnen das weitaus besser. Die Investoren aus den Altbundeslaendern setzen auf ihre bewaehrten DV-Partner. Nur sehr zaeh findet bei ihnen ein Umdenken zugunsten der lokalen Anbieter statt. Einzige Domaene dieser DV-Vertreiber sind die vielen neugegruendeten Klein- und Kleinstfirmen, deren Bedarf sich meist in No-Name-PCs und kleinen PC-Netzen erschoepft - eine relativ unsichere Marktecke.

Es ueberrascht nicht, dass bei den Anwendern die DV-Ausgaben stagnieren. Der Investitionsschub erreichte in den Jahren 1990 und 1991 seinen Hoehepunkt. Sieht man von wenigen Ausnahmen ab, so wurden zum Jahreswechsel 1991/92 in der Industrie und den oeffentlichen Verwaltungen eher die vorhandenen DV-Systeme effektiv genutzt als Neuinstallationen aufgebaut. Man finanzierte vorrangig in PCs, Workstations und PC-Workstations-Netzen. Mehrplatzsysteme waren weniger gefragt. Eine Analyse der gesamten DV-Ausgaben bei den Anwendern ergab einen erhoehten Anteil der Professional- Services. In diesem Markt konnten die lokalen Anbieter ihre Position leicht verbessern.

Widerspruechlich ist die Vergabe von DV-Dienstleistungen an externe Anbieter: Einerseits wollen die vom UVI befragten Firmen ihre wichtigsten DV-Aufgaben mit eigenen Beschaeftigten und eigener DV- Technik loesen: Ein weiterer Mitarbeiterabbau wuerde zu Lasten der DV-Betreuung und Kompetenz gehen, meinen sie. Andererseits stehen die DV-Teams unter starkem Kostendruck.

Trotz Outsourcing-Trend

tun sich Ost-RZs schwer

Mehrere Unternehmen haben bereits in Erwaegung gezogen, sich mit fliegenden Fahnen und einem Teil ihres Teams Outsourcing- Unternehmen anzuschliessen. Bei Professional-Services stieg bei den DV-Nutzern von 1990 bis 1993 der Aufwand fuer Systemintegration und Facilities-Management sowie fuer Auftragsprogrammierung. Laut den Nutzern koennen diese Dienste von den lokalen Anbietern noch nicht ueberzeugend geleistet werden.

Von 1990 bis 1991 war es ueblich, DV-Systeme und Dienstleistungen auch von geografisch weit entfernten Anbietern zu beziehen. Dabei haben die oeffentlichen Verwaltungen und die Existenzgruender im Osten die Nachteile dieser Praxis zu spueren bekommen. Die Regionalstruktur der DV-Lieferanten spricht dafuer, dass Anwender nun immer staerker die Angebote aus dem unmittelbaren Umfeld pruefen. Vor allem solche Unternehmen, die nicht durch uebergeordnete Strukturen eingeengt werden und selber entscheiden koennen, sind dazu bereit. Inzwischen heben sich die ambitionierten DV-Firmen deutlich von der Masse der reinen Vertriebsfirmen ab. Diese Tendenz bedeutet jedoch eine Ausrichtung der Anbieter auf kommerzielle Software, Beratung, Mehrplatzsysteme, Systemintegration und Facilities- Management. Doch gibt es die anwendungsorientierten Soft-warepakete in Fuelle nur bei den Softwarehaeusern, die bereits zehn oder zwanzig Jahre am Markt agieren.

Die neuen Strukturen und Wuensche der ostdeutschen Nutzer haben auch bei den Anbietern ihre Spuren hinterlassen. Fuer "Mergers-and- Acquisitions"-Berater ist eine gute Zeit angebrochen. Einige hundert lokale DV-Lieferanten konnten sich solide Grundlagen schaffen, um den Wandel in der Wirtschaft zu ueberstehen: Alte Strukturen sind zerstoert, neue wirken noch nicht ausreichend. Diese Zwischenzeit wird wohl noch bis weit in die 90er Jahre dauern. Als besonders virulent erwiesen sich zahlreiche DV- Unternehmen mit starker Forschungs- und Entwicklungsorientierung. Sie konnten - nicht selten mit staatlichen Foerdergeldern - ihre hochspezialisierten Softwareprodukte und Dienstleistungen auch bei Kunden in den neuen Laendern absetzen. Hinsichtlich Fachkompetenz, Know-how und Qualitaet der Serviceleistungen etc. brauchen sie die Wettbewerber aus den westlichen Bundeslaendern nicht zu fuerchten.

Die einst grossen ostdeutschen DV-Dienstleister nahmen eine eher differenzierte Entwicklung. Der drastische Rueckgang von RZ- Services am gesamten DV-Umsatz ist nur ein Indiz fuer die Kompliziertheit der Situation. Ob es gelingt, die Einbrueche in diesem Markt durch steigende Umsaetze im Projektgeschaeft wieder auszugleichen, bleibt abzuwarten. Das eher knappe Budget sowie zu hohe Lohnstueckkosten schlagen sich preislich auf die angebotenen Leistungen nieder. Den Anbietern ist es nicht moeglich, ihre Produkte preiswerter zu offerieren.

Einige dieser Servicehaeuser, die 1992 an westdeutsche Investoren verkauft wurde, sind heute sehr gefragt bei den fuehrenden Hardwarebauern. Diese wollen ihre bisherigen Geschaeftsfelder mit einem breiteren Dienstleistungsangebot absichern.

Wenige Softwarehaeuser aus Ostdeutschland haben Erfolg

Insgesamt vollzieht sich der Konsolidierungsprozess unter den Software- und Servicesanbietern mit einer Zeitverschiebung von ein bis zwei Jahren gegenueber den Hardwarespezialisten. Verstaerkt werden damit die vor kurzem eher schwach vertretenen DV- Unternehmen mittlerer Groesse (50 bis 99 Mitarbeiter). Zu dieser Gruppe koennte auch eine Reihe leistungsfaehiger DV-Teams aus der Industrie stossen, die sich immer noch im Schwebezustand befinden. Die substanzgefaehrdende Schrumpfung der ostdeutschen Industrie sowie politische und wirtschaftliche Entscheidungen konnten auf Dauer nicht ohne tiefgreifende Folgen fuer die in DDR-Zeiten gewachsenen DV-Unternehmen bleiben.

Die vom UVI ermittelten Verschiebungen im Produkt- und Servicesangebot der DV-Unternehmen spiegeln diese Situation wider: Aus dem reinen Produktvertrieb haben sich viele Firmen bereits zurueckgezogen. Produkte sind zu einem Anhaengsel von Services geworden. Kaum ein Unternehmen will sich hier staerker engagieren. Lediglich Netzwerke fallen aus diesem Rahmen. Auffallend: Viele ostdeutsche Firmen wollen kuenftig mit eigenen Softwareloesungen auf den Markt gehen. Allerdings erscheint es mehr als fraglich, ob das "Made in East Germany" langfristig Erfolg haben wird. Denn die Installationszahlen - gerade in den alten Laendern - lassen sehr zu wuenschen uebrig. Nur einer kleinen Schar hochspezialisierter und flexibler Teams mit jahrelanger Entwicklungserfahrung gelang bisher der Durchbruch.

Mit der Liquidation von Unternehmen und ihrem Aufkauf durch westdeutsche Investoren gehen den ostdeutschen DV-Anbietern die Kunden verloren. Und es sind grosse Anstrengungen noetig, um neue Kaeufer zu finden.

Wenn auch der Umsatz der Anbieter aus Ostdeutschland ausserhalb der Gebiete mit Heimvorteil sehr erfreulich ist, so kann er doch keinesfalls befriedigen. Individuelle Leistungsfaehigkeit und - bereitschaft der DV-Unternehmen koennten sich entfalten, wenn sie durch gemeinsame Interessenvertretung und Arbeitsteilung, foerdernde Rahmen-bedingungen sowie Initiativen von Laendern und Kommunen ergaenzt werden. In den neuen Bundeslaendern ist es an der Zeit, erfolgreiche Ansaetze wie das von der Landesregierung Nordrhein-Westfalen unterstuetzte Software-Industrie Support Zentrum (S/I/S/Z-Modell) aufzugreifen. Mit der Bereitschaft, lokalen Anbietern eine Chance zur Demonstration ihrer Leistungsfaehigkeit zu geben, Foerdertoepfe fuer Software- Entwicklungen zu oeffnen und der "Einkaufsinitiative Ost" koennten Zeichen im Osten des Landes gesetzt werden. An vollmundigen Bekenntnissen hat es bisher kaum gemangelt.

Von Mathias Weber

Dr. Mathias Weber betreut die Geschaeftsstelle und das Regionalbuero Berlin/Brandenburg des Unternehmerverbandes Informationssystem e.V. (UVI).