Im internationalen Vergleich ist die deutsche Industrie im Rückstand

Noch hat man das Potential von Simulation nicht erkannt

16.10.1992

Computersimulation ist eine der vielversprechendsten Technologien der 90er Jahre. Die Wachstumsraten sind enorm. Heute wird in den USA doppelt soviel Geld pro Umsatzmillion dafür ausgegeben wie in Deutschland. Während Großbritannien diese DV-Technik massiv fördert, erkennen in Deutschland bisher nur wenige ihre Chancen.

Verwundert reibt sich der Wirtschaftler die Augen: Die Fertigungsindustrie ist weltweit im Umbruch, Strukturen und Abläufe ändern sich immer schneller. Entscheidungen müssen trotz wachsender Unwägbarkeiten kurzfristig und sicher getroffen werden. Statt in dieser Situation die Simulationstechnik für den unternehmerischen Erfolg zu nutzen, gefällt man sich - solidarisch wie sonst selten - darin, die Lage zu beklagen und gebannt auf erfolgreiche Wirtschaftsnationen im fernen Osten zu starren.

Warum sollte nun gerade Simulationstechnik eine Schlüsseltechnologie der 90er Jahre sein? Sie ist ein Werkzeug, mit dem man schnell und kostengünstig experimentieren und lernen kann. Denn als Experimentierfeld zur Optimierung von Produktivität und Logistik dient eine nachgebildete und nicht die reale Fabrik.

Wenn die Dinge so klar sind, sollte man glauben, daß der große Ansturm auf die Simulationstechnik einsetzt. Aber der Realist weiß, daß nur wenige, bereits jetzt erfolgreiche Unternehmen gute und zukunftsweisende Werkzeuge nutzen, während es dem Großteil der Firmen doch noch viel zu gut geht, um über das übliche Maß hinaus aktiv zu werden. Also kehren die meisten schnell zur Tagesordnung zurück, um auf eingefahrenen Wegen vielleicht etwas schneller zu fahren.

"Simulation ist die Nachbildung eines dynamischen Prozesses in einem Modell, um zu Erkenntnissen zu gelangen, die auf die Wirklichkeit übertragbar sind", hat der Verein Deutscher Ingenieure in seiner VDI-Richtlinie 3633 definiert. Die Arbeitsgemeinschaft für Simulation (ASIM) sekundiert die VDI-Definition mit einer Darstellung des Arbeitsablaufes der Simulation.

Die Simulation ist ins Rampenlicht geraten, als erste Flugzeugsimulatoren zur kostengünstigen und risikoarmen Pilotenausbildung erschienen, oder als Daimler-Benz 1985 in Berlin seinen Fahrzeugsimulator vorstellte. Nicht so spektakulär, dafür um so regelmäßiger, begegnet uns die Technik im täglichen Bahnverkehr - hier werden Fahrpläne und der aktuelle Tagesbetrieb simuliert - sowie bei der Wettervorhersage.

Es geht mit anderen Worten also darum, reale oder geplante Systeme möglichst realitätsgetreu in einem Computermodell nachzubilden, um das dynamische Verhalten - die Änderungen von Systemgrößen im Zeitablauf - unter verschiedenen Belastungsvarianten und Störeinflüssen zu beobachten, zu analysieren und zu bewerten. Ein System hat dann schon mehrere tausend Betriebsstunden in der Simulation überstanden, bevor es überhaupt gebaut wird.

Angesichts kostenintensiver und zeitraubender Experimente an realen Objekten wie Produktions-, Lager-, Montage- und Transportsystemen oder ganzen Fabriken bietet die Was-wäre-wenn-Technik bei der Entwicklung und Projektierung und für den optimalen Tagesbetrieb komplexer Systeme unvergleichbare Hilfen. Der finanzielle Nutzen ist dabei nicht einfach zu quantifizieren.

Wieviel Mark ist es wert, erhöhte Entscheidungs- und Funktionssicherheit bei der Projektierung eines Kommissioniersystems im Wert von fünf Millionen Mark zu erreichen, bevor sich später die Kommissionieranlage als Engpaß eines Logistikzentrums im Wert von über 100 Millionen Mark entpuppt?

Wie hoch ist der wirtschaftliche Nutzen, wenn ein projektiertes Fertigungssystem im Wert von über zehn Millionen Mark nicht hergestellt wird, weil sich im Modell systemimmanente Leistungsbeschränkungen erkennen ließen?

Wie quantifiziert man die drastisch verkürzten Besprechungszeiten und Diskussionsrunden, wenn die Simulation mit gleichzeitiger realitätsgetreuer grafischer Ablaufdarstellung auf dem Bildschirm den Topmanagern die Auswirkungen von Maßnahmen bildhaft vor Augen führt und sich so Alternativen besser beurteilen lassen?

Was bedeutet es, wenn die unter vielen Unwägbarkeiten ablaufende Inbetriebnahme eines Logistikzentrums reibungsärmer, schneller und ohne größere Überraschungen vor sich geht, weil man die Funktionen von Hardware, Software und Organisation zuvor in verschiedenen Szenarien durchgespielt hat?

Erfahrene Anwender der Simulationstechnik wissen, daß Kosteneinsparungen - oder auch Mehrausgaben bei der Aufdeckung von Planungsfehlern - in der Regel ein Vielfaches der Kosten für den "computerisierten Sandkasten" ausmachen. Diese betragen im Durchschnitt zirka ein Prozent des Systemwertes.

Warum jedoch nutzt man die Vorteile bezüglich Entscheidungssicherheit und Investitionsabsicherung nicht permanent? Ein zusätzliches Prozent Skonto wird in Abschlußverhandlungen vergleichsweise schnell und allzuoft leichtfertig vergeben. Ganz zu schweigen von sonstigen weit höheren Preisnachlässen oder kostenlosen Zusatzleistungen.

Die Gründe lassen sich in drei Kategorien zusammenfassen:

Erstens ist der Kenntnisstand über die Simulationstechnik und ihren Nutzen unzureichend. Das Ausbildungsangebot an Schulen und Universitäten ist verschwindend gering. Die eigentlichen Anwender - der Ingenieur und Techniker in Produktion, Materialfluß und Logistik - sind mit Tagesarbeit überlastet, und das Management kennt Simulation bestenfalls als Worthülse.

Trägheit und Scheu als psychische Bremse

Ungünstigerweise haftet bei heutigen Entscheidungsträgern die Simulation noch mit einem zirka zehn Jahre zurückliegenden Status im Gedächtnis, als hochspezialisierte DV-Experten mit viel Zeitaufwand nicht nachvollziehbare Ergebnisse ablieferten und dies nach umständlicher Kommunikation mit dem Nutzer.

Zweitens ist Simulation keine Automatisierung oder Rationalisierung von bekannter Tagesarbeit, sondern eine andere und zusätzliche Arbeitstechnik mit neuen Werkzeugen. Die natürliche Scheu vor Neuem und die Trägheit gegenüber Veränderungen ist eine psychische Bremse bei der Verbreitung der Technologie.

Drittens sind auch die Hersteller von Simulationssoftware im Obligo: Anwendungsnähe, Funktionalität und Bedienerfreundlichkeit bei gleichzeitiger Einsatzvielfalt gibt es erst in jüngster Zeit bei modernen Systemen in zufriedenstellendem Maße.

Gleichwohl ist die Simulation bereits in zahlreiche gesellschaftlich-technische Bereiche vorgedrungen. In der Fabrik ist ihr traditionelles Einsatzgebiet die Planung von anspruchsvollen Materialflußsystemen, also Fertigungs-, Montage-, Lager- und Transportsystemen. Sie dient dabei zumeist der Absicherung von Planungsergebnissen. Die Durchlaufzeit, der Durchsatz, die Dimensionierung und die Steuerung unterliegen einer Überprüfung und Optimierung.

Seit einiger Zeit kommen geeignete Simulationssysteme mit Erfolg in der Produktionslogistik zum Einsatz: Produktionsplanungs- und -steuerungssysteme (PPS-Systeme) sowie Leitstandsysteme werden durch Simulationstechniken ergänzt. Die Hauptschwächen traditioneller PPS-Systeme, nämlich die unzureichende Berücksichtigung der technologischen Bedingungen eines Auftragsdurchlaufes und die fehlerhaften Verfahren der Zeitwirtschaft, lassen sich mit Simulation ausgleichen.

Die Leistungsfähigkeit neuer Simulationssysteme erlaubt es, nicht nur Fabrik, sondern ganze Fabriken oder gar Konzerne technisch und organisatorisch in der gewünschten Genauigkeit als Modell abzubilden, um so eine visuelle Transparenz der aktuellen Abläufe zu erhalten.

Ferner kann man auf dieser Basis zukünftige Szenarien realitätsgetreu und zuverlässig darstellen, analysieren und bewerten.

Simulation ist also eine Querschnittstechnologie, die in mehreren Unternehmensfunktionen erfolgreich zur Anwendung kommt: Dazu zählen Projektierung/Verkauf, Engineering, Fabrikplanung, Fertigungssteuerung, Informatik/Organisation und Logistik.

Der Einstieg ist denkbar einfach und bedarf keiner aufwendigen organisatorischen Änderung oder Vorbereitung. Ein Dienstleister bearbeitet ein Projekt als Simulationsstudie. Eine Testinstallation kann die Eignung der ausgewählten Software und der vorgesehenen Anwender sicherstellen. So stehen firmenspezifische Resultate zur Verfügung, bevor eine Simulationssoftware zum regelmäßigen Einsatz im eigenen Hause zu beschaffen wäre.

Unverzichtbar in der Fertigung

Der verschärfte internationale Wettbewerb sowie immer komplexere Abläufe und Strukturen führen dazu, daß Simulation in der Fertigungsindustrie unverzichtbar wird. Wer also seinem Unternehmen rechtzeitig Impulse geben möchte, die über die Tagesaktivitäten hinausgehen, für den bietet diese Technik eine Möglichkeit, eine eigenständige Wettbewerbsposition zu entwickeln. Ausgetestete "Wenn-Dann-Szenarien" bieten eine objektivierte und sichere Entscheidungsgrundlage. Simulation ist kein Wundermittel, das selbsttätig optimale Lösungen erzeugt, sondern ein Werkzeug zur Ausschöpfung individueller Verbesserungspotentiale.

Der Erfolg und die Akzeptanz richtig eingesetzter Simulation basiert einerseits darauf, daß sie genau nach den Prinzipien der Erkenntnisfähigkeit des Menschen arbeitet: Die sichtbaren und nachvollziehbaren Auswirkungen von Maßnahmen werden, im Zeitablauf visualisiert, analysiert und bewertet, womit schrittweise verbesserte Lösungen entstehen. Andererseits ergibt sich ihre Wirtschaftlichkeit dadurch, daß man aus verschiedenen Varianten eine optimierte Lösung mit einem Höchstmaß an Transparenz, Sicherheit, Effektivität und Objektivität erhält.

Für Simulationssysteme wird derzeit in den USA schon doppelt soviel Geld pro Umsatzmillion ausgegeben wie in Deutschland oder in Europa. Daß andere europäische Industrienationen insgesamt keine wesentlich intensivere Simulationsnutzung vorweisen können, mag deutsche Unternehmer beruhigen. Aber an internationalen Maßstäben gemessen, gibt es Nachholbedarf.

*Peter Gangl ist Mitgeschäftsführer des Stuttgarter Unternehmens AESOP - Angewandte EDV-Systeme zur Optimierung GmbH.