Anwendungen vom Verkaufs- bis zum Pilotentraining

Noch bereitet die Übermahme alter Datenbestände Probleme

27.11.1992

Unter den europäischen Staaten ist die Bundesrepublik der größte nationale Markt für Multimedia-Produkte. Zu diesem Urteil kommt jedenfalls das Marktforschungsinstitut Frost & Sullivan, das prognostiziert, daß dies auch in den nächsten Jahren so bleiben werde. Einige Beispiele realisierter Multimedia-Anwendungen im deutschen Markt zeigt Fereydun Khanide*.

Zu den Entwicklern, die versuchen, den Computer vom simplen Rechner zu einem Kommunikationsinstrument weiterzuentwickeln, gehört beispielsweise das von zwei Medizinern gegründete Unternehmen Carl & Sabri. Aus Erfahrungen, die mit auf dem Macintosh SE entwickelten elektronischen Lexikon gemacht wurden, entstand die Idee eines elektronischen Buches. Dabei muß der Zugriff auf Information nicht streng sequentiell stattfinden, sondern der Benutzer soll nach Belieben im Wissensraum navigieren können. Realisiert wurde das Projekt als Anleitung für Mitarbeiter im Außendienst einer Firma, die medizinische Instrumente zur Durchführung chirurgischer Eingriffe anbietet.

Um den Vertretern überzeugende Verkaufsargumente an die Hand zu geben, werden diese vor ihrem Einsatz eingehend geschult. Dazu gehört das Darstellen von Daten über die alters- und geschlechtsspezifische Häufigkeitsverteilung von Gallensteinen ebenso wie Informationsvermittlung über Dauer und Kosten einer entsprechenden Behandlung, aber auch über die Grundzüge der bei einer Operation ablaufenden Schritte. Eine vielzitierte lern-psychologische Regel besagt, daß Ereignisse, die man hört und gleichzeitig sieht, sehr viel besser aufgenommen und behalten werden als nur Gelesenes. Um die zu lernenden Infor- mationseinheiten möglichst einprägsam zu vermitteln, wird dem Außendienst-Mitarbeiter daher ein Mix aus Text, animierter Grafik, Sprache, Geräuschen und Musik sowie Videosequenzen geboten, mit denen zum Beispiel der Verlauf einer Operation vorgeführt wird.

In der Verbindung von Analog und Digitaltechnik, für die noch vor kurzem teure Spezialhardware unerläßlich schien, sieht Firmengründer Sabri keine Schwierigkeit: "Videos und Sprache in ein Programm einbinden, das kann heutzutage jeder. Die eigentliche Herausforderung bei Multimedia-Anwendungen liegt in der didaktischen Aufbereitung des Materials." Neben der Nutzung ver- schiedener Kanäle zur Informationsvermittlung zählt daher auch die hohe Interaktivität eines Programms zu den Kennzeichen wirkungsvoller multimedialer Systeme. Die Möglichkeit weitestgehender Steuerbarkeit des Programmflusses durch den Benutzer muß Bestandteil einer Applikation sein. Der Benutzer darf sich allerdings dabei nicht im Informationsraum verlieren, sondern muß stets den Überblick darüber behalten, wo er sich befindet, wo er herkommt und wie er weitermachen kann. Und er soll aktiv an den Geschehnissen am Bildschirm partizipieren. Dazu gehören Multiple-choice-Tests mit anschließender Auswertung zur Selbstkontrolle ebenso wie die Tatsache, daß Diagramme zur grafischen Darstellung von Statistiken nicht einfach bei einem Maskenwechsel auf dem Bildschirm erscheinen, sondern per Mausklick angefordert werden müssen. Die Hardwarevoraussetzungen des Systems sind gering: Das Programm läuft auf einem Macintosh IIci.

Ebenfalls den Apple-Rechnern verschrieben hat sich der Lehrstuhl von Professor Thome am Betriebswirtschaftlichen In- stitut der Universität Würzburg mit dem multimedialen Infor- mationssystem Hermes. 1992 überflügelte diese Applikation

alle anderen bei dem Wettbewerb um den Deutsch-Österreichischen Hochschul-Softwarepreis in der Kategorie Multimedia-Lehrsoftware.

Wie bei einem Hypertext-System können sich die Benutzer zwischen Informationen, die mit multimedialen Elementen angereichert sind, frei asoziierend bewegen. Studierende der Betriebswirtschaft und verwandter Gebiete sind mit Hermes in der Lage, sich selbständig in den etwa 150 Lehrstunden umfassenden Stoffinhalt einzuarbeiten. Zielrichtung des Systems ist aber keineswegs, das Professorenkollegium durch Texte, Bilder, Töne und Videos aus dem Rechner abzulösen. Hermes soll vielmehr als flankierende Maßnahme den Studierenden einen Zugang zum ergänzenden und vertiefenden Selbststudium eröffnen. Der

Münchener Spezialist AIT generalisiert in seiner Multimedia-Studie diese Auffassung mit den Schlagwort: "Der persönliche Referent kann nicht ersetzt werden."

Bei Hermes betrug der Entwicklungsaufwand für den Inhalt ein Vielfaches dessen, was in die Programmierung des Systems gesteckt wurde. Damit offenbart sich ein Dilemma: Wie sollen alte Datenbestände übernommen werden, wenn man auf den Multimedia-Zug aufspringen möchte?

Eine mögliche Antwort gibt das Programm "Info-Link" der Interlog Software GmbH: Mit diesem Programm für MS-DOS lassen sich bestehende Datenbanken mit Multimedia-Anwendungen verbinden. So kann ein Datensatz mit einer erläuternden Grafik oder einem Bild aus einem Video verknüpft werden, alternativ läßt sich digitalisierte Sprache zur Kommentierung vorhandener Datensätze eingesetzen.

Eine Dbase- oder Paradox-Datenbank wird dadurch zwar nicht zu einem Multimedia-System im engeren Sinne. Aber es lassen sich durchaus sinnvolle Anwendungen denken, wo bestehende DOS-Applikationen nicht portiert werden können und man dennoch nicht auf Multimedia-Elemente verzichten mag. Was das Ringen der verschiedenen Plattformen um Marktanteile anbelangt, gibt die Studie von IDC Auskunft, deren Veröffentlichung für Ende des Jahres geplant ist: Windows hat hier eine beherrschende Position (siehe Abb.1).

Auf handelsüblichen PCs mit einem 386-Prozessor, die mit ei-ner Bildplatte und einer Sound-Karte ausgestattet sind, läuft die Software der LIS GmbH, einem Tochterunternehmen der Deutschen Lufthansa. Das Programm zum Thema "Area-Qualifikation" wird zur Weiterbildung von Piloten der Lufthansa eingesetzt.

Auch erfahrene Piloten müssen sich in neue Gelände und Landschaften einweisen lassen, bevor sie diese zum ersten Mal überfliegen dürfen. Bislang mußte der Pilot auf einem Zuschauersitz im Cockpit die Strecke mitfliegen, um die Besonderheiten der neuen Route kennenzulernen. Für nordamerikanische Gebiete gingen so allein für An- und Abreise mehrere Tage verloren.

Drei Piloten und ein Flugingenieur entwickelten für LIS die Inhalte des CBT-Programms. Vom Cockpit aus wurden Videoaufnahmen der nordamerikanischen Landschaft angefertigt und für den Rechner aufbereitet; das gleiche geschah mit Clearance-Meldungen und Wet-terberichten, die in verschiedenen Verständlichkeitsstufen Eingang fanden. Das Ganze wurde mit Text und Grafik kombiniert und dient seither bei der Einweisung der Piloten in neue Gebiete als Ersatz für die Flüge. Um ein möglichst realitätsnahes Arbeiten zu ermöglichen, erhält der Pilot einen Materialordner mit Navigationskarten und Formularen, die auch während eines realen Fluges zu bearbeiten sind. Im Gegensatz zur Realität kann er aber eine viel reichhaltigere Bandbreite an Situationen durchspielen und sich zum Beispiel schwerverständliche Meldungen beliebig oft durchgeben lassen, um das Gehör zu trainieren und das Mitschreiben einzuüben Das System für Nordamerika ist vom Luftfahrtbundesamt genehmigt worden und wird bereits im praktischen Betrieb eingesetzt; für Südamerika ist man derzeit dabei, die Materialien zu erarbeiten.

Multimedial erfolgt auch die Security-Schulung der Piloten,

bei der ebenfalls interaktiv steuerbare Videos ablaufen. In diesem Modul soll die Reaktion auf Extremsituationen eingeübt werden, die während des Flugbetriebes auftreten können. Dazu zählen zum Beispiel das Verhalten bei Flugzeugentführungen oder Bombendrohungen.

Der Pilot muß situationsadäquat reagieren und an dem PC die entsprechenden Schalter betätigen, und zum Beispiel den Luftdruck in der Passagierkabine zu kontrollieren oder die Flughöhe zu verringern. Durch die Arbeit am Rechner wird die Seminarzeit für das Security-Programm halbiert.

*Fereydun Khanide ist geschäftsführender Gesselschafter der Penplan Consulting in München.

Dienstleistungscharakter

Derzeit ist noch nicht klar, was unter Multimedia-Anwendungen genau zu verstehen sei; der Begriff schwebt über allen Applikationen, die vorgeben, auf der Höhe der Zeit zu sein. In einer noch unveröffentlichten Studie rückt IDC den Dienstleistungscharakter von Multimedia-Anwendungen als "Bereitstellung des individualisierten Zugriffs auf jede Form digitaler Daten in kürzester Zeit" in den Mittelpunkt und weist darauf hin, daß eine bloße "Ansammlung digitaler Gerätschaften noch keine multimediale Anwendung schafft".

Multitalent für Multimedia

Eigentlich scheint alles ganz einfach: Multimedia-Anwendungen nutzen mehrere Medien zur Informationsdarstellung. So gesehen wäre allerdings schon ein Programm multimedial zu nennen, das ein beschriftetes Chart auf dem Bildschirm anzeigt und bei Fehleingaben des Benutzers ein Piepsen des Lautsprechers veranlaßt. Viele Multimedia-Systeme gehen heute nicht sehr viel weiter, als das Piepsen durch eine Melodie und das Chart durch animierte Grafik oder eine Videosequenz zu ersetzen. Außer acht gelassen wird dabei, daß die eigentliche Kunstfertigkeit darin besteht, die Einzelkomponenten zu einem sinnvollen Zusammenspiel zu bringen. Wie bei der Erstellung herkömmlicher Software ist dazu erstens programmiertechnisches Können notwendig und zweitens das Know-How in dem entsprechenden Anwendungsgebiet. In besonderem Maße spielt aber das Wissen um gestaltungs- und wahrnehmungspsychologische Mechanismen eine Rolle. Es ist eben nicht egal, ob eine bestimmte Information als Text und Grafik präsentiert wird, ob eine Animation zu sehen ist, ob ein Video abläuft oder ob Sprache übermittelt wird. Ohne das Schlagwort interdisziplinär zu strapazieren: Erforderlich ist der multitalentierte Fachmann oder, wo die geforderte Expertise sich nicht in einer Person vereinigt findet, die intensive Zusammenarbeit und der Austausch der einzelnen Fachleute.