Cast-Kommentar

Nicht warten, bis die Informationstechnik in den Brunnen gefallen ist

12.12.1980

Wir stehen in der Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft an einer kritischen Stelle: Die Leistungen von informationsverarbeitenden und -übermittelnden Systemen - also von Computern, Mikroprozessoren, Datenbanken, Datennetzen -erreichen oder übersteigen auf vielen Gebieten im nächsten Jahrzehnt die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns. In einigen Bereichen - zum Beispiel bei der Lösung von Rechenaufgaben - ist des Gehirn längst überflügelt worden. So wie motorisch-technischen Innovationen der letzten 150 Jahre das Selbstverständnis des Menschen und damit das gesamte Leben auf unserem Planeten grundsätzlich revolutioniert haben, so werden die auf uns zukommenden informationstechnischen Entwicklungen in einem heute kaum vorstellbaren Maße unsere Existenzbedingungen verändern. So wie die industrielle Revolution nicht ohne ungezähltes menschliches Leid, nicht ohne Verschüttung kulturellen Erbes und letztlich nicht ohne die durch die neue Waffentechnik möglich gewordenen Weltkriege abgelaufen ist, so werden auch die jetzt anstehenden Entwicklungen nicht ohne tiefe Umbrüche gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und allgemein menschlicher Art bewältigt werden können.

Wir müssen lernen zu akzeptieren

Akzeptieren wir unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung als Prämisse, so kann die Gefahr drastischer Umbrüche und deren Konsequenzen nicht durch staatlichen Dirigismus und planwirtschaftliche Eingriffe gebannt werden. Der einzige Weg, der uns Bürgern westlicher Industrienationen bleibt, ist eine breite Diskussion der anstehenden Probleme und möglicher Lösungen auf allen Ebenen: Im Beruflichen, Privaten, Wirtschaftlichen, Politischen und Gesellschaftlichen. Nur wenn es uns gelingt, das sich durch die informationstechnische Revolution wandelnde Denken weiterzuentwickeln, wenn wir lernen, Modelle der Integration und Kooperation von Mensch und informationstechnischem System zu erarbeiten, auf breiter Basis zu verstehen und viele notwendige Konsequenzen zu akzeptieren, können wir hoffen, daß die nächsten Jahrzehnte ohne tiefe Krisen - als Konsequenz der Informationstechnik - ablaufen werden.

Drei große Felder politischen Handelns erscheinen zentral:

Wir müssen die Festlegung von Grundrechten vereinbaren, die sicherstellen, daß jeder ein Recht auf Informationszugang, technische Unterstützung in der Informationsverarbeitung und auf Verbreitung seiner Information erhält.

Wir müssen dafür sorgen, daß der Mensch gegen negative Wirkungen der Informationstechnik geschützt wird, insbesondere gegen Ansätze, die Informationstechnik ausbeuterisch zu nutzen.

Wir müssen versuchen, die Entwicklung der Informationstechnik mit den allgemeinen Zielen unserer gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Entwicklung abzustimmen.

Diese Forderungen lassen sich weiter spezifizieren:

Wir brauchen eine transparente Erschließung des vorhandenen und der neu entstehenden Information, die es dem Menschen gestattet, sich in der komplexen Informationsumwelt zu orientieren.

Es muß ein breiteres Bewußtsein dafür entwickelt werden, daß ein verbesserter Informationszugang und eine verbesserte Telekommunikation Konsequenzen für das demokratische System haben.

Im Bereich "intelligenter" Telekommunikation sind möglichst bald Pilotprojekte mit größerer Bürgerbeteiligung durchzuführen, um die Interessen des Bürgers auf der Basis empirischer Untersuchungen kennenzulernen.

Die individuelle Ergänzung menschlicher Gehirne durch technische Informationsverarbeitungskapazität muß als ein wesentlicher Prozeß verstanden werden, der tief in menschliche und gesellschaftliche Beziehungen eingreift.

Es müssen Bestrebungen unternommen werden, die Einordnung von Information als bloße Ware abzulösen durch ein Konzept, in dem die Information einen Teil unserer Umwelt darstellt, der allen gleichermaßen verfügbar gemacht wird.

Es muß nach Verfahren gesucht werden, die den Wildwuchs an Informationszuwachs - der dem Wildwuchs an materiellen Umweltveränderungen vergleichbar ist - eingrenzen.

Eine Konzentration des Produktionsmittels "technische Informationsverarbeitung" ist dadurch zu vermeiden, daß die Funktion "lnformationsverarbeitung" in der Hand des Arbeitnehmers verbleibt.

Die großen Informationsproduzenten - Verlage, Studios, Rundfunkanstalten, die Forschung, die Gesetzgebung, die Justiz, Verwaltungen - sollten sich ihrer Funktion als potentielle "lnformationsverschmutzer" bewußt werden und in dieser Verantwortung handeln.

Die derzeitige zentralistischmonopolistische Kontrolle der Telekommunikation durch das Bundespostministerium und die Rundfunkanstalten ist abzulösen durch eine wesentlich öffentlichere und demokratisch direktere Aufsicht bei gleichzeitiger Liberalisierung der Zugangsmöglichkeiten zum Netz für die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft.

In der informierten Gesellschaft müssen Kompetenz und Verantwortung neu bestimmt werden. Dabei ist die Informationstechnik so zu entwickeln, daß sie Rücksicht nimmt auf den überkommenen Wunsch des Menschen, Kompetenz und Verantwortung möglichst selbständig zu tragen.

Enquete-Kommission "Konsequenzen der Informationstechnik"

Nach einer Phase der Information und Bewußtseinsbildung im Bildungswesen sind konkrete Planungen zur Reorganisation der Curricula und der Organisationsformen von Lehren und Lernen zu entwickeln.

Die mannigfaltigen Zusammenhänge zwischen rascher Entwicklung der Informationstechnik und Erhöhung militärischer Schlagkraft müssen öffentlich dargelegt und erörtert werden.

Die Kenntnisse der Bürger über Umfang der Speicherung und Verfügbarkeit der eigenen persönlichen Daten sind wesentlich zu verbessern. Es ist schärfer herauszuarbeiten, welche Daten einem strengen Schutz unterliegen müssen.

Die zukünftige Informationstechnik ist so zu gestalten, daß sie in der Freizeit persönliche Aktivität und Kreativität sowie den Kontakt zwischen dem Menschen stimuliert.

Der Deutsche Bundestag sollte umgehend eine Enquete-Kommission "Konsequenzen der Informationstechnik" bilden - nicht erst, wenn es praktisch zu spät ist - wie heute in der verfahrenen Kernenergienutzung .

Auszugsweise Wiedergabe aus dem bei Econ, Düsseldorf - Wien, erschienenen Titel "Der Große Bruder" von Klaus Haefner, Chancen und Gefahren für eine informierte Gesellschaft, Vorwort von Volker Hauff.