Neustart der Web-Agenturen

07.04.2006
Das Internet ist wieder en vogue, der Zusammenbruch der New Economy endgültig abgehakt. Die Branche der Web-Agenturen verspürt starken Aufwind.

Das Jahr 2002 war für die Manager der Old Economy eine schöne Zeit: Beruhigt konnten sie sich zurücklehnen und die Hände reiben, während es reihum gefallene Internet-Engel vom Himmel regnete. Rasend schnell und aus großer Höhe fielen die Web-Agenturen; im Gefolge stürzten Markennamen, Manager, Mitarbeiter und Investoren zu Boden. Nach dem Aufschlag mussten sich Firmen wie Sinnerschrader, Pixelpark, Syzygy und I-D Media neu orientieren. Mit Erfolg, denn es geht nach drei Jahren auf einmal wieder aufwärts: Umsätze steigen, Verluste geraten zur Ausnahme, Investoren fassen Vertrauen, und es werden Mitarbeiter gesucht. Die Branche der Internet-Agenturen steht 2006 vor ihrem zweiten Frühling.

Gründe für den Aufschwung

Die Rahmenbedingungen für die Arbeit der Web-Agenturen haben sich in den vergangenen Jahren trotz der vermeintlichen Krise entscheidend verbessert. Matthias Schrader, Vorstandschef der Hamburger Sinnerschrader AG, teilt die positiven Einflussfaktoren in vier Bereiche auf, die er "Leitplanken" nennt:

• Die Online-Anbindung und die PC-Verbreitung der Privathaushalte sind seit dem Jahr 2000 dramatisch gestiegen. DSL greift um sich, schnelles VDSL (für "Triple Play") wird die Branche weiter antreiben.

• Verbraucher haben (nicht zuletzt dank Ebay) gelernt, mit dem Internet "nutzenstiftend" umzugehen. Rund die Hälfte der Deutschen kauft online ein. Händler, Banken und Touristikfirmen finden ihre Kunden vor allem im Web.

• Die IT ist gereift, zudem ist ihr Preis gefallen. Viele Programme stehen als Open Source zur Verfügung, Bandbreite, Speicher und Server kosten nicht viel, die Tagessätze der Dienstleister haben sich stabilisiert.

• Das Marketing hat erfolgsbasierende Online-Modelle entdeckt. "Es müssen keine Werbespots mehr vor der Tagesschau gebucht werden", sagt Schrader. Mit einem überschaubaren Budget wird gestartet, dann skalieren im Idealfall die Marketing-Ausgaben mit dem Online-Geschäft.

Unter dem Strich rechnen sich die Investitionen der Anwenderunternehmen in den Online-Kanal wesentlich schneller als noch vor Jahren. Davon wiederum profitieren die einschlägigen Dienstleister. Sie bieten inzwischen mehr an als nur bunte Bilder am Frontend: E-Business-Lösungen und Informationssysteme, kreative Dienste (teils online und offline), Marketing-Kampagnen, Betrieb und Outsourcing der Web-Infrastruktur sowie die Analyse des Nutzerverhaltens.

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"Jetzt kann ich getrost behaupten, dass ich immer an den Erfolg geglaubt habe", scherzt Oliver Sinner. Der Mitgründer der Sinnerschrader AG galt seinerzeit in den Medien als "Rockstar der New Economy", als "Typ mit blonder Surfermähne" und nach seinem Rücktritt vom Vorstandsposten im Jahr 2002 und dem Rückzug aus dem operativen Geschäft immerhin noch als "Star a.D.". "Das wollten die Leute damals so haben", resümiert Sinner, der inzwischen seinen Frieden mit der Zeit geschlossen hat. Früher war er der "Grüßonkel" seiner Firma und stand "gerne im Rampenlicht"; heute lebt der Ex-Manager auf einem Bauernhof nahe der Ostsee, hat ein Hotel, ein Steakhaus und Immobilien.

"Down to earth" nennt Sinner das, und so könnte auch das Mantra der Web-Szene in den vergangenen Jahren gelautet haben. Nicht nur der "Unternehmer des Jahres 2000" zog um, seine ehemalige Firma wird in diesem Sommer ebenfalls neue Büroräume in Hamburg beziehen - mindestens zwei Nummern kleiner als bisher. "Wir verbessern uns dadurch bilanziell", ordnet Vorstandschef Matthias Schrader die Halbierung der Bürofläche bewusst nüchtern ein. Auch darin zeigt sich der positive Nebeneffekt der Krise: Sie zwang die betroffenen Dienstleister zur Professionalisierung.

Bloß nicht im Archiv wühlen

Von den kreativen Vertretern der IT-Szene sind einige auf der Strecke geblieben. Andere wiederum haben die Gelegenheit der vergangenen Jahre genutzt, sich zu stabilisieren. "Unter der Oberfläche ist in den Unternehmen viel passiert", erinnert sich Schrader. Bei Fragen zum "Damals" plädiert der CEO heute für ein "Archivverbot", denn schließlich liege der Beginn der Krise schon fünf Jahre zurück: "Es wird Zeit, endlich die Hexenaustreibung abzuschließen."

In der Tat zeichnet sich eine kräftige Erholung der Branche ab. Vor allem die steigende Bedeutung des Web für Unternehmen spielt den IT-Kreativen in die Hände: "Früher mussten wir das Internet den Kunden regelrecht verkaufen", erinnert sich Sinner. Heute hingegen setzen Konzerne online Millionenbeträge um, und das zu wesentlich geringeren Kosten als einstmals (siehe Kasten "Gründe für den Aufschwung"). Die Entwicklung schien vorgezeichnet, nur hat es laut Sinner "länger gedauert, als wir alle geglaubt hatten".

Entscheider hätten inzwischen keine Angst mehr, 100000 Euro in Internet-Projekte zu investieren, sagt Sinner: "Vor zwei Jahren wäre das noch ein Kündigungsgrund gewesen." So zählen die vergleichsweise kleinen Dienstleister inzwischen illustre Großkonzerne zu ihren Kunden: Bei Sinnerschrader sind es beispielsweise Comdirect, die Deutsche Bank, TUI oder Tchibo; Pixelpark nennt die WestLB, das ZDF, die Barmer Ersatzkasse und das Sparkassen-Finanzportal als Referenzen; zu Syzygys Auftraggebern zählen Daimler-Chrysler, Mazda Europe, Fleurop und Disney.

Losgetreten wurde die positive Entwicklung in der Branche durch die Millionen von Bundesbürgern, die in den vergangenen Jahren ihre Begeisterung für den elektronischen Handel entdeckt haben. Bereits 2004 hatte Vorstand Schrader die "AEG-Troika" als Triebfeder ins Gespräch gebracht: Amazon, Ebay und Google locken die Privatnutzer ins Web. Vor allem der Auktionsbetreiber hat hierzulande das Online-Eis gebrochen: Inzwischen wird über Ebay nach Angaben des Unternehmens in Deutschland jede Sekunde ein Kleidungsstück, alle zwei Minuten ein Notebook und alle elf Minuten ein Kühlschrank gehandelt. Pro Tag wechseln 13 Bagger über die Plattform den Eigentümer.

E-Skeptiker auf dem Rückzug

Angesichts solcher Zahlen mussten selbst überzeugte E-Skeptiker in den strategischen Entscheidungszirkeln der Old Economy hellhörig werden. "Die Firmen haben nach langer Zeit letztlich doch eingesehen, dass das Internet ein wichtiges Medium für Marketing und Vertrieb ist", bilanziert ein Web-Spezialist trocken. Ist der Groschen erst einmal gefallen, wird in den meisten deutschen Unternehmen kein Pardon mehr gegeben: Das Internet ist nicht mehr nur ein weiterer Absatzkanal, sondern die Zukunft. Auch deshalb geht wieder was in der Branche.

Syzygy will jetzt ernten

"Das Klima im Markt hat sich ab Mitte 2005 erheblich gebessert", berichtet Syzygy-Vorstandschef Marco Seiler, und: "Deutschlands hoher Reifegrad im E-Commerce kommt uns jetzt entgegen." Nachdem das Unternehmen in den beiden vergangenen Jahren den Umsatz um sechs beziehungsweise sieben Prozent steigern konnte, peilt der CEO dank der Auftragslage in der ersten Jahreshälfte 2006 ein organisches Wachstum von 20 Prozent an: "Von solchen Werten haben wir schon lange nicht mehr gesprochen." Zwar sei die Szene nie wirklich tot gewesen, sagt Seiler, "doch jetzt blüht sie wieder".

"Ich verstehe auch nicht, wieso das Internet immer totgeredet wurde", wundert sich Michael Riese, Vorstandschef der Berliner Pixelpark AG - "so, als sei es zwischendurch abgeschaltet worden." Das Unternehmen hat den Turnaround nach zwei Jahren inzwischen abgeschlossen. In einer ausdauernden Einkaufstour verstärkte sich Pixelpark mit Kompetenzen in den Bereichen IT und Werbung. Dabei wird die Strategie verfolgt, den Kunden das komplette Paket an Diensten vom hübschen Frontend bis zur Anbindung der drögen Daten im Backend anbieten zu können - einschließlich der klassischen Offline-Werbung. "Online und Offline wachsen immer stärker zusammen", sagt Riese.

Sinnerschrader änderte bereits 2004 die Strukturen und gab sich eine neue Positionierung: "Wir mussten unser Portfolio spitzer am Markt aufstellen", berichtet Vorstand Schrader. Entscheider in den Bereichen IT und Marketing werden nun gezielter angesprochen, Sinnerschrader hat dafür vertrieblich autarke Einheiten gebildet. Dennoch haben auch die Hamburger das komplette Sortiment einschließlich Web-Analyse, Outsourcing und Online-Marketing im Angebot. Nicht nur für Schrader ist die Kommunikationskompetenz ein wichtiger Bestandteil des Geschäfts. Ohne eigenes IT-Know-how laufe jedoch nichts: "Die Vorstellung, IT komme aus der Steckdose, hat sich bei vielen Kunden wieder überholt."

Die Stabilisierung der Anbieter und der Aufwärtstrend des Segments blieben Analysten und Investoren nicht verborgen: Die Kurse von Pixelpark und I-D Media haben sich einem Mehrjahreshoch genähert, der Wert von Elephant Seven verdoppelte sich innerhalb eines Jahres, und auch die Aktien von Sinnerschrader und Syzygy haben seit dem vergangenen Herbst deutlich hinzugewonnen. Inzwischen werde sein Unternehmen sogar von Analysten zum Gespräch eingeladen, sagt ein Vorstand. Das hätte es vor drei Jahren nicht gegeben: "Man wird plötzlich wieder wahrgenommen." Und nicht nur nach den voraussichtlichen Kosten der nächsten Entlassungswelle gefragt.

Agenturen planen Zukäufe

Trotz der wiedererwachten Euphorie erwarten die meisten Web-Experten eine Übernahmewelle im Markt. Dabei geht jedoch kaum jemand davon aus, dass sich die Großen der IT-Dienstleistungsbranche in das Segment einkaufen werden, um ihre Lücken im Kreativ-Portfolio zu stopfen. "Die Web-Agenturen stehen heute nicht mehr unter dem Druck, sich an IT-Konzerne verkaufen zu müssen", kommentiert Syzygy-Vorstand Seiler. Auch sei auf beiden Seiten die Erkenntnis gereift, dass die kulturellen Unterschiede für eine solche Verschmelzung vermutlich zu groß seien.

Eher werde es zu Übernahmen und Fusionen innerhalb des Segments kommen, heißt es unisono. Syzygy hat vom Börsengang noch über 45 Millionen Euro auf der hohen Kante, und bis zur Hauptversammlung Ende Juni soll eine Entscheidung fallen, was mit dem Geld passieren wird - ausschütten oder investieren. "Übernahmen sind ja nie ausgeschlossen", orakelt Vorstand Seiler. Die finanzielle Reserve sei eine "schöne Manövriermasse" und biete die Chance, "im Markt aktiv zu werden". Pixelpark-Chef Riese erwartet, dass aus den Top Ten des Web-Agentur-Segments eines Tages die "Big Five" der Branche entstehen könnten.

Der aktuelle Aufschwung der Szene steht auf einem stabileren Fundament als der Hype der Online-Gründerzeit. Hausgemachte Fehler in den Agenturen wurden behoben; zudem besteht kaum noch die Gefahr, dass die Dienstleister zu schnell wachsen. Auch hat sich das Business gewandelt: "Vor fünf Jahren brauchte jedes Unternehmen einen Internet-Auftritt, das Geschäft war stark vom Frontend geprägt", sagt Pixelpark-Chef Riese. Heute spreche man über E-Business, welches auch das IT-Backend umfasst, und das sei eine andere "Hausnummer".

Hinzu kommt, dass viele Firmen ihr Online-Geschäft in der Vergangenheit vernachlässigt und sich von Mitarbeitern getrennt haben. Nun buchen sie häufig notgedrungen das komplette Portfolio des Dienstleisters von der Beratung über die Umsetzung bis hin zum Betrieb. Derartige Projekte seien natürlich "sehr dankbar", freut sich ein Vorstand.

Die Agenturen dürften sich auch mittelfristig auf gute Geschäfte einstellen, denn die Entwicklung steht erst am Anfang: "Das gesamte IP-Universum fächert auf, und überall bilden sich neue und interessante Nischen", sagt CEO Schrader. Das Fernsehen wird allmählich interaktiv, Triple Play (Sprache, Daten und Videos auf einer Leitung) bahnt sich an, und selbst die klassische Außenwerbung wechselt von Plakaten zu Flachbildschirmen mit Internet-Anbindung. "Wir müssen uns von einer Web-Agentur zu einem Anbieter interaktiver Marketing-Dienstleistungen wandeln", fordert Syzygy-Vorstand Seiler. "Wenn die Unternehmen heute rund fünf Prozent ihrer Marketing-Budgets in den interaktiven Bereich leiten, werden es mittelfristig locker 15 Prozent sein", gibt er sich zuversichtlich.

Für zusätzlichen Schub sollen neue "gesellschaftliche Phänomene" aus den USA sorgen, die unter dem Begriff "Web 2.0" gehandelt werden, jedoch Seiler zufolge "hierzulande noch gar nicht richtig angekommen sind". Gemeint sind Community-Seiten wie Facebook, Ivillage oder Myspace.com; auf letzterer haben sich mehr als 67 Millionen Nutzer registriert, die ihre Interessen online miteinander teilen können. Auch hier entsteht Neuland für die Dienstleister und andere interessierte Kreise: Das Imperium des Medienzaren Rupert Murdoch hat Mitte 2005 rund 580 Millionen Dollar für Myspace.com bezahlt.

Fortschritt durch Technik

Das Internet ist in Bewegung, und die Bewegung treibt die Interaktiv-Agenturen voran: "Schließlich basiert ein Großteil des Geschäfts auf IT, und die steht nun mal nicht still", sagt Ex-Manager Sinner. Selbst in seinem Dorf nahe der Ostsee hat sich das moderne Internet breit gemacht - per Satellit aus dem Himmel: "DSL gibt es hier nicht, und nach ISDN-Karten müssen Sie heute suchen." So zwingt der Fortschritt jeden der Beteiligten, sich anzupassen. Denn auf das Internet zu verzichten ist in Unternehmen und Privathaushalten keine glaubwürdige Option mehr. Dies galt schon im Jahr 2000, und 2006 gilt es erst recht.