Zwischenbilanz der High-Tech-Börse in Frankfurt

Neuer Markt: Warten auf das Ende der Euphorie

14.08.1998

"Die Telekom geht jetzt an die Börse, da gehe ich mit!" Im Spätsommer 1996 verging kein Abend, ohne daß der Schauspieler Manfred Krug dem Fernsehzuschauer leichtverdauliche Börsenkost servierte. Die Werbespots verfehlten ihre Wirkung nicht. Deutschlands übervorsichtige Sparer stürzten sich förmlich auf die neue "Volksaktie". Daß das Papier zwischenzeitlich die Investoren arg enttäuschte, ist ein anderes Thema. Hans Trobitz, Abteilungsleiter Corporate Finance der DG Bank, zieht aus der Börsenpremiere der T-Aktie jedenfalls diese Schlußfolgerung: "Es gibt sehr, sehr viel Geld in Deutschland, und eine Menge von diesem Kapital fließt neuerdings in die Aktienmärkte."

Das sind keineswegs Worthülsen. Denn legte die Deutsche Telekom den Grundstein für das neuerwachte Aktieninteresse in Deutschland, so heizte die Deutsche Börse AG das Spekulationsfieber nur wenig später erst richtig an. Am 10. März 1997 gründeten die Frankfurter nach rund zweijähriger Vorbereitungszeit das Handelssegment "Neuer Markt" für junge Wachstumsunternehmen und landeten damit einen Volltreffer. Ganz gleich, welches Unternehmen in die Bookbuilding-Phase geht - Stunden später sind die Papiere meistens hoffnungslos überzeichnet. So mußte beispielsweise die Zeichnungsfrist für die Aktien des Weßlinger CAD-Spezialisten Mensch und Maschine Software AG (MuM) im Juli vergangenen Jahres bereits am ersten Tag wegen massiver Nachfrage beendet werden.

Zuteilungen per Losentscheid an die Privatinvestoren sind seither am Neuen Markt ebenso an der Tagesordnung wie fürstliche Kursgewinne für die Erstzeichner - entsprechende Erlöse für die betreffenden Firmen inklusive.

Die Euphorie der Anleger und die durchweg erfolgreichen Emissionen der "Pioniere" am Neuen Markt hat denn auch bei immer mehr Unternehmen den Mut zum Risiko geweckt. Fast im Wochenrhythmus kam es zuletzt zu neuen Börsengängen; zuletzt zog es auch das klassische IT-System- und Beratungshaus Soft-M sowie den E-Commerce-Shooting-Star Intershop Communications an das neue Börsenparkett in Frankfurt. Die in Gera ansässigen Internet-Spezialisten um Firmengründer Stephan Schambach verlegten zu diesem Zweck sogar ihre zwischenzeitlich nach Kalifornien ausgesiedelte Firmenholding wieder zurück nach Deutschland. Mitte Juli waren 40 Firmen am Neuen Markt gelistet, derzeit sind es schon 44 - die Liste der Namen reicht mittlerweile von "A" wie Aixtron bis "W" wie W.E.T Automotive Systems. Und im September wird es munter weitergehen. In den Startlöchern stehen unter anderem die Softwareschmiede PSI, der Internet-Zahlungsverkehr-Spezialist Brokat sowie MB Software und der ostdeutsche PC-Fertiger und -Händler Lintec.

Auch die Emittenten selbst sind trotz der nicht unerheblichen Kosten, die das Going Public mit sich bringt (zwischen sieben bis neun Prozent des Emissionsvolumens) durchweg zufrieden. Dabei ist es nicht immer nur das offenkundig leichtverdiente Kapital, das den Börsengang erstrebenswert macht. Günter Steffen, Vorstandschef des Heilbronner Dienstleisters TDS Informationstechnolgie AG, der seit Juli am Neuen Markt notiert ist, stellte bereits Wochen zuvor eine deutliche verbesserte Publicity fest: "Als wir unsere Pläne in Sachen Börsengang bekanntgegeben hatten, war für uns die Personalbeschaffung kein so großes Problem mehr."

Der durchschnittliche Tagesumsatz lag am Neuen Markt zuletzt bei rund 719 Millionen Mark, das gesamte Emissionsvolumen beträgt bisher 2,8 Milliarden Mark. "Bei 40 Listings ergibt das ein durchschnittliches Emissionsvolumen pro Unternehmen von 70 Millionen Mark", rechnet Ingo Trosien, für den Neuen Markt zuständiger Manager bei der Deutschen Börse AG, vor.

Die Freude, aber auch die spürbare Erleichterung der Initiatoren des deutschen Pendants zur US-Computerbörse Nasdaq ist verständlich. Denn die löbliche Erkenntnis, daß es in Deutschland an einem Handelssegment für junge Wachstumsunternehmen fehlt, ging vor gut zwei Jahren sowohl in Börsen- als auch in Bankerkreisen mit der Furcht einher, daß die Etablierung eines entsprechenden Börsenparketts zum Flop geraten könnte. "Die Börsianer vertraten den Standpunkt, daß man kein spezifisches Handelssegment benötigt. Für die Banker gab es weder interessante Kandidaten im High-Tech-Umfeld noch potentielle Investoren in die Aktien solcher Unternehmen", beschreibt Waldemar Jantz, Managing Partner der Münchner Venture-Capital-Gesellschaft TVM, die damaligen Widerstände.

Möglicherweise hätten sich seinerzeit die Skeptiker durchgesetzt, wäre nicht generell Bewegung in die europäische Börsenlandschaft gekommen. Die Franzosen hoben den Nouveau Marché in Paris aus der Taufe, kurz darauf wurden erste Pläne zur mittlerweile ebenfalls längst etablierten Easdaq in Brüssel publik. "Plötzlich ging es nicht mehr darum, ob man ein entsprechendes Handelssegment einrichtet, sondern wie und mit welchen Zugangsvoraussetzungen", erinnert sich Jantz. Herauskristallisiert hat sich letztendlich ein für den Neuen Markt geltendes straffes Regelwerk. Gefordert wird dort beispielsweise ein bestimmtes Emissionsvolumen, um die Liquidität sicherzustellen; die alten Anteilseigner dürfen frühestens sechs Monate nach dem Going Public ihre Aktien verkaufen, und den emittierenden Unternehmen wurde ein hohes Maß an Informationspflicht auferlegt (siehe Abbildung Seite 29).

Neben der Festlegung der Regularien galt es allerdings auch, die Banken zu überzeugen, daß der Neue Markt funktionieren würde. "Die Deutsche Börse hat viel Wind um ihr neues Handelssegment gemacht", blickt DG-Banker Trobitz zurück. Frei nach dem Motto "Mit Speck fängt man Mäuse" seien die Börsianer durch die Banken getourt und hätten unter anderem eigens angefertigte Videos von den potentiellen Börsenkandidaten gezeigt. Der Aufwand hat sich offenbar gelohnt. Selbst in den honorigsten Kreditinstituten hat sich nach den ersten Anfangserfolgen ein gewisses Börsenfieber eingeschlichen. Zwar sichern sich die Geldhäuser noch durch, wie es im Branchenjargon heißt, verstärkte Plausibilitätsprüfungen ab. Doch längst stürzen sich die Banker auf alles, was auch nur den Anschein vermittelt, für die Frankfurter High-Tech-Börse tauglich zu sein.

Mit der Bilanz des Neuen Marktes knapp eineinhalb Jahre nach seinem Start ist Risikokapital-Spezialist Jantz "im großen und ganzen sehr zufrieden". Gleichwohl sieht er die Kehrseite der Medaille. Die Stimmung sei mittlerweile ziemlich überhitzt; die Anleger stürzten den Papieren fast schon blind hinterher. Seine Befürchtung: Wenn die Kurse zusammenbrechen, könnte es "zur Panik unter den Investoren kommen". Walter Allwicher, Sprecher der Deutschen Börse AG, formuliert es sachlicher: "Jeder Anleger am Neuen Markt muß sich dessen bewußt sein, daß er in ein sehr chancenreiches, aber auch riskantes Handelssegment geht und daß er gerade hier nicht nur mit steigenden Kursen rechnen kann."

Die aufgeputschte Stimmung führte schon jetzt zu teilweise drastischen Kursschwankungen. Dies hat in diesem Jahr vor allem die Berliner Softwareschmiede Beta Systems erfahren müssen, die Ende Juni vergangenen Jahres an die Frankfurter High-Tech-Börse ging.

Aktie von Beta Systems kam ins StrauchelnHielt sich der Kurs der Aktie bis Anfang 1998 stabil zwischen 150 und 160 Mark, kam der Titel, bedingt durch ein von Produktproblemen geprägtes schwächeres viertes Quartal, das die Gesamtbilanz 1997 trübte, arg ins Straucheln und notiert derzeit unter 50 Mark (siehe Kasten). "Natürlich ist es nicht schön, von der Wirtschaftspresse als Flop des Jahres bezeichnet zu werden", beschreibt Beta-Systems-Finanz- und Personalchefin Christiane Hotz-Firlus die Kehrseite der Popularität eines am Neuen Markt gehandelten Unternehmens.

Zusätzlich angestachelt wurden und werden die Anleger zum Teil auch durch selbsternannte Börsengurus, die in Fernsehsendungen und Börsenblättern die Aktien von Unternehmen des Neuen Marktes "bewerten". So profitierte beispielsweise im März dieses Jahres die Aktie des TK-Dienstleisters Mobilcom von den kühnen Prognosen des Journalisten Egbert Prior in der Fernsehsendung "3Sat-Börse", der dem Papier (damaliger Kurs: 1200 Mark) einen potentiellen Wert von 3000 Mark attestierte. Folge: Am darauffolgenden Handelstag schnellte der Kurs zeitweise bis auf über 1800 Mark hoch, um schließlich bei Börsenschluß auf 1450 Mark zurückzufallen. Weniger Tage später sank die Mobilcom-Aktie sogar auf unter 1000 Mark.

Mit einschneidenden Konsequenzen für die bis dahin durchweg positive Resonanz auf den Neuen Markt in Börsenkreisen. Von Insidergeschäften war (und ist) auf einmal die Rede, vom "Zockermarkt" und Kursmanipulationen. Insider-Trading habe es jedoch, so TVM-Manager Jantz, in Deutschland auch in der Vergangenheit schon immer gegeben, nur habe man es bis dato "nicht ernst genommen". Daß der Neue Markt jetzt in die Schußlinie geraten ist, hat für ihn als Vertreter der derzeit boomenden deutschen Venture-Capital-Szene deshalb auch sehr stark mit dem "Neid seiner einstigen Kritiker" zu tun.

Fakt ist nach Ansicht vieler Experten allerdings auch, daß es zahlreichen Unternehmen, die am Neuen Markt das Abenteuer Börse in Angriff genommen haben, an Substanz mangelt. Ein Insider: "Die haben nur ein gutes Produkt, aber noch keine tragfähige Infrastruktur - sei es hinsichtlich der Unternehmensorganisation oder in puncto Internationalität. In einigen Fällen dürfte daher der Crash vorhersehbar sein.".

Beate Kneuse ist freie Journalistin in München.