Neue Version des Netz-Betriebssystems und des Directory Service Trotz Ueberarbeitung haelt Vines die Konkurrenz nicht auf Abstand

12.05.1995

MUENCHEN (CW) - Die Banyan Systems Inc. wird vom Netzwerkmarkt in die Zange genommen. Von der einen Seite draengen starke Konkurrenten wie Novell und Microsoft in das Geschaeft mit unternehmensweiten Netzen, zudem machen die komplexeren, leistungsstaerkeren und breiter angelegten Technologien der Banyan- Vorherrschaft bei den uebergreifenden Verzeichnisdiensten das Leben schwer.

Von Industriebeobachtern und Anwendern wird kaum bestritten, dass Banyan mit den Verzeichnisdiensten Enterprise Network Services (ENS) ein umfassendes Werkzeug fuer heterogene unternehmensweite Infrastrukturen liefert, das von Konkurrenten neidvoll bestaunt wird. Mit AIX, HP-UX und neuerdings auch Sun Solaris unterstuetzt ENS neben wichtigen LAN-Protokollen die drei am weitesten verbreiteten Unix-Derivate und somit ein breites Spektrum an Netz- Betriebssystemen.

Dennoch ist nicht alles eitel Sonnenschein im Hause Banyan, denn das Flaggschiff "Vines" kraenkelt. Der Patient ist laut Banyan zwar immer noch bei Grosskunden gern gesehen, doch aus den Entwicklungsabteilungen von Microsoft und Novell reifen mit Windows NT beziehungsweise Netware 4.1 ernsthafte Konkurrenten heran. Das Marktforschungsinstitut Dataquest machte in einer Studie nur einen kleinen Banyan-Anteil im von Novell dominierten Gesamtmarkt fuer Netz-Betriebssysteme aus (siehe Grafik).

Dataquest untersuchte auch das Geschaeft fuer Installationen mit mehr als 50 Usern und bestaetigte Banyans Darstellung, in grossen Unternehmen eine bessere Position zu haben. In Europa kann die Company bei dieser Betrachtungsweise auf acht Prozent verweisen, in den USA erreicht Banyan sogar stolze 49 Prozent. Dieses Ungleichgewicht zwischen der Alten und der Neuen Welt resultiert aus dem traditionellen Fokus des Unternehmens auf den amerikanischen Markt.

Die Zahlen beleuchten allerdings den Markt des vergangenen Jahres, in dem sich Windows NT und Netware 4.1 noch nicht etabliert hatten. Abzusehen ist jedoch, dass beide auf dem von Vines beanspruchten Platz Boden gutmachen werden, laut der amerikanischen CW-Schwesterpublikation "Network World" sind bereits einige Kunden zu Windows NT oder Netware uebergewechselt.

Um ein verbessertes Produkt bemueht, bringt Banyan nun die bereits lang erwartete Version 6.0 des Netz-Betriebssystemes Vines auf den Markt. Erweiterungen wie remote Log-in-Funktionen sowie die Moeglichkeit, auch an Vines-fremde Anwender aus einer allgemein zugaenglichen Adressdatei heraus E-Mails schicken zu koennen, sollen die Kunden bei der Stange halten. Die remote Anbindung wird in Vines 6.0 auch ueber nicht Hayes-kompatible Modems erfolgen koennen, die unterstuetzte maximale Tranferrate erhoehte Banyan zudem von 19,6 Kbit/s auf 38,4 Kbit/s. Bei der Kommunikation zwischen zwei Servern ist eine Geschwindigkeit von 78,6 Kbit/s moeglich.

Fuer Aufregung bei Anwendern und Analysten sorgte die Ankuendigung, Vines 6.0 mit echter TCP/IP-Unterstuetzung ausliefern zu wollen. "Natives TCP/IP in Vines ist besonders wichtig", aeusserte sich dazu Chris Bening, Vice-President bei der General American Credits Inc., "bei unseren Anwendern werden Internet-Verbindungen immer beliebter."

Trotz der Vines-Ueberarbeitung fuerchten vor allem amerikanische Analysten, Banyan werde es nicht gelingen, die derzeit installierte Basis zu erweitern, zu stark sei mit Novell, IBM und Microsoft die Konkurrenz. Versaeumt habe Banyan ausserdem, unabhaengige Softwarehaeuser zur Entwicklung von Vines- Zusatzprodukten zu animieren, Novell und Microsoft seien diesbezueglich sehr viel erfolgreicher - beispielsweise fuer das Eli Broad College of Business an der Michigan State University ein Grund, von Banyan Vines auf eine Windows-NT-Umgebung umzusteigen.

Traditionell schwieriges Verhaeltnis zu Anwendern

Der fuer die Universitaet zustaendige System Analyst, Brendan McTague, bemaengelte zudem die Qualitaet des Netz-Betriebssystems und des Supports. Der Hersteller war laut McTague bei der Neu- Installation von Vines fuenf Tage lange nicht in der Lage, einen von sechs Servern in das Netz einzubinden, und schickte danach noch innerhalb von zehn Monaten insgesamt 100 Korrekturanweisungen. "Ich habe keine Lust, fuer Betasoftware zu zahlen", liess der System Analyst gegenueber der CW- Schwesterpublikation "Network World" Luft ab.

Schon immer, so bestaetigt auch Dataquest, hat Banyan ein schwieriges Verhaeltnis zu den eigenen Vines-Anwendern gehabt, obwohl der Erfolg gerade auf der treuen Kundschaft basiert. Ein zusaetzlicher Bruch entstand im letzten Jahr, als der Vines- Hersteller sich entschloss, die Lizenzpraxis zu aendern und nicht, wie bis dato ueblich, eine unlimitierte Anwenderzahl zuzulassen, sondern den Kunden pro User zahlen zu lassen. "Das hat das schlechte Gefuehl verstaerkt", kritisierte Patrick Salmon, IT- Spezialist in Diensten der Florida Teaching Profession. Die Ausbildungsorganisation migriert derzeit von Vines auf Windows NT.

Andere Grosskunden wie etwa das US Marine Corps stehen noch zu Banyan, konfrontierten das Unternehmen kuerzlich jedoch mit einem Forderungskatalog. Das Network Applications Consortium (NAC), ein Zusammenschluss aus 26 grossen amerikanischen Netzanwendern, verlangt von Banyan und Novell unter anderem, dass die Anbieter ihre Verzeichnisdienste kompatibel zu allgemein anerkannten Transportprotokollen machen, einheitliche Application Programming Interfaces (APIs) integrieren

sowie Sicherheitsparameter und Namenskonventionen einfuehren.

Hoechste Prioritaet fuer das NAC hat die Umgestaltung der Verzeichnisdienste in X.500-kompatible Verfahren. Derzeit entwerfen die Anbieter ihre Directory Services nur fuer eigene Systeme und achten laut "Network World" darauf, lediglich im geringen Ausmass Verfahren zu integrieren, die anderen Applikationen den Zugriff erlauben. Zwar aehneln die Netware Directory Services (NDS) von Novell und Streettalk von Banyan den X.500-Diensten, doch keine der Loesungen genuegt allen Spezifikationen. Beide Hersteller kuendigten jedoch an, ihre Verfahren dem Standard anzupassen, Banyan, so meldet der Fachinformationsdienst "Computergram", will im naechsten Jahr eine X.500-kompatible Streettalk-Version vorlegen und somit wenigstens Teile der NAC-Forderungen erfuellen.

Des weiteren plant das Unternehmen, ENS bis Ende des Jahres unter Windows NT verfuegbar zu machen und Electronic-Commerce-Funktionen einzubauen. Um unabhaengige Software-Entwickler zu animieren, ihrerseits Programme fuer ENS zu schreiben, gibt Banyan die Directory Services Streettalk kostenlos und von Vines entkoppelt ab.

Industriebeobachter warnen Banyan jedoch davor, den Unternehmensfokus zur sehr auf Streettalk und ENS zu richten, das finanzielle Standbein sei derzeit noch eindeutig das Netz- Betriebssystem Vines. Die deutsche Dependance hat im vergangenen Jahr rund 20 Prozent des Umsatzes mit ENS erwirtschaftet. Das Management der Niederlassung erwartet zwar einen deutlichen Anstieg des ENS-Anteils, Vines werde jedoch weiterhin dominierend bleiben.