Neue Schärfe in der Berufsbildungsdebatte

16.04.1981

Dr. Reimut Jochimsen, Wirtschaftsminister in Nordrhein-Wesftfalen (SPD)

Was wollen wir jungen Menschen sagen, wenn wir erkennen, daß wir sie in berufliche Ausbildungsgänge schicken, die schon jetzt den Anforderungen der nächsten fünf Jahre technischen Wandels nicht standhalten können? Die Berufsbildungsdebatte der siebziger Jahre wird mit neuer Schärfe aufleben. Was werden wir den von Arbeitslosigkeit Betroffenen sagen, die bereit zur Weiterbildung - Angebote suchen, aber nicht erhalten, weil das Bildungssystem mit der ihm eigenen Zeitverzogerung auf alles reagiert, was sich in der Welt tut? Es mag sinnvoll sein, daß man gelassen hinnimmt und erst einmal unbeirrt fortfährt. Nur hier verändern sich nicht Wertvorstellungen und Haltungen, hier verändern sich Lebensbedingungen von Arbeitnehmern in großem Tempo, das noch nicht einmal dem zu aller Fortbildung bereiten, qualifizierten Arbeitnehmer Chancen wie früher läßt oder doch droht, sie zu entziehen.

Zeitverschiebung

Ich glaube, daß die Bewältigung dieser Zeitverschiebung und der in ihr angelegten Verkürzung der Innovation und Implementation auf breitester Grundlage das eigentliche Problem der nächsten Jahre sein wird. Ich bin sicher, daß dies, was Auswüchse angeht, beherrschbar ist und daß es auch gestaltbar ist, und ich bin sicher, daß Bildung und Ausbildung noch für manchen Zeitgenossen in unerwarteter Weise wichtig werden wird.

Aber es wird wohl nicht ausreichen, die Probleme nur zu analysieren, genau zu beschreiben und in die Programmatik der gesellschaftlichen Gruppen einfließen zu lassen. Wir brauchen für die Arbeitnehmer eine Sicherung, die ihnen das Schritthalten mit diesem Wandlungsprozeß ermöglicht. Sie muß nicht der Heizer auf der Elektrolok sein, aber könnte zum Beispiel der Aufbau eines zum Teil aus Rationalisierungsgewinn finanzierten Weiterbildungssystems sein. Schon heute ist der Mikroprozessor ja im Bereich der Weiterbildung ein Vorreiter für neue Strategien der Einführung von technischen Innovationen. Große Bauelementefirmen lassen Weiterbildungspakete voranlaufen, sie verkaufen zunächst nicht das Bauelement, sondern die Weiterbildung.

Damit binden sie den so weitergebildeten Arbeitnehmer zugleich an die spezifische Technik ihres Produktes, an die spezifische Maschinensprache ihres Chips. Sie sichern zugleich der Software den Vormarsch im Gefolge der Hardware.

Atavistische Züge

Diese Spezifität des Mikroprozessors läßt firmeninterne Weiterbildung so logisch erscheinen und macht öffentliche Weiterbildung so schwierig.

Der Mikroprozessor ist Symbol schnellen technischen und sozialen Wandels geworden. Atavistische Züge trägt die Diskussion um den Jobkiller, naive Züge zum Teil die Spekulation auf eine rasche Humanisierung der Arbeitswelt durch Einsatz elektronischer Technik.

Ich bin fest davon überzeugt, daß der Verlust von Arbeitsplätzen in der Bilanz nur durch eine vernünftige Politik verhindert werden kann, an der die Sozialpartner ihren gehörigen Anteil haben. Noch glaube ich nicht, daß Technik in der Lage wäre, die Möglichkeiten von Politik einfach zu überrollen. Ich bin davon überzeugt, daß unser politisches Instrumentarium ausreicht, um die sozialen Folgen dieser technischen Entwicklung zu beherrschen und ins Positive wenden zu können. Allerdings setzt dies eines voraus und das ist wohl der springende Punkt. Die Interessen der Arbeitnehmer mit ihrem existentiellen Interesse an befriedigender Arbeit müssen mindestens ebenso ernst genommen werden wie die Gesichtspunkte der Rentabilität und der Effektivität.

Naive Hoffnung

Je früher sich der Ausbildungssektor auf die Notwendigkeit einer Veränderung in den Prioritäten seiner Lernziele oder auch in der Überprüfung der zeitlichen Dimension von Erstausbildung im Verhältnis zu Weiterbildung einstellt, um so früher können Arbeitnehmer in dem sich beschleunigenden Wandlungsprozeß aktiv ihre Zukunft gestalten. Je schneller sich die Sozialpartner auf Strategien verständigen, die Veränderungen in der Arbeitsplatzstruktur für den einzelnen erträglich und beeinflußbar machen, um so eher kann die neue Technik statt einer naiven Hoffnung auf Humanisierung zu wirklicher Verbesserung führen.

Sensible Vorgänge

Ich habe keinen Zweifel, daß eine kühle und rationale Politik das schaffen kann. Aber wir haben es mit sensiblen Vorgängen zu tun die angstbesetzt sind und die die Interessen der arbeitenden Menschen unmittelbar tangieren. Und eine kritischer gewordene junge Generation wird nicht zuletzt fragen, wem dies alles nützen solle, wenn nicht den Menschen selbst. Wir werden schnell überzeugend antworten müssen, nicht aus der semantischen Retorte, sondern überzeugend mit Beispielen.

Unsere Lage gleicht dabei der der berühmten Alice, die in ihrem Wunderland der Schwarzen Schachkönigin begegnet. Der Oxforder Mathematikprofessor Dodgson alias Lewis Carroll läßt da seine Märchenfigur Alice folgendes erleben: "Bei uns" sagt die Schwarze Schachkönigin Alice, "mußt du laufen, so schnell du irgend kannst, um wenigstens auf der Stelle zu bleiben. Wenn du weiter kommen willst, muß du mindestens doppelt so schnell laufen. "

Das war vor Hundert Jahren was wird man in Fünf Jahren sagen?

Dieser Kommentar wurde dem Tagungsband " Mikroelektronik, sozialer Wandel und Bildung", erschienen im Beltz Verlag (Weinheim und Basel), mit freundlicher Genehmigung des Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften an der Universität Kiel (IPN) entnommen.