IT in der Medienbranche/Anwender fühlen sich als "Redaktroniker" und "Versuchskaninchen"

Neue Redaktionstechniken bedeuten nicht immer Arbeitserleichterung

02.10.1998

"Jahrzehntelang", so Martin Vogler, Chef vom Dienst (CvD) bei der "Main-Post" in Würzburg, "hat sich im Journalistenalltag nichts geändert." Heute jedoch gelten Arbeitsabläufe, die völlig logisch erschienen, als überholt. Wer in den Beruf einsteigen will, sollte nicht nur etwas von Sprache und seinem Sachgebiet verstehen, sondern auch den Umgang mit Handy, Laptop, Modem und Mailboxen beherrschen. Bald wird außerdem die Digitalkamera zur Standardausrüstung zählen.

Die Internet-Präsenz der Zeitungen bringt im Redaktionsalltag zusätzlichen Druck. Im elektronischen Medium muß die Ausgabe des nächsten Tages bereits um 19 Uhr abrufbar sein. Viele Redakteure sind irritiert, fühlen sich überfordert. Die Angst, den wachsenden Anforderungen nicht mehr standzuhalten, geht um.

"Wir werden zu Redaktronikern", mahnen kritische Journalisten. Hatten sie sich früher allenfalls mit dem Metteur herumzuschlagen, der ihren Vorgaben zur Seitengestaltung nicht immer entsprach, müssen sie heute viele Aufgaben der Produktion gleich mit erledigen. Und dies in einer Zeit, wo Verleger Stellen streichen, Honorare für freie Mitarbeiter kürzen und der Streß in den Redaktionen gewaltig steigt.

Bei der Main-Post produziert die Redaktion täglich 150 Seiten. Mit der Umstellung auf das neue System "News 2000" von IBM ist Vogler zufrieden. "Es soll Redaktionen geben, die modernste Systeme einsetzen, aber ihre Arbeit noch immer so organisieren wie in der Bleizeit."

Noch 1994 lief bei der Main-Post alles wie gehabt: Redakteure gaben ihre Texte in die Großrechnerterminals ein und mußten nachmittags zum Umbruch in die Setzerei. Für die Kollegen am Verlagssitz in Würzburg relativ einfach, für die Außenredaktionen jedoch ein großes Handikap. Bei der morgendlichen Lektüre des Lokalteils erlebte manche Redaktion eine üble Überraschung.

Heute, so Vogler, sei jeder Redakteur in der Lage, nicht nur Texte zu verfassen und Agenturen anzuzapfen. Jeder könne seine Seiten auch komplett am Bildschirm fertigstellen. Dies "verdanken" die Journalisten einem generalstabsmäßig konzipierten neunmonatigen Umstellungsplan, der laut Vogler auf den Tag genau eingehalten wurde.

Producer helfen beim schwierigen Layout wie zum Bespiel Sporttabellen oder Wahlprognosen. Auch bei anzeigenbedingten Umbauten stehen sie den schreibenden Kollegen zur Seite. Für Schulungen, Systemverbesserungen und Produktionsbetreuung wurden drei weitere Spezialisten angeheuert.

Wie die Kollegen in Würzburg hatte sich auch die "Süddeutsche Zeitung" zunächst für das IBM-System entschieden. "Doch eines schwülen Sommertags im Jahr 1994", erinnert sich CvD Ulrich Schulze, teilten Manager von Big Blue der verdutzten Geschäftsführung mit, "News 2000" sei nicht länger ein strategisches Produkt. Zwei Jahre intensiver Entwicklungsarbeit mit dem Lieferanten schienen für die Katz.

Doch die Blattmacher ließen den Kopf nicht hängen. Sie ließen neue Lieferanten präsentieren und überprüften ihre Systeme auf Herz und Nieren. "Von Anfang an bestimmte der redaktionelle Anforderungskatalog das Projekt", sagt Schulze. Nach nur drei Monaten entschied man sich für einen Pilotversuch mit "Hermes" von Unisys. "Vorrang dem Text" - Macintosh-Systeme hatten keine Chance.

Weil das neue Redaktionssystem angestammte Arbeitsläufe auf den Kopf stellt, gerieten Projektleitung und Betriebsrat aneinander. Externe Schulungen wurden ebenso abgelehnt wie das Training hauseigener Ausbilder. Man zog vor das Arbeitsgericht, doch zuletzt behielt die Projektleitung Oberhand. Schulze, in Anlehnung an den Lyriker Erich Fried: "Wer will, daß die Welt bleibt, wie sie ist, will nicht, daß sie bleibt."

Inzwischen hat sich Hermes auch in den Außenstellen etabliert. Bis zum Pauschalisten stehen jedem Mitarbeiter gemäß Betriebsvereinbarung dreitägige Windows-Einführung und einwöchige Hermes-Kurse zu. Wer sich auch um das Layout kümmern muß, konnte zusätzlich einen fünftägigen Kurs buchen. Fünfhundert SZ-Mitarbeiter erwarben ihren "Terminal-Führerschein". Von den Trainern betreute Hotlines und Newsletter mit Bearbeitungs-Tips sicherten die Umstellung weitgehend ab.

Inzwischen sind die Redakteure mit einem Client-Server-System konfrontiert, das die Bearbeitung eines Textes in allen Etappen nachvollziehen kann und den Zugriff übers Netzwerk erlaubt. Einschließlich des Einfügens von Fotos und Grafiken sowie der redaktionell verwalteten Text- und Seitenkorrektur finden wichtige Produktionsschritte in der Redaktion statt.

Hermes legt automatisch alle redaktionellen Seiten im Archivsystem ab. Mit der Hilfefunktion "Reach-out" können Betreuer den Redakteuren an ihren jeweiligen Terminals helfen, ohne ihren Platz verlassen zu müssen. Für die interne Kommunikation kommt die Lösung "cc:mail" zum Einsatz, die auch konzernweit vorgesehen ist.

Auch bei der lokalen Konkurrenz gibt man sich fortschrittlich. So hatte der "Münchner Merkur" - mit seiner weiten Verbreitung in Oberbayern bestes Pferd im Stall von Verleger Dirk Ippen - vor zwei Jahren der Einführung des Systems "Alfa" grünes Licht gegeben.

Dem Wandel der Zeit war man nicht immer gefolgt: Vom Bleisatz verabschiedete sich das kooperierende Boulevardblatt "tz" als eine der letzten großen deutschen Tageszeitungen erst im Jahr 1982. Zudem war es keine Seltenheit, daß redaktionelle Unterlagen erst in letzter Minute per S-Bahn und Kurier ins Verlagshaus gelangten.

Auch die Einführung von Alfa steht unter keinem guten Stern. Wie aus dem Redaktionskreis zu erfahren ist, hakt es allen Ecken und Enden. So führe das vom Verlag beauftragte Dienstleistungsunternehmen Vision GmbH, München, zwar eine Vielzahl von technischen Maßnahmen durch. Allerdings würden die einzelnen Redaktionen nur unzureichend darauf vorbereitet.

Die technische Abteilung des Verlags und Vision hätten, so hausinterne Kritiker, die Schulung der Redakteure und Produktionsmitarbeiter vernachlässigt, sie muteten den Journalisten eine "indiskutable" Hotline zu. Wer wegen eines technischen Problems anrufe, würde häufig auf den nächsten Tag vertröstet. Trete sonntags eine Störung auf, müßte man sich für die Anfrage am Feiertag beinahe entschuldigen.

"Es ist keine Seltenheit", läßt ein Mitarbeiter Dampf ab, "daß man beim morgendlichen Einschalten des Computers einen erneut veränderten Bildschirm antrifft." Druckeranbindungen fielen aus, wichtige redaktionelle Layoutvorlagen seien instabil, Rechner stürzten ab - ein langer Beschwerdekatalog kommt da zusammen. Defekte Rechner würden zur Reparatur abgeholt, sofortiger Ersatz stehe allerdings - aus Kostengründen - nicht zur Verfügung.

Mit diesen Aussagen konfrontiert, verweigern die Verantwortlichen von Vision jede Aussage. Auch der technische Leiter im Verlagshaus blockt ab: Wie man überhaupt dazu käme, sich in die "inneren" Angelegenheiten eines Verlags einzumischen?

Sind die Kritiken der Redakteure völlig aus der Luft gegriffen, Versuchskaninchen für eine - ihrer Meinung nach - "unausgereifte Technik" zu spielen? "Wir können das nur bestätigen", heißt es im Betriebsrat. Wie Karl Obermeier berichtet, habe man die Verlagsführung bereits mit dem Problem konfrontiert, sich möglicherweise in die Abhängigkeit eines externen Dienstleisters zu begeben.

"Aus wirtschaftlichen Interessen geht man über die Anwender hinweg", faßt ein Betroffener die Ansicht vieler Redakteure zusammen. Im Münchner Zeitungsverlag brodelt die Gerüchteküche.

Angeklickt

Elektronische Systeme zur Texterfassung sind in den Redaktionen schon lange nichts Neues mehr. Allerdings hat es in den letzten Jahren erhebliche Veränderungen gegeben, die zwar meistens schrittweise eingeführt wurden, aber auch mit einer Erweiterung der Aufgaben verbunden waren. Nach anfänglichen Auseinandersetzungen mit den Betriebsräten haben geschickte Einführungsmaßnahmen jedoch für Akzeptanz gesorgt. Doch nicht immer geht dieser Prozeß problemlos über die Bühne. Mängel in der technischen Umsetzung und fehlende Unterstützung der betroffenen Anwender führen zu Konflikten.

Winfried Gertz ist freier Journalist in München.