Entwicklungstrends der medizinischen EDV - Eine Podiumsdiskussion voller Gegensätze

Neue Peripherie: Stethoskop und Blutdrucksensor

05.03.1976

MÜNCHEN - Am 19. 2. 1976 fand im Klinikum Großhadern in München unter dem Thema "Alternativen Medizinischer Datenverarbeitung" eine Tagung statt, die vom Institut für Medizinische lnformationsverarbeitung, Statistik und Biomathematik (ISB) und dem Rechenzentrum für den Fachbereich Medizin der Universität (RZM) organisiert wurde.

Aus dem breiten Aufgabenspektrum der Datenverarbeitung im Fachbereich Medizin in Forschung, Lehre, Verwaltung und klinischer Chemie sind schon mehrere Projekte realisiert:

Patientenaufnahme, Rechnungswesen, Patientendatenbanken, Patientenverwaltung, Auswertungssystem für Massendaten, Informationssystem zur Unterstützung des einzelnen Arztes und Forschers, Statistikprogrammpakete, Programme zur Unterrichtsunterstützung in Biomathematik.

Für diese Aufgaben ist ein Satellitenrechnersystem installiert mit dem Zentralrechner SIEMENS 4004/151, dem Vorrechner SIEMENS 404/6 für die Patientenaufnahme, dem Klarschriftlesesystem CDC 959 für die Datenerfassung und den Laborrechnersystemen SIEMENS 306 und 330.

Durch sehr heterogene Aufgaben der Administration, der Wissenschaft und der Medizin werden Datenbankstrukturen erforderlich, die ein zentrales System nicht optimal erbringen kann. Es sind daher drei anwendungsbezogene Systeme mit Datenbankkomponenten implementiert:

- ISIS für die aktuellen, patientenorientierten Dateien, für Verwaltungsaufgaben und für die Archivdatei

- SAVOD für die interaktive Auswertung von Massendaten unter Berücksichtigung zeitlicher Verläufe

- MINDIUS, ein Teilhabersystem für mittelgroße medizinische Datenbestände mit beweglicher Dialogdatenerfassung und Auswertung.

Prof. Dr. med. K. Überla, ISB-Institutsleiter und Veranstalter, konnte auf der abschließenden Thesendiskussion resümieren:

1. Die medizinische Informatik kann in der Zukunft ein selbständiges methodenorientiertes Fachgebiet werden

2. Die technische Realisierung der Datenverarbeitung in der Medizin ist durch zahlreiche dezentralisierte, netzförmig miteinander verbundene Mini-Rechner denkbar. Mittlere und große DV-Anlagen sind andererseits als derartige Systeme erforderlich

3. Die medizinbezogenen Anwendungen müssen gegenüber den Verwaltungsprojekten in Zukunft stärker in den Vordergrund treten. uk

Die neuerdings vielberedete "Computerisierung" der Medizin - wie werden wir sie in den nächsten zehn Jahren erleben? Werden mittlere und große Computer ihren Platz behaupten, oder müssen sie - nicht nur an der Peripherie - langsam den Minis und Mikros weichen? Wird im Rennen um die EDV-Etats die allgemeine Krankenhausverwaltung mit ihren guten Rationalisierungsargumenten Sieger, oder wird doch der Löwenanteil neuer Rechenkapazität in Klinik und Labor installiert werden? Und schließlich die recht "deutsch" anmutende, von einer hochkarätigen Experten-Diskussionsrunde in München gleich als erste des langen und breiten abgehandelte Frage: Wird aus der medizinischen Informatik langsam eine übergreifende, den etablierten Fachrichtungen wesentliche Sektoren abknabbernde Disziplin? Oder wird sie eher in diesen Fächern aufgehen? Hat sie dann vielleicht noch die Chance, zumindest im akademischen Bereich als kleine, aber feine Wissenschaft "autark" zu bleiben?

Über diese Themen sprachen vor sichtlich animiertem Publikum auf der Fachtagung "Alternativen medizinischer Datenverarbeitung" die Professoren C. Th. Ehlers, Vorsitzender des Bundes-Ministerialausschusses "Förderung der DV in der Medizin", H. Gumin vom Siemens-Vorstand, E. Jahn, Vizepräsident des Bundesgesundheitsamts, M. Knedel als erfahrener EDV-Praktiker, S. Koller, erster bundesdeutscher Lehrstuhlinhaber für "Medizinische Dokumentation und Statistik", P. L. Reichertz, Präsident der Gesellschaft für Medizinische Dokumentation. G. Seegmüller, Chef des Leibniz-Rechenzentrums in München, Gastgeber K. Überla vorn ISB und Dr. W. Schuster, maßgeblich beteiligt am Medizin-DV-Demonstrationsprojekt DOMINIG II.

Informatik nicht als Solo

Zunächst kurz zum Professoren-Disput über die Medizinische Informatik als Fach. Seegmüller definierte sie schön griffig als "Lehre von den Eigenschaften, der Darstellung, der Konstruktion und der Realisierung von Algorithmen für die Bereiche der medizinischen Wissenschaften und der medizinischen Praxis". Für ihn steht dabei die Algorithmisierung medizinischer Sachverhalte im Vordergrund und da die Informatik wesentliche neue Lehrinhalte schaffe, sieht Seegmüller sie eben als eigenständiges Fach.

Doch die Grenze zwischen "reiner" Informatik und Fächern wie Medizinische Statistik oder Epidemiologie fließen in praxi doch sehr, hielten ihm da die Kollegen - Ausnahme Jahn - mehr oder weniger pointiert entgegen. Sie warnten vor zu strengen Abgrenzungstendenzen der Informatiker, die bei ihrer Arbeit doch lieber mehr die Praxis im Auge behalten sollten. Auch gehe es ohnehin nicht ohne Kooperation, etwa zwischen Informatikern und Medizinstatistikern, betonte Reichertz denn eine Seite allein übersehe das komplexe Gesamtfeld nicht mehr. Andererseits werde wohl die Informatik beispielsweise da die anderen medizinischen Fächer in sich einschließen. bemerkte Koller, wo sie durch Algorithmisierung rein ärztliche Handlungsprozesse darstelle.

Vernetzungs-Software für Minis gesucht

Themenkreis zwei, die absehbaren technologischen Trends, stand ganz im Zeichen der Mini-Maxi-Konfrontation. Vor schmunzelnden Zuschauern vertrat Mainframe-Promoter Gumin hier die These von der weiteren Dominanz der Mittel- und Großrechner aus der neuen Diebold-Gruppe Il. Von stattlichen Ist-lnstallationswerten ausgehend, sollten diese trotz rascher wachsendem Mini- und Mikro-Selling in den nächsten fünf Jahren immer noch den größten Zuwachs, nimmt man die absoluten Mark-Beträge, realisieren. Denn für sie sprächen überdies die niedrigeren Kosten je Operation und Speicher-Byte ebenso wie die Inflation bei den Datenübertragungskosten. Außerdem sei ja niemand gehindert, seinen Zentral-Jumbo mit maßgeschneiderter Peripherie zu arrondieren.

Auch diese Thesen provozierten Widerspruch, was, nebenbei, Prof. Überlas Gästeliste als wohlgemischt aufweist. Zwar haben laut Schuster periphere Minis in puncto Datenschutz noch nicht die Sicherheit von Zentralanlagen zu bieten, doch tat dieser Fingerzeig der vorherrschenden Pro-Mini-Stimmung keinen Schaden. Seegmüller etwa erinnerte an die oft fatale Ausdehnung der Antwortzeiten, die man bei steigenden Ansprüchen von Zentralrechnern zu erwarten habe, und präsentierte eine Kalkulation, nach der oft nur das Fehlen von Software den Ersatz alter Mittelklasse-Anlagen durch effektivere oder billigere Mini-Netze mit vielen Terminals verzögert. Gerade bei steigender Terminalzahl, breiterer Input-Strom also, lohne sich aber die billige Vorweg-EDV durch Mikroprozessoren.

EDV: Sparschwein oder Qualitäts-Katapult?

Ein Hauch Resignation war überm Podium spürbar, als die Disputanten zwar in höchsten Tönen die dank EDV zugänglichen Wonnen multifaktoriell kalkulierenden Forschens und Heilens priesen - individuelleres Mixen von, Medikamenten ist nur ein Stichwort -, aber auch klar sahen, daß bei knappen Mitteln wohl erst die Verwaltung mit ihren griffigen Rationalisierungs-Kalküllen zum Zuge kommen dürften dafür wird schon die aktuelle Diskussion über davonlaufende Gesundheitskosten sorgen. Doch auch wenn man eine solche Tendenz notgedrungen hinnimmt - zuspitzen darf diese Frage sich nicht. Bessere Medizin oder billigere Medizinverwaltung - das ist keine Alternative.

* Egon Schmidt ist freier Wissenschaftsjournalist in München.