Neue Dokumentenarchivierung bei der Bundesanstalt fuer Arbeit BA-Modellkasse konstatiert ein erhebliches Mehr an Buergernaehe Von Lutz Ernst*

10.12.1993

Von 1988 bis Ende 1991 entwickelt und getestet, bis Anfang 1994 - so die Planung - bundesweit installiert: das Dokumenten- Management-System der Bundesanstalt fuer Arbeit in Nuernberg. Anfang naechsten Jahres sollen alle zwoelf Kassen der Landesarbeitsaemter auf das neue Archivierungs- und Bearbeitungsverfahren auf der Basis eines Client-Server-Systems umgestellt sein. Generalunternehmer war SNI in Zusammenarbeit mit dem Muenchner Softwarehaus Ixos.

Die Dokumentation, Bearbeitung und Archivierung der anfallenden Akten bereitet bekanntlich nahezu allen groesseren Firmen und Behoerden Kopfzerbrechen: Anlage, Verwaltung und Aufbewahrung kosten nicht nur viel Geld und Platz, sondern machen ab einer gewissen Menge auch den eigentlichen Arbeitsvorgang ineffizient. Muessen zudem, wie es bei Behoerden oft der Fall ist, die Akten einer Person von mehreren Stellen bearbeitet werden, so kann von der immerhin angestrebten Buergerfreundlichkeit kaum mehr die Rede sein.

Es lag also fuer die Bundesanstalt fuer Arbeit (BA) nahe, sich auf dem neuen Markt fuer Do- kumenten-Management-Systeme (DMS) umzusehen. Zur Erprobung schienen die Kassen der Landesarbeitsaemter am besten geeignet, da es sich bei diesen zum einen um ueberschaubare Organisationseinheiten handelt, zum anderen die Akten bereits auf Mikrofilm vorlagen und somit die Sachbearbeiter an die papierlose Bearbeitung der Akten gewoehnt waren. Die Kassen fordern die von der BA an die Zahlungsempfaenger zuviel geleisteten Gelder zurueck. Die einzelnen Akten haben zwar einen relativ geringen Umfang (fast die Haelfte hat nur bis zu zehn Seiten), aber schon die kleinste Kasse erhaelt allein als Posteingang jeden Tag bis zu 3000 Seiten.

Die Anforderungen, die das geplante DMS erfuellen musste, wurden folgendermassen festgelegt: In eine bestehende dialogorientierte Fachanwendung zur Fuehrung der Schuldnerkonten soll eine vorgangsorientierte Sachbearbeitung der Akten am Bildschirm mit der Moeglichkeit der Textverarbeitung integriert werden. Die Akten muessen auf einem sicheren und platzsparenden Speichertraeger archiviert werden koennen.

Nach intensiven Gespraechen mit Herstellern und Anwendern von DMS wurden 1988 Siemens-Nixdorf als Generalunternehmer und das Muenchner Softwarehaus Ixos beauftragt, auf der Basis von Unix eine Client-Server-Loesung fuer das Projekt zu entwickeln. Da die BA den weiterreichenden Einsatz der elektronischen Aktenbearbeitung in weiteren Abteilungen vorsah, wurde besonderer Wert auf eine zukunftsweisende Loesung gelegt: Der Einsatz offener Systeme wurde fuer das Projekt verbindlich vorgeschrieben, weshalb eine Loesung auf der Grundlage von Unix nahelag.

Das Pilotprojekt stellte eine erhebliche Herausforderung dar. Fuer die Integration von elektronischer Archivierung und dialogunterstuetzter Aktenbearbeitung gab es noch keine Standardloesung; zudem existierte die elektronische Archivierung mittels eines WORM-Systems nur als Idee auf Papier. Deshalb wurde ein Vorlaeufer des Systems "Arcis", das "Optical Filing and Retrieval System" (ORF.X), entwickelt. 1989 war die integrierte Applikation, bestehend aus der bisherigen dialogorientierten DV- Anwendung - deren Client-Software von der BA auf Unix umgeschrieben wurde -, der Software fuer die elektronische Archivierung sowie der dialogunterstuetzten Textbearbeitung, soweit fertiggestellt, dass die BA nach einem halbjaehrigen Integrationstest das Pilotprojekt ab Mitte 1990 in der Kasse des Landesarbeitsamtes Nordbayern in Weiden im Echtbetrieb fuer 40 Arbeitsplaetze einsetzte. In der zwoelfmonatigen Probephase wurden alle bestehenden Aufgaben ueber das DMS realisiert. Die Erfahrungen waehrend dieser Zeit fielen so zufriedenstellend aus, dass Ende 1991 mit der flaechendeckenden Installation des DM-Systems bei allen Kassen der Landesarbeitsaemter begonnen wurde. Bis Anfang 1994 werden insgesamt zwoelf Kassen mit dem System ausgeruestet sein.

Woraus bestehen nun die verwendeten Komponenten? Wie funktioniert das System, und welche Vorteile gegenueber der bisherigen Bearbeitung mit Mikrofichearchivierung konnte die BA feststellen?

Fuer die Kontofuehrung benutzt die BA einen BS/2000-Rechner als Host, waehrend auf dem Client (WX-200-Rechner) der Dialog unter Unix entwickelt wurde.

Das System basiert vollstaendig auf Unix, sowohl fuer die Server- Einheiten als auch fuer die einzelnen Arbeitsplatzrechner. Als Server werden MX-300i-Systeme, als Arbeitsplatzrechner WX-200- Workstations verwendet. Zur Speicherung dienen 5,25,-Zoll-WORM- Platten mit entsprechenden Jukeboxen. Die Erfassungs- und Attributierarbeitsplaetze sowie der Print-Server zum Drucken vollstaendiger Akten sind mit den gleichen Systemen ausgeruestet. Die Vernetzung aller Komponenten erfolgt ueber ein Ethernet-LAN.

Fuer die Bausteine wurde, soweit verfuegbar, auf Standardmodule zurueckgegriffen. Die grafische Oberflaeche ist unter OSF-Motif realisiert. Fuer die Formularverarbeitung wird das Textsystem HIT verwendet, fuer die Textnotizen ein kleiner Text-Editor. Je Sachbearbeitergruppe steht ein Drucker zum Ausdruck von Briefen, Formularen und Hardcopies zur Verfuegung. Was nun die Funktionsweise des DMS angeht, so lohnt zur Verdeutlichung ein Vergleich mit der vormaligen Arbeitsweise der Kassen der BA. Diese sind wie gesagt fuer die Rueckforderung von zuviel geleisteten Zahlungen gegenueber Leistungsempfaengern zustaendig. Dabei werden nicht nur Ueberzahlungen, sondern auch ausgezahlte Darlehen eingezogen.

Vor der DMS-Einfuehrung arbeiteten die Kassen wie folgt. Die eingehende Post wurde sortiert und mit einem Ordnungsmerkmal, dem Kassenzeichen, versehen. Dann wurden die Schriftstuecke an die zustaendigen Sachbearbeiter weitergeleitet. War der Vorgang bearbeitet, gingen die Dokumente an die Mikrofilmstelle, wo man sie verfilmte und in Jackets eintaschte. Daraufhin wurden die mit einem Nummerncode versehenen Jackettaschen von den zustaendigen Sachbearbeitern in Troegen am Arbeitsplatz abgestellt. Musste der Sachbearbeiter einen Vorgang erneut bearbeiten, so konnte er durch die manuelle Eingabe des Nummerncodes in dem sogenannten Kamm die jeweilige Jackettasche finden. Der Mikrofilm wurde ueber ein Mikrofilmlesegeraet angezeigt, die Kontenbearbeitung erfolgte ueber ein Dialogverfahren am B2/2000-Bildschirm.

Alle Ablaeufe sind in einem System integriert

Neben der schlechten Ergonomie des Arbeitsplatzes sah die BA die wesentlichen Nachteile dieses Verfahrens darin, dass die Akten, lagen sie als Mikrofilme vor, nur muehsam und zeitaufwendig aufzufinden waren. Dazu konnte zu jeder Zeit nur ein Sachbearbeiter auf die Akten zugreifen, so dass es fuer den Buerger, der telefonisch Auskunft verlangte, oft zu unerfreulichen Wartezeiten kam. Zudem beanspruchte das Archiv am Arbeitsplatz immer noch viel Platz - es war teuer und zu wenig effektiv.

Das von Siemens-Nixdorf und Ixos entwickelte Konzept stellt den gesamten Vorgang der Bearbeitung und Archivierung auf die Basis optischer Speicherplatten (WORM) mittels des Systems ORF.X und einer auf Unix basierenden Client-Server-Loesung. Alle Ablaeufe sind nun in einem System integriert.

Im einzelnen sieht der Arbeitsablauf jetzt so aus: Die gesamte Eingangspost wird in der Archivstelle gesichtet und fuer die Archivierung aufbereitet. Dort werden auch die Dokumente mittels eines Massenblattscanners elektronisch aufgezeichnet. Neben der visuellen Qualitaetskontrolle und der korrekten Ausrichtung der Seiten in Leserichtung werden ueberfluessige Seiten ausgeschieden.

Die hohe Erfassungsrate der Scanner erlaubt, bei einer ausreichenden Aufloesung von 200 dpi bis zu 800 Seiten pro Stunde zu bearbeiten - was angesichts der eingehenden Post auch notwendig ist. Sodann erfolgt an getrennten Arbeitsplaetzen die Attributierung der Dokumente.

Der Attributierer erhaelt die Dokumente auf dem Bildschirm verkleinert angezeigt. Mit Zoom-Funktionen kann er sich einzelne Seiten oder Ausschnitte vergroessert anzeigen und in Zweifelsfaellen das Dokument erneut ein- scannen lassen. Die Attributierung erfolgt ueber das Kassenzeichen, das mit dem Archiv beziehungsweise mit dem BS-2000-Kontobestand abgeglichen wird. Dadurch ist eine falsche Zuordnung der Dokumente so gut wie ausgeschlossen. Nach der Attributierung werden die Dokumente auf den 5,25-Zoll-WORM- Platten als Posteingang gespeichert. Somit stehen sie der Sachbearbeitung am Bildschirm zur Verfuegung. Vergibt der Sachbearbeiter fuer das Dokument eine Bezeichnung, wird das Dokument endgueltig in die Akte eingefuegt, und es kann nicht mehr veraendert oder aus der Akte entfernt werden (zu den Ablaeufen vgl. Abbildung 1).

Mit Hilfe eines Text-Editors koennen den Akten beziehungsweise einzelnen Dokumenten Notizen wie zum Beispiel Bearbeitungshinweise oder Telefonvermerke hinzugefuegt werden. Formulare oder formlose Briefe werden mit dem Textsystem HIT ausgefuellt beziehungsweise geschrieben. Dabei legt der Sachbearbeiter automatisch ein neues Dokument an und fuegt es der betreffenden Akte elektronisch hinzu. Diese Texte werden - wie die Notizen - als CI-Format (Coded Information) abgespeichert. Der Sachbearbeiter kann zwischen den einzelnen Dokumenten hin- und herblaettern, die in einer einheitlichen Darstellung praesentiert werden, unabhaengig vom jeweiligen Format. Jeder Sachbearbeiter kann mit der Retrieval- Funktion auf die Akte zugreifen. Das geschieht mit Hilfe des eindeutigen Ordnungsmerkmals Kassenzeichen. Auf diese Art und Weise koennen die Sachbearbeiter auf telefonische Anfragen schnell reagieren, da die aufwendige Suche nach den Akten entfaellt. Fuer den Buerger gibt es kein laestiges Warten oder das bekannte Weiterverbinden an den zustaendigen Sachbearbeiter mehr. Die BA, so der Erfahrungsbericht der Mitarbeiter der Pilotkasse, hat damit ein "erhebliches Mehr an Buergerfreundlichkeit" erreicht.

Fuer die Sachbearbeiter hat sich durch die 21-Zoll-Bildschirme und durch die grafische Oberflaeche der Anwendungen (OSF/ Motif) die Ergonomie des Arbeitsplatzes verbessert (zur neuen Ausgestaltung der Arbeitsplaetze vgl. Abbildung 2). Auch die Arbeitszimmer gewannen dadurch eindeutig: Durch den Wegfall der Jackettroege, die immerhin pro Sachbearbeiter vier Quadratmeter Stellflaeche einnahmen, haben die Sachbearbeiter jetzt wieder mehr Platz. Und als erfreulicher Umweltschutzeffekt konnte die bei der Mikrofilmbearbeitung uebliche Verwendung von Fotochemikalien entfallen.

Die Originaldokumente werden vernichtet

Was nun die gesetzlich vorgeschriebene Datensicherheit betrifft, so sind die Erfahrungen sehr positiv. Seit der Einfuehrung des optischen Archivs ist es nicht mehr vorgekommen, dass Akten nicht sofort verfuegbar waren oder falsch zugeordnet wurden. Ausserdem gehen keine Mikrofiches mehr verloren. Und nicht nur das: Durch das WORM-System sind die Daten vor Beschaedigungen oder Verlust sicher geschuetzt. Die Platten mit den Jukeboxen sind in Raeumen aufgestellt, die vor unbefugtem Betreten streng gesichert sind. Diese und weitere umfassende Sicherheitsmassnahmen der BA fuehrten dazu, dass der Bundesrechnungshof vorlaeufig damit einverstanden ist, dass die Originaldokumente vernichtet werden.

Zusammenfassend laesst sich also sagen, dass das neue DMS der BA allgemein auf grosse Zustimmung gestossen ist. Die von der BA gestellten Forderungen an ein zukunftsweisendes DMS konnten voll erfuellt werden. Zugleich konnten wesentliche Erkenntnisse fuer die Weiterentwicklung der Infrastruktur von Informations- und Kommunikationstechniken in der BA gewonnen werden, sowohl was den angestrebten Ausbau des Datenbankdialogs und des Einsatzes von optischen Speichersystemen fuer die Inhouse-Netze als auch was die Hard- und Software-Administration betrifft. Da die Akzeptanz bei Mitarbeitern und Buergern ausgesprochen gut war, steht einem Ausbau des Dokumenten-Management-Systems fuer weitere Bereiche der Bundesanstalt fuer Arbeit eigentlich nur eins im Wege - das fehlende Geld.