Neue Bürger braucht die New Economy

10.05.2001
Von Angelika Fritsche
Das Zeitalter der Entdeckungsreisen ist noch lange nicht vorbei. Auch wenn es keine spektakulären Erkundungsfahrten wie die eines Christopher Kolumbus oder Marco Polo mehr gibt: Das, was sich heute im World Wide Web abspielt, weist interessante Parallelen zur Eroberung und Besiedelung unseres Planeten und des Weltraums in den vergangenen fünf Jahrhunderten auf.

Zu zeigen, wie spannend die Entdeckung und Urbarmachung des Cyberspace ist und vor welche Herausforderungen sie die Menschheit stellt, hat sich der Japaner Kenichi Ohmae in seinem aktuell erschienenen Buch „Der unsichtbare Kontinent“ zur Aufgabe gemacht. „Während der gesamten Menschheitsgeschichte lassen sich plötzliche Umwälzungen immer wieder auf die Entdeckung von Neuland zurückführen – auf Kontakte mit einer neuen geografischen Region und einem völlig anderen Lebensstil“, zeigt der ausgebildete Kernphysiker und ehemalige Leiter der Japan-Niederlassung von McKinsey Gemeinsamkeiten zwischen gestern und heute auf.

Ein wesentlicher Unterschied: Das Neuland, das die Menschen im neuen Millennium erschließen müssen, ist landlos und existiert nur im "kollektiven Bewusstsein". Deshalb hat Ohmae, der sich mit seinen Strategiebüchern weltweit einen Namen gemacht hat, dafür den Begriff der "unsichtbare Kontinent" geprägt. Begonnen hat für Ohmae das neue Zeitalter im Jahr 1985, als Bill Gates die Windows-Version 1.0 vorstellte, als Cable News Network (CNN) von Atlanta aus mit der globalen Ausstrahlung seiner Nachrichtenprogramme begann und mit Cisco Systems der erste Produzent von Internet-Netzwerk-Routern gegründet wurde.

Die Umwälzungen, die die Software- und Internet-Pioniere damit in Gang gebracht haben, wird - so die lesenswerte Analyse des weitgereisten Ohmae - von den meisten Menschen überhaupt noch nicht begriffen. Während, wie schon zu Zeiten der Seefahrer, "mutige und neugierige Menschen sich durch nichts von ihrem Entdeckungsdrang abhalten" lassen, hinkt das Gros der Menschheit hinterher - und wird dadurch auf Dauer von der technischen Entwicklung und dem wirtschaftlichem Wohlstand ausgeschlossen sein.

Für den Japaner Ohmae, der sich selbst als globalen Bürger sieht, steht fest: Die Ausbildung ist der Schlüsselfaktor für den Sprung von der „alten“ in die "neue" Welt. „Nicht einmal das beste Telekommunikationssystem der Welt hilft einem Land, dessen Bevölkerung es nicht bedienen oder seine Dienste auf einem globalen Markt nicht anbieten kann.“ Vorbildhaft sind für Ohmae Institutionen wie die Stanford University in Silicon Valley und das Bostoner MIT. Doch das – so der Regierungsberater – ist nur die Spitze des Eisberges.

Dringenden Reformbedarf sieht er für die Schulen. In Japan beispielsweise sei der „Ausbildungsprozess stark standardisiert“ und „geprägt von Angst und Bestrafung“. Das Ergebnis: Die Schüler vergessen das Gelernte – etwa im Englischunterricht - sofort wieder. Im antiquierten Bildungssystem liegt für Ohmae einer der Gründe für die derzeitige Krise der japanischen Wirtschaft. Den heute 30- bis 40-jährigen Managern fehlten der „Drive“ und die „Phantasie“, um Neues auf die Beine zu stellen. Doch nicht nur in seinem Geburtsland, sondern überall auf der Welt stellt Ohmae erhebliche Ausbildungsmängel fest.

„Schließlich haben wir es versäumt, jenen Bürger zu definieren, den wir in Zukunft brauchen werden, den Bürger, der den Spagat zwischen alter Welt und neuem Kontinent schafft.“ Bisher, so Ohmae, richten sich Schulen und Universitäten an den Bedürfnissen der Industriegesellschaft aus, die auf Massenproduktion basiert und bei der „wenige Eliten Tausende von Arbeitern befehligen“. Eckpfeiler einer Bildungsreform sind für den Vordenker der Globalisierung: mehrsprachiger Unterricht, wobei neben Englisch auch verstärkt Spanisch und Chinesisch vermittelt werden sollten.

Neben fundierter naturwissenschaftlicher und technischer Unterweisung fordert Ohmae vor allem Zeit und Raum für Experimente. Die Schüler und Studenten müssen einen "fragenden Geist" und den "Mut von Pfadfindern" erwerben. „Wenn man es nicht schafft, in der Cyber-Dimension eine intellektuelle Wertschöpfung zu erzielen, muss der Lebensstandard notgedrungen leiden“, warnt Ohmae die Politiker aller Länder, ihrer Jugend nicht die Zukunft zu verbauen.

Kenichi Ohmae: "Der unsichtbare Kontinent. Vier strategische Imperative für die New Economy." Wirtschaftsverlag Carl Ueberreuter, Wien/Frankfurt 2001, 59,90 Mark.