Die großen Telefonkonzerne stehen vor einem nachhaltigen Strategiewandel

Netzgiganten blicken auf den Kompass

06.12.2002
MÜNCHEN (CW) - Abspecken, ausgliedern, verkaufen: Die großen Carrier dieser Welt sind aus ihrem Globalisierungstraum jäh aufgewacht. Milliardenschulden, Bilanzskandale und die dramatische Erosion des Marktes zwingen zur Umkehr. Spezialisierung ist angesagt - und die Rückbesinnung auf alte Stärken.

"Die Party ist vorüber": So fassen viele Analysten und Beobachter die Situation in der weltweiten TK-Branche zusammen. Eine Situation, die beileibe nicht neu ist, die aber offenbar erst jetzt nachhaltige Bewegung in den Markt bringt. Nicht nur dergestalt, dass in den vergangenen zwölf Monaten Spitzen-Manager wie Ron Sommer (Deutsche Telekom), Peter Bonfield (BT), Michel Bon (France Télécom) und Bernard Ebbers (Worldcom) ihren Job verloren, sondern auch, was die Kräfteverhältnisse und die künftige Positionierung im Wettbewerb angeht.

Erinnern wir uns: Zwischen Oktober 1999 und August 2000 konnten zumindest die europäischen Carrier noch ihr "Allzeithoch" feiern. Nicht nur an der Börse, wo die T-Aktie am 6. März 2000 mit einem nie mehr dagewesenen Kurs von 103,90 Euro notierte, sondern auch in puncto Expansionsstrategie und Stimmung im Markt. Vodafone zettelte beim 135 Milliarden Euro schweren Kauf von Mannesmann die teuerste Übernahmeschlacht der Firmengeschichte an, die Deutsche Telekom schluckte für 35 Milliarden Euro den US-Mobilfunker Voicestream. Noch im August 2000 erlöste der deutsche Fiskus bei der Versteigerung der sechs UMTS-Lizenzen 50,8 Milliarden Euro - von Protest bei den bietenden Netzbetreibern keine Spur!

Gut zwei Jahre später herrscht Tristesse allerorten. Weltweit knapp 60 Telefongesellschaften mussten inzwischen Konkurs anmelden. Global Crossing, Carrier 1 und natürlich vor allem Worldcom sind die bekanntesten Beispiele. Es folg(t)en Massenentlassungen, die selbst die Dimensionen des Mitarbeiterabbaus in der ebenfalls krisengeschüttelten IT-Industrie sprengen. Dreiste Bilanzfälschungen taten zu dem Absturz, der längst auch namhafte Telco-Ausrüster wie Lucent, Nortel und Ericsson in existenzielle Schwierigkeiten brachte, ihr Übriges.

Handfeste Strukturprobleme schlagen durch

Neben der viel zitierten "Enronitis" sind es jedoch vor allem handfeste Strukturprobleme, die die Branche in den Keller rissen. So sind reihum die großen Netzbetreiber bis zur Halskrause verschuldet, weil sie sich in einem wahnwitzigen Globalisierungsrausch mit Akqisitionen verhoben - allen voran Deutsche Telekom und France Télécom, die sich bei den Übernahmen der Mobilfunkgesellschaften Voicestream beziehungsweise Orange (43 Milliarden Euro) nach Ansicht vieler Experten nicht nur auf absolute "Mondpreise" einließen, sondern diese Deals auch noch größtenteils in bar bezahlten.

Doch der Kaufrausch vieler Telcos ist nur eine Seite der Medaille. Verschärft wurden die Probleme durch eine völlig falsche Einschätzung der Entwicklung des weltweiten Datenverkehrs und damit des Bedarfs an Bandbreite. Allein in den Jahren 1997 und 2000 verdreifachten sich nach Erhebungen der Unternehmensberatung Mercer Management Consulting die Infrastrukturausgaben der 20 größten europäischen und US-Carrier von 68 auf 185 Milliarden Euro. Ein fatales Ergebnis des Internet-Booms - nicht nur für besagte Telco-Ausrüster, die sich blenden ließen und Überkapazitäten aufbauten, sondern auch für die Carrier selbst, die seit dem Jahr 2000 mit einem dramatischen Preisverfall in ihrem Breitband-Geschäft (und nicht nur dort) konfrontiert sind.

Einnahmen mit UMTS erst 2005

Jetzt ist guter Rat teuer, erst recht, weil in der Branche zu allem Überfluss eine weitere Zeitbombe tickt: UMTS. Den horrenden Lizenzkosten (neben Deutschland vor allem in Großbritannien) sowie den Anlaufinvestitionen für den Netzaufbau der dritten Mobilfunkgeneration stehen nach jüngsten Schätzungen von Fachleuten frühestens 2005 nennenswerte Einnahmen gegenüber, vom Erreichen des Break-even redet derzeit ohnehin kaum jemand mehr.

Jetzt schlägt in fast allen Konzernen die Stunde der Sanierer, die vor allem eines tun müssen: Die Kosten dramatisch senken. Und sie brauchen Antworten auf ein paar unangenehme Fragen: Lassen sich die ehrgeizigen Globalisierungspläne weiterverfolgen? Wie kann der anhaltende Preisverfall gestoppt werden? Werden sich die teuer ersteigerten UMTS-Lizenzen jemals amortisieren? Die wahrscheinlich wichtigste Frage dürfte jedoch sein: Was gehört künftig zum unverzichtbaren Kerngeschäft eines Carriers?

Zwei namhafte Telcos haben diese Frage für sich längst schon beantwortet: AT&T und British Telecom (BT). Auch das ist übrigens ein Beleg für die Annahme, dass die derzeit zu beobachtende Misere ungeachtet des Platzens der Internet-Blase und dem vermutlichen Rohrkrepierer UMTS eine Krise mit Ansage war. Denn schon im Jahr 2000 hatte beispielsweise AT&T mehr als 56 Milliarden Dollar Schulden angehäuft, worauf CEO Michael Armstrong die Notbremse zog. Der seit 1996 verfolgte Kurs, das Unternehmen zu einem integrierten Multimedia-Konzern umzubauen, wurde aufgegeben; wesentliche Teile der Gesellschaft wie das Mobilfunk-Business (AT&T Wireless) sind abgespalten beziehungsweise im Falle der besonders verlustträchtigen Kabelfernsehsparte verkauft worden. Heute ist die verbliebene AT&T Corp. ein Anbieter mit nur noch zwei sehr traditionellen Geschäftsfeldern: Festnetztelefonie für private Konsumenten in den USA sowie weltweite Datendienste für Geschäftskunden. Weitgehend identisch war die Entwicklung bei BT, wo man mit MmO2 die Mobilfunksparte als eigenständiges Unternehmen vom Konzern abgetrennt und mit BT Ignite einen auf Europa fokussierten Anbieter von Mehrwertdiensten für Geschäftskunden gegründet hat. Beide Carrier konnten in der Folge ihre Schulden deutlich reduzieren, spielen aber als Vollsortimenter keine Rolle mehr.

Den Vollsortimenter alter Prägung scheint es ohnehin mittelfristig nicht mehr zu geben. Diese Lesart kristallisiert sich jedenfalls zunehmend bei Experten heraus. Derzeit halten nur Deutsche Telekom und France Télécom mit Mühe ihren Anspruch aufrecht, Festnetz- und Mobilfunkdienste, Internet-Services sowie IT-Lösungen aus einer Hand anzubieten.

Wertschöpfung verändert sich

Die Abspaltung einer oder mehrerer Units dürfte aber bei den großen Telcos nur der Anfang einer völlig neuen Entwicklung sein. Julian Hewett, Chief Analyst des britischen Marktforschungsunternehmens Ovum, skizzierte unlängst die absehbaren Trends mit plakativen Worten: Der TK-Konzern der Zukunft werde eine Art "Supermarkt" sein, dessen Kernkompetenz im "Marketing und der Paketierung von Services" liegt, der aber die Produkte in seinem Regal nicht immer selbst herstellt.

Ähnlich sieht es die Unternehmensberatung Booz Allen Hamilton, die in einer Studie zumindest die europäischen Carrier vor einer "Grenzverschiebung" ihrer Wertschöpfungstiefe und damit vor einer riesigen Outsourcing-Welle sieht. Aus der Telefongesellschaft herkömmlicher Prägung, die sich um Netzaufbau, Netzbetrieb, Vermarktung und Vertrieb sowie Abrechnung kümmere, werde eine schlanke Marketing- und Vertriebsorganisation, die alle anderen Aufgaben auslagere. Konsequenz: Nur noch Netzplanung, Produktentwicklung sowie Preisgestaltung blieben, so die Berater, im Konzern - womit sich minimum 20 Prozent der Kosten sparen ließen. Dass solche Planspiele außer der vielfach bereits praktizierten Auslagerung von Call-Centern schon Realität sind, machen erste Beispiele im Markt deutlich. Etwa bei der schwedischen Telia, die ihren Festnetzbetrieb an den Auftragsfertiger Flextronics übergab.

"Vierte Welle" seit 1990

Mit dieser "Verschlankungswelle" redet die Zunft der Netzbetreiber bereits dem vierten vermeintlichen Erfolgsmodell seit Anfang der 90er Jahre das Wort, nachdem seinerzeit AT&T versucht hatte, einen vertikal integrierten Konzern mit eigener Netzausrüstungsabteilung und Endgerätevertrieb zu etablieren. Ergebnis dieser Strategie war bekanntlich unter anderem die Abspaltung von Lucent Technogies. Mitte des vergangenen Jahrzehnts wurden mit großem Pomp globale Allianzen wie AT&T Unisource (AT&T, KPN, Swisscom, Telia und Telefonica) oder Global One (Deutsche Telekom, France Télécom und Sprint) gefeiert, die ebenso grandios scheiterten - bis Ende der 90er Jahre Gesellschaften wie die Deutsche Telekom versuchten, sich aus eigener Kraft zum Global Player zu etablieren.

Jetzt darf man gespannt sein, wie sich die schlanken Carrier neuer Prägung im Markt behaupten werden. Als eine Art "Gegenentwurf" wird derzeit allenfalls noch der britische Mobilfunker Vodafone gehandelt, der es dank einer aggressiven Akquisitionsstrategie zum einzigen wahren Global Player in seinem Segment gebracht hat. Radikale Spezialisierung könnte also, wie Experten folgern, neben der Verschlankung von Konzernstrukturen, ein anderer Weg sein. Doch angesichts rückläufiger Margen und Wachstumsperspektiven im Mobilfunk dürfte der Company unter Führung von CEO Chris Gent womöglich die eigentliche Bewährungsprobe erst noch bevorstehen.

Realität dürfte in der TK-Szene nach Ansicht von Ovum-Analyst Hewett aber in jedem Fall ein gnadenloser Shakeout werden - sowohl, was die Parameter im Markt als auch die Zukunft einiger Anbieter angeht. Statt Umsatzwachstum, Technologievorsprung, Visionen und dem Besitz einer größtmöglichen Zahl eigener Kunden gehe es in den kommenden Jahren um Profitabilität, Schuldenabbau, kurze Entwicklungszyklen, Partnering und Marktkonsolidierung in Form von Mergers. Was Letzteres betrifft, dürfte angesichts der exorbitanten Verschuldung fast aller namhaften Carrier ein Gesprächspartner mit am Tisch sitzen, der ein besonderes Interesse am Aufschwung der Branche haben muss: die Banken. (gh)

Abb: Die vier großen Trends im Telecom-Markt

Die Marktforscher von Ovum machen der weltweiten TK-Branche nur begrenzt Mut: In Sachen Bandbreite wird es auch in den kommenden Jahren darum gehen, den Überfluss und damit Überkapazitäten zu verwalten, während beim Thema Broadband-Access die Post abgehen wird. Im Mobilfunk sollten sich die Anbieter eher auf Stagnation einrichten. Quelle: Ovum