Verbessertes 3.11-Release soll 2.2-Usern Migration schmackhaft machen

Netware 4.0 loest noch keinen Run bei Novell-Anwendern aus

26.03.1993

Hochstilisiert zum grossen Konkurrenzprodukt zu Windows NT, hat Netware 4.0 schon im Vorfeld fuer so viel Diskussionsstoff gesorgt, dass die auf Anfang April datierte Auslieferung der ersten regulaeren Nutzerversionen kaum noch grosses Echo hervorrief. Obwohl das Produkt in der Entwicklung Novells tatsaechlich einen neuen Meilenstein darstellt, faellt die Resonanz der Anwender eher verhalten aus. Die Ursache dafuer liegt vermutlich darin, dass Novell mit Netware 4.0 die Abkehr vom bislang gehegten Prinzip des Server-basierten Netzwerkes hin zu einem Betriebssystem fuer unternehmensweite Netze vollzogen hat. Das juengste Kind Novells ist kein verbessertes Release von Netware 3.11, sondern eine voellig neue NOS-Generation, wobei ein Kompatibilitaetsmodus zu 3.11 die Migration zu 4.0 ohne Veraenderung der bestehenden Struktur erlaubt.

Andreas Zenk, Systemberater in Muenchen, empfiehlt Netzadministratoren, deren Netware-3.11-Netz stabil ist, nicht sofort auf 4.0 umzusteigen. "Wer nicht gezwungen ist, den Wechsel unmittelbar zu vollziehen, sollte das Produkt erst testen", raet Zenk, obwohl eine Betaversion bei ihm bisher ohne Probleme laeuft. Einziger Kritikpunkt, den der Consultant vorbringt, ist die Geschwindigkeit. Fuer seinen Geschmack ist das Produkt noch zu langsam, eine Tatsache, fuer die Zenk jedoch mit den zahlreichen in der Betaversion enthaltenen Debugging-Tools eine Erklaerung findet.

Auf Nummer sicher geht auch die Neckermann Versand AG. "Wir springen auf den Netware-4.0-Zug erst dann auf, wenn die Branche signalisiert, das Produkt ist verlaesslich", erklaert Paul Wullers, Leiter Endanwendersysteme, die Strategie des Versandhauses. Zur Zeit sieht das Unternehmen in der Nutzung von Netware 4.0 keinen direkten Vorteil. Funktional sei das neue NOS, so Wullers, zwar besser, Neckermann lege aber weniger Wert auf Funktionsvielfalt, sondern mehr auf Stabilitaet, weil das Netz im wesentlichen im produktiven Bereich genutzt werde.

Handlungsbedarf in Sachen Netware 4.0 besteht indes bei der Kommunalverwaltung der Stadt Pforzheim. Dort wartet Andreas Hurst, Leiter des Benutzerservices, der das neuentwickelte NOS bereits in drei Vorlaeuferversionen erprobt hat, auf die Auslieferung des ersten offiziellen Releases, das laut Novell ab Anfang April im Handel ist.

Der Netzwerker haelt schon seit geraumer Zeit Ausschau nach einem Feature, das die umfangreiche Administration der zwoelf Server und 400 Anwender sowie die Integration von dezentralen Fileservern erleichtert.

Hurst scheint in den Netware Directory Services von Netware 4.0 die Loesung fuer sein Problem gefunden zu haben. "Die netzweiten Adressierungsdienste vereinfachen die Definition von Zugriffsrechten und Anwendergruppen", zieht der Netzexperte eine positive Bilanz seiner bisherigen Testerfahrungen. Vorteil der Directory Services ist, dass User nicht mehr wie bisher an einen Fileserver gebunden sind, sondern transparent alle Ressourcen im Netz nutzen koennen, fuer die Zugriffsrechte definiert sind.

Basis der Directory Services, die in Netware 4.0 die gewohnten Binderies ersetzen, stellt eine im Netz verteilte Datenbank dar. Darin werden alle Informationen ueber Anwender, Gruppen, Ressourcen etc. als Objekte in einer hierarchischen strukturierten Baumstruktur angelegt und auf die Fileserver im gesamten Netz verteilt. Jede Aenderung im System wird automatisch auf die uebrigen Server uebertragen.

Hinter diesem Konzept - das dem der Streettalk Services in Banyan Vines aehnlich ist - verbirgt sich die Absicht Novells, mit Netware 4.0 Anwender anzusprechen, die Unternehmensstrukturen im LAN abbilden muessen.

Die Migration zu neuen Netware-Ufern wird bei der Kommunalverwaltung der Stadt Pforzheim sorgfaeltig geplant. In einer ersten Pilotphase wird Hurst zunaechst zwei Server mit entsprechenden Applikationen installieren und Testanwender definieren, die das NOS in der Umgebung der Kommune erproben sollen. Im Erfolgsfall soll dann das gesamte Netz peu á peu umgestellt werden.

Windows NT birgt Risiko eines zerkluefteten Netzes

Argumente, mittelfristig auf die neue Version zu migrieren, sind nach Ansicht des Systemberaters Zenk die einfachere Administration sowie die grafische Benutzeroberflaeche. "Die altgewohnte Menuetechnik von Netware 3.11 sowie 2.2 wird immer wieder angeprangert", weiss Zenk aus seiner Schulungstaetigkeit zu berichten und sieht darin einen Grund fuer den Wechsel zu 4.0. Waehrend der Insider die Schar der Migrationswilligen auf 60 Prozent schaetzt, wagt Hans Krogull, Area Marketing Manager bei der Novell Deutschland GmbH, oeffentlich keine Prognose, ist aber ueberzeugt, dass viele Nutzer aufgrund der hoeheren Funktionalitaet umsteigen werden.

Gegenueber den Konkurrenzprodukten Banyan Vines und Windows NT glaubt Berater Zenk Netware 4.0 vorerst im Vorteil. Nachteilig wirke sich bei Banyan Vines aus, dass Streettalk nur eine Unterteilung in die drei Stufen Organisation, Gruppe und Element erlaube und der Kernel ebenso wie bei Windows NT nicht darauf abgestimmt sei, ein NOS aufzusetzen. Banyan, das als Plattform fuer den Kernel Unix nutzt, ist nach Ansicht Zenks fuer den Multiuser-Betrieb gedacht, fuer die Uebertragung grosser Datenbestaende jedoch nicht geeignet.

Bei Windows NT kann sich der Consultant eine Durchsetzung als Arbeitsplatz-System im Markt nicht vorstellen, obwohl er das Betriebssystem grundsaetzlich nicht schlecht findet. "Die Anforderungen sind einfach zu hoch", meint Zenk und argwoehnt: "Es besteht die Gefahr, dass sich Anwender wegen der bereits enthaltenen Netzwerkfunktionen mit Windows NT eine voellig zerklueftete, nicht mehr ueberblickbare Netzstruktur aufbauen."

Waehrend Novell im April mit Verspaetung das schon fuer 1992 angekuendigte Netware 4.0 zunaechst nur in englischer Version auf dem Markt bringt, macht eine neue Betaversion bereits die Runde. Dabei handelt es sich jedoch nicht um "Netware 4.1", sondern um Netware 3.12. Auf Anfrage der COMPUTERWOCHE raeumte Marketing- Manager Krogull ein: "Es wird in absehbarer Zeit eine neue Box- Version geben, die Utilities konsolidiert und weitere Features enthaelt, um Netware 3.11 fuer die Anwender genauso attraktiv zu halten wie Netware 4.0."

Beobachter vermuten hinter Netware 3.12 jedoch einen strategischen Marketing-Schachzug Novells. Weil ihrer Meinung nach wesentlich weniger Kunden auf Netware 4.0 migrieren als Novell erwartet, versuchen die Verantwortlichen in Provo den Anwendern jetzt glaubhaft zu signalisieren, dass Netware 3.11 nicht tot ist. In diese Richtung geht auch die Aussage Krogulls. Er sieht in Netware 3.12 eine Bestaetigung der Absichtserklaerung Novells, kuenftig zwei Produktlinien aktiv zu betreiben und nicht, wie in der Vergangenheit geschehen, immer nur eine aktiv und mehrere passiv.

Auf die Frage, ob Novell mit Netware 3.12 Nutzern der Version 2.2 Tools liefern wolle, um diese wenigstens zu einer Migration auf Netware 3.12 zu motivieren, antwortete der Novell-Manager: Ein Umstieg dieser Klientel liege durchaus im Interesse Novells. Das Unternehmen werde aber, da die Basis der Netware-2.2-User noch sehr gross sei, den Bedarf solange zufriedenstellen, wie es der Kunde fordere.

Fuer die Analysten ist die Absicht Novells, Netware 2.2 langsam den Hahn abzudrehen, indes beschlossene Sache. Dafuer spricht, dass bei Novell Stimmen laut werden, die den Support dreier Produktgenerationen fuer zu aufwendig halten.

Netware 3.12 soll Tools enthalten, die die bislang aeusserst komplizierte Migration von 2.2 auf 3.11 deutlich vereinfachen. Neben diesen Tools wird das geplante Release die neue Packet- Burst-Technologie sowie verbesserte Sicherheitsmerkmale enthalten.