Umdenkprozesse bei Anwendern und Anbietern:

Nebenstellenanlage wird zentrales Produktionsmittel

04.07.1986

MÜNCHEN- Eine eklatante Unterschätzung des zukünftigen strategischen Stellenwertes des Telefonbereiches, heute besser als Telekommunikationsbereich bezeichnet, sieht Lothar Schmidt von der Infratest Forschung, München, noch in zu vielen Unternehmen. Denn die überwiegende Mehrheit der Besitzer eines Telefonsystems ordne immer noch die Zuständigkeit für dessen Anschaffung und Erweiterung dem Betriebsbereich der Nachrichtentechnik zu.

Vor einigen Jahren kamen die ersten Rufe, daß moderne Unternehmen künftig den Vorstandsbereich "Information" benötigen. Heute kann man diesen Bereich wohl präziser schon "Information und Kommunikation" nennen.

Die Leistungen der modernen Halbleitertechnik haben inzwischen nicht nur die DV-Unterstützung in Form von Terminals und Personalcomputern bis auf den Schreibtisch der Sachbearbeiter und Manager gebracht und den gesamten Schreibbereich durch elektronische Schreibmaschinen und Textsysteme erfaßt. Sie beeinflussen mit Teletex und Telefax sowie modernen Telexsystemen nun auch die alte Nachrichtentechnik und revolutionieren insbesondere mit einer dort bisher unbekannten Innovationsgeschwindigkeit den Telefonmarkt.

Verschlafener Riese

Gemessen an dem durch aggressives amerikanisches Marketing geprägten DV-Markt (Innovationszyklen unter drei Jahren, Preisverfall der Hardware bei kontinuierlicher Verbesserung des Preis-Leistungs-Verhältnisses), muß der Telefonmarkt als ein verschlafener Riese anmuten: Marketing der Hersteller und Anbieter im 10-Jahres-Rhythmus, in der Vergangenheit begünstigt durch 10-Jahres-Verträge mit den Anwendern; ein Preisschirm, der durch die Fernmeldeordnung gegeben ist, und ein überschaubares Produktangebot von wenigen traditionellen (deutschen) Anbietern.

Doch die Ruhe ist dahin. Bei Anbietern und Anwendern setzen Umdenkprozesse ein.

Die Vielfalt der per Groß-DV, auf PC und Textsystemen hergestellten Informationen nutzt doch nur dann etwas, wenn sie auch rechtzeitig für alle Betroffenen bereitgestellt, abgerufen oder verteilt werden kann. Die bisher gängige Verteilung und Speicherung der Informationen über Papierkopie kann diesen Anforderungen nicht genügen. Also geht man daran, die Systeme, wo Informationen entstehen, bearbeitet oder gespeichert werden, elektronisch zu vernetzen.

Diese Vernetzung wird sowohl über Betriebsgrenzen hinweg als auch innerhalb des Betriebes erfolgen. Über Betriebsgrenzen hinweg ist die Posthoheit tangiert und die Deutsche Bundespost hat darauf mit einem entsprechenden Dienstangebot reagiert. Heute sind es die noch gesonderten Dienste Fernsprechen, Telefax, Telex/Teletex, Bildschirmtext, Datex-L und Datex-P, morgen (ab 1988) ISDN (Integrated Services Digital Network). Innerhalb der Betriebe werden die Inhouse-Netze diskutiert (Local Area Network). Vielfältige Ausprägungen sind in Planung oder bereits realisiert.

Eine Schlüsselstellung in der Vernetzungsdiskussion nimmt jedoch die Telefonnebenstellenanlage. Sie wird einerseits an der Schnittstelle zum Postdienst (ISDN) stehen und kann andererseits auch inhouse die unterschiedlichen Systeme wie Textsysteme, PC, Terminals, heute unter dem Begriff Workstation zusammengefaßt, miteinander verbinden.

Voraussetzung ist allerdings, daß die Nebenstellenanlage digitalisiert arbeitet. Erst dann kann sie die verschiedenen Kommunikationsanforderungen erfüllen, nämlich Sprache, Daten, Text und Bilder von einer Workstation zu einer anderen zu vermitteln (sogenannte K-Anlage).

Eine digitalisiert arbeitende Nebenstellenanlage erhält aber auch mehr und mehr Rechnercharakter und kann neben vermitteln auch speichern und verwalten. Die Peripherie der Anlage sind nicht mehr nur die einfachen Telefonapparate. Vom Komfortapparat mit Speicherfunktionen bis zur sogenannten multifunktionalen Workstation reicht das Spektrum. Hier nun liegt der eingangs erwähnte strategische Ansatzpunkt für die Anwender ebenso wie für die Anbieter. Die Anzahl anschließbaren Workstations und die damit realisierten Anwendungen werden tief in die Ablauforganisation der Betriebe eingreifen.

Das gesamte System aus Nebenstellenanlage, Terminals, Telefonen, Personalcomputern, Workstations muß hard- und softwareseitig aufeinander abgestimmt sein. Die eigentliche Anwendung bestimmt das Konfigurationskonzept. Der Anwender steht daher vor umfassenden organisatorischen Entscheidungen. Der Anbieter hingegen kann sich nicht mehr als nur DV- oder Nur-Text-oder Nur-Telefonanbieter im Markt behaupten: Der Informationsmarkt und der Kommunikationsmarkt sind zusammengeschmolzen.

Hersteller und Anbieter haben dies, seit einiger Zeit begriffen. Firmenzusammenlegungen und Kooperationen geben reges Zeugnis. IBM als traditioneller DV-Hersteller verbindet sich mit Rolm, AT&T als Telefongigant kooperiert mit Olivetti und Philips, Ericsson kauft sich Firmen aus dem DV- und Textbereich, Telenorma gründete die Firma "Telenorma Datensysteme" nach Abschluß eines Kooperationsvertrages mit der Convergent Technologies Inc., Hewlett-Packard wird zusammen mit der Vitalink Corporation auf dem Gebiet der Satellitenkommunikation tätig.

Firmenkooperationen

Im deutschen Markt ist der beeindruckendste und wohl auch spektakulärste Schritt, daß Nixdorf als Nichttelefonfirma die erste digitalisierte Nebenstelle in Deutschland angeboten hat und vertreibt. DeTeWe gründet mit DeTelcom eine DV-orientierte Tochter. DeTelcom wiederum schließt mit Data General ein neues Bündnis. Einzig Siemens kann aus eigener Historie und eigener Kraft die Unternehmensbereiche DV und Nachrichtentechnik zusammenfassen zum neuen Unternehmensbereich Kommunikation und offeriert mit Hicom ein Lösungskonzept für den Anwender.

Die oft gehörte Frage, ob denn nun die Kommunikationsanbieter (in alter Diktion die Telefonfirmen) dem angestammten DV-Markt Anteile wegnehmen, muß sehr differenziert betrachtet werden. Richtig dürfte sein, daß derzeit zwei Märkte zusammenwachsen, das derzeitige Volumen sich also addiert. In beiden Märkten sind neue Anbieter zu erkennen, die zum Teil aus dem anderen Lager kommen. Da der Telefonmarkt bisher verhältnismäßig wenige Anbieter hatte, bringen hier schon ein paar neue Firmen Bewegung und Diskussionsstoff.

Stark konkurrierend werden allerdings zukünftig die Telefonfirmen und DV-Firmen auf dem Workstation-Markt anbieten. Gilt es doch insbesondere für die Telefonfirmen, hier die Umsatzanteile abzufangen, die durch Preiskampf und Preisverfall der Nebenstellenanlage verlorengehen. (Es ist damit zu rechnen, daß auch in diesem Produktmarkt nun Tendenzen einsetzen, wie sie im DV-Markt seit Jahren bestehen: stetige Verbesserungen des Preis-Leistungs-Verhältnisses und sinkende Hardwarepreise des Zentralsystems.)

Voraussetzung für Markterfolge der Kommunikationsanbieter ist allerdings die Vorbereitung ihres Kundenstamms und dessen installierten Nebenstellenanlagenparks auf die neuen Möglichkeiten. Diese Aufgabe hat zwei wesentliche Aspekte. Einerseits muß der Altkunde auf die Thematik eingestellt werden, wobei er sehr schnell lernen wird, daß dies kein nachrichtentechnisches Problem alter Prägung mehr ist. Andererseits müssen noch weit über 90 Prozent des installierten Nebenstellenparks auf die neue digitale Technik umgestellt werden. Selbst der Teil des installierten Parks - noch deutlich unter 50 Prozent, der heute schon aus Systemen der modernen Ausstattung 2 besteht, kann nicht am ISDN teilnehmen.

Diese Umstellungen sind auf der einen Seite ein reizvolles Potential für Ersatzinstallationen und damit Umsatzsteigerung, können aber andererseits auch zu einem Mengen- und Parksicherungsproblem für die bisherigen Anbieter führen.

Es gibt in Deutschland rund zwei Millionen Betriebe, von denen 42 Prozent bereits eine Telefonnebenstellenanlage haben. Bei den eingangs erwähnten mittleren Vertragslaufzeiten von zehn Jahren bedeutete dies in der Vergangenheit eine Rate von jährlich zehn Prozent Ersatzinstallationen. Auf diese Menge und Regelmäßigkeit waren die Vertriebsmannschaften ausgerichtet. Heute versuchen die Hersteller, durch das frühzeitige Angebot von digitalisierten Anlagen nicht nur Marktanteile von der Konkurrenz abzujagen, sondern sie müssen durch die verstärkte Aktivität des Wettbewerbs natürlich auch ihren eigenen Park schützen.

Newcomer im deutschen Markt wie Nixdorf, aber auch ausländische Anbieter wie Mitel, Ericsson und Northern Telecom gehen natürlich an die Kundenbasis der etablierten Anbieter. Es ist klar, daß dabei zunächst die Großinstallationen angegriffen werden, bei denen einerseits spektakuläre Erfolge und andererseits hohe Umsätze pro Vertragsabschluß zu erzielen sind. Preiskämpfe und Argumentationskämpfe im besten DV-Stil sind an der Tagesordnung.

Insbesondere Zukunftsperspektiven für den Anwender sind gefragt. Hier heißt es eben, Lösungsberatung, wie in der Datenverarbeitung seit langem gang und gäbe, aufzubauen.

Die Kunden, die früher nur telefonieren wollten (Sprachkommunikation), möchten heute dieses im einfachsten Fall nur wesentlich komfortabler. Im allgemeinen werden sie jedoch heute schon nach einer integrierten Lösung für Sprache, Daten-, Text- und eventuell Bildkommunikation fragen. Hier genügt es dann nicht mehr, nur über einige neue Komforttelefone mit individuellen Leistungsmerkmalen wie Kurzwahl über Programmtasten, Display-Anzeigen, das Lauthören, Freisprechen, anzubieten. Hier sind Lösungskonzepte gefragt, die bestimmte Betriebsabläufe unterstützen. Dies wächst sich bis zur Organisationsberatung aus, worauf sich der Betriebsbeauftragte für Telefonsysteme alter Prägung einstellen muß.

Dieser Trend, die Nebenstellenanlage als ein zentrales "Produktionsmittel" für den Bürobereich zu begreifen, wird sich spätestens dann voll durchsetzen, wenn von der Post der ISDN-Dienst installiert wird (1988). Ab dann wird sich nämlich für jeden Telefonanlagenbesitzer die Frage stellen, ob und wann er eine neue digitale, ISDN-fähige Anlage anschafft. Vielleicht begnügt er sich zunächst eventuell mit einem zusätzlichen ISDN-Anschluß, über den nur einige Geräte mit dem ISDN-Dienst verbunden werden sollen, eventuell auch über eine kleine, zweite Nebenstellenanlage.

Vorhandene Konzepte, Gebührenpolitik der Post, verfügbare einsetzbare Geräte, Wachstum des DV- und nachrichtentechnischen Budgets beim Anwender, Lernfähigkeit der Benutzer sowie Software- und Beratungsunterstützung werden in diesem Kalkül eine Rolle spielen. Ganz sicher sind darüber hinaus das Alter der Telefonnebenstellenanlage und die Restvertragslaufzeit von Bedeutung. Die Grafik zeigt, daß immerhin 26 Prozent des Parks über zehn Jahre im Feld stehen. Bei den großen Anlagen ist dieser Anteil noch etwas höher, und zwar bei 30 Prozent. Bis Ende 1987, kurz vor dem ISDN-Start also, werden - keine besonderen Aktivitäten der Anbieter vorausgesetzt - immer noch 25 Prozent der großen Nebenstellenanlagen neun Jahre und älter sein.

Will man das Potential für künftige ISDN-Anwender und dasjenige für Inhouse-Netze auf Basis von Telefonanlagen bestimmen, benötigt man Daten, die in dieser Kombination bisher nicht zur Verfügung standen. Das Forschungsprogramm von Infratest erhebt hier im Rahmen des Comtec-Programms entsprechende Informationen seit etwa fünf Jahren auf der Basis von 5000 Betrieben. Daraus läßt sich verdeutlichen, wie aus solchen Daten unterschiedliche Nutzertypen nach Anzahl und Leistungsanforderung geschätzt werden können.

Für kleine Betriebe, in denen heute vorwiegend elektronische Schreibmaschinen oder Textsysteme, Telefax oder Telex, eventuell Bildschirmtext, eingesetzt werden und ein kleineres Telefonsystem mit zwölf oder weniger Nebenstellen installiert ist, dürfte das ISDN der Bundespost von Interesse sein. Hierzu kommen zum Beispiel die Branchen "Freie Berufe" und vermutlich auch der "Großhandel" in Betracht. Analysiert man die in diesen Bereichen vorhandenen Nebenstellenanlagen, so kann als erstes Ergebnis festgestellt werden, daß 34 Prozent sogenannte Reihenanlagen sind, für die zur Zeit keine ISDN-Alternative diskutiert wird. Leichter denkbar ist eine Umstellung bei den 60 Prozent Besitzern von Wählnebenstellenanlagen. Bisher bietet jedoch noch kein Hersteller ISDN-Anlagen in dieser Größenordnung an.

Allerdings könnte ein Teil dieser Zielgruppe bereits Anlagen der Baustufe 2W 30 installieren, die heute schon angeboten werden. Schaut man dagegen in den oberen Bereich, wo heute die digitalisierten K-Anlagen angeboten werden, so ist hier ein Potential von rund 17 000 Nebenstellenanlagen festzustellen, die mit mehr als 80 Nebenstellen beschaltet sind. 25 Prozent dieses Parks sind neun Jahre und älter. Das Vorhandensein von vielen Nebenstellenanlagen ist jedoch noch lange kein Grund, eine K-Anlage anzuschaffen Ausschlaggebend wird sein, ob ein solcher Betrieb ausreichend viele Workstations hat oder plant, die er miteinander vernetzen will.

Als ein Beispiel wurden hier aus den Comtec-Ergebnissen die Betriebe analysiert, in denen zwischen 6 und 30 elektronische "Workstations" bereits heute im Gebrauch sind. Dies können sowohl elektronische Schreibmaschinen als auch Textsysteme, Telex, Telefax, Terminals und Bildschirmtextgeräte sein.

Fast zwei Drittel dieser Betriebe haben eine Beschaltung bis zu 30 Nebenstellen. Die hier gezeigten Betriebe sind ein Potential, bei dem eine K-Anlage für das Inhouse-Netz sinnvoll sein könnte. Damit ist immer noch nicht gesagt, ob diese K-Anlage auch für die Kommunikation über den von der Post bereitgestellten ISDN-Dienst verwendet werden soll. Die Anwenderbudgets für derartige Investitionen und die Gebührensituation könnten es durchaus sinnvoll machen, daß ein solcher Betrieb neben der installierten K-Anlage sich mit einem zusätzlichen ISDN-Anschluß begnügt, an dem dann die Telex-Maschine oder das Telefax-Gerät angeschlossen werden. Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen werden, wie immer, im Vordergrund stehen. Jedoch kann auch hier schon vorausgesagt werden, daß Kosten-Nutzen-Analysen, ähnlich wie in der Vergangenheit, in der DV im allgemeinen eher auf qualitativer Argumentation (Verfügbarkeit, Aktualität, Flexibilität) beruhen werden, als mit harten Zahlen belegt zu werden.