Nachholbedarf der Comecon-Länder auf dem Elektroniksektor: Restriktionen für West-Ost-Aktivitäten

20.08.1982

Wegen ihres starken Nachholbedarfs in Sachen Elektronik bemühen sich die Comecon-Länder immer wieder, preisgünstig westliche EDV einzukaufen. Nicht immer handelt es sich hierbei um offizielle Geschäfte. Trotz US-Embargo passiert so einiges in diesem "Graubereich".

Die Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen in West-Berlin hat es sich zur Aufgabe gemacht, entsprechende Tatbestände aufzudecken. Sie dürften dem Datenverarbeiter der Bundesrepublik weitgehend unbekannt sein.

Der RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, auch Comecon genannt) sieht den wissenschaftlichtechnischen Fortschritt als "Hauptkampffeld in der Klassenauseinandersetzung". Dabei erhält die Sowjetunion stets besondere Schützenhilfe von der DDR, deren Medien sich der "Widersprüche des Kapitalismus" und der "zwangsläufigen Konfrontation der beiden Systeme" immer wieder gerne annehmen.

Hierzu heißt es in einem DDR-Aufsatz in der "Einheit" vom März 1981, daß sich die Auseinandersetzungen der beiden Gesellschaftssysteme im "Kampf um führende Positionen in Wissenschaft und Technik" hauptsächlich auf die Entwicklung der Mikroelektronik und deren Anwendung, sowie auf das Gebiet der Automatisierung der Produktion mit Hilfe von numerisch- und rechnergesteuerten Maschinen und Industrierobotern, auf die Erschließung neuer und einer rationellen Nutzung vorhandener Energiequellen sowie auf die Schaffung neuer Werkstoffe und Werkstoffkombinationen gründen.

Großer Nachholbedarf durch Fehlplanung

Nach Auffassung der Westberliner Institutsleute hätten die Comecon-Länder auf westliche Unternehmen und Geschäftsleute schon immer einen besonderen Reiz ausgeübt, da sich hier bestehende Marktlücken zum Absatz von Erzeugnissen und damit entsprechende Gewinnmöglichkeiten böten. Den Comecon-Ländern war dies nicht unangenehm. Hier bestand gerade auf dem Elektroniksektor ein immenser Nachholbedarf. Fehlplanungen, Fehleinschätzungen der Entwicklung, Produktionsengpässe, mangelhaft organisierte Forschung und Entwicklung und andere systemtypische Disproportionen hatten zu einem fast aussichtslosen Entwicklungsstand geführt.

Besonders die DDR war hier aktiv. Bereits in den 60er Jahren soll sie sich für rund 15 000 Dollar Eintritts- und rund 10 000 Dollar Jahresbeitrag in das Diebold-Forschungsprogramm für EDV-Einsatz eingekauft haben. Im gesamten Comecon bemühte man sich, preisgünstig westliche EDV einzukaufen. Eine der ersten westlichen Firmen, die Computer- und EDV-Ausrüstungen in den Comecon geliefert hatte, war die englische ICL. Aber auch Honeywell-Bull, NCR, CDC, Sperry Univac sowie Siemens, Ferranti, CII und die Data Saab waren auf dem Comecon-Markt der 60er Jahre erfolgreich tätig.

Amerikanisches Embargo

Dieser für den Westen und seine Sicherheit nicht unbedeutenden Entwicklung versuchten die Amerikaner durch ein Embargo für alle Nato-Länder zu begegnen. US-Firmen befolgten dieses Embargo verständlicherweise weitaus strenger als die Europäer. Dennoch verhinderte die Maßnahme den Verkauf von Rechnern der dritten Generation. Die ICL soll das strikte Veto der Amerikaner mit einem speziell für den Comecon entwickelten Modell, dem System 4/62, umgangen haben, wobei man sorgfältig darauf achtete, daß nur nichtamerikanische Komponenten für den Bau Verwendung fanden.

Damals zeigte es sich, daß gerade Lizenzabkommen für viele Firmen ein willkommener Weg zur Umgehung der Nato-Beschränkungen waren. Der tschechoslowakische Rechner Tesla 200 war zum Beispiel die CSSR-Version der Bull-GE Gamma 140/ 145. Die Ungarn stellten ihre Rechner IMG 810 und IMG 830 und Rumänien den Rechner Felix C-256 in Lizenz der französischen Iris 50 und Iris 80 her. Für die polnische Odra-1300-Serie wurde Software in Lizenz vob ICL verwendet.

Auch in den 70er Jahren setzten sich trotz des Nato-verbindlichen Embargos die West-Ost-Aktivitäten auf dem Computersektor fort in Warschau wurde in dieser Zeit zwischen dem polnischen Außenhandelsunternehmen Metronex und Honeywell ein Kooperationsvertrag abgeschlossen.

1973 hatten zum Beispiel die amerikanische CDC und die Regierung der UdSSR einen auf intensive Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Computertechnik gerichteten Vertrag unterzeichnet. Sowjetische Planungsbeamte sollen Anfang der 70er Jahre zugegeben haben, daß die UdSSR mindestens ein Drittel der bis 1975 zu installierenden Rechner aus Westeuropa, den USA und Japan importieren muß, da die eigene Produktion nicht im Stande sein würde, den Bedarf selbst zu decken.

Lieferungen an den Osten

Bei all diesen Fakten und Überlegungen gingen die westlichen Kooperanten zumeist davon aus, daß der ihnen durch den Export hochwertiger EDV-Anlagen möglicherweise erwachsene Wettbewerb aus dem Osten mit Leichtigkeit zu verkraften sei. Die Comecon-Wirtschaft ist aber durch Überbürokratisierung und wettbewerbsfeindlicher Grundlagen gar nicht in der Lage und auch nicht willens, die importierten Technologien und Computer für eben diesen Zweck einzusetzen.

Im Rahmen von Fachausstellungen westlicher Messeveranstalter im Comecon, zum Beispiel in der UdSSR "Interorgtechnika" oder "Systemotechnika" folgten weitere Lieferungen. So beispielsweise aus England 15 Argus-Prozeßrechnersysteme für die UdSSR; von der Control Data Corp. 1976 ein Rechner vom Typ Cyber 73-1 für das sowjetische Ministerium für Technologie; von der Interdata GmbH München ein Rechner-Doppelsystem zur Verarbeitung von Nachrichten für die ungarische Nachrichtenagentur Tavirati Iroda; von Sperry Univac für die bulgarische Nationalbank und das Planungskomitee zwei Multiprozessorsysteme vom Typ 1100 für die polnische Luftverkehrsgesellschaft LOT ein Doppelprozessor vom Typ 1100/62 und für die tschechoslowakische Handelsbank Computer vom Typ 90/60, 9580 und 9400 und schließlich ebenfalls von Sperry Univac für den Einsatz im tschechoslowakischen Außenhandel Rechnersysteme vom Typ 90/60.

Die italienische Olivetti SPA lieferte Maschinen und Ausrüstungen im Wert von rund 12 Millionen Dollar an eine Leningrader Fabrik und von der schwedischen Stansaab kamen Computer mit US-Bauteilen für ein Flugleitsystem des neuen Moskauer. Flughafens im Wert von rund 300 Millionen Schwedenkronen. Mitte 1978 will die Berliner FS erfahren haben, daß die Sperry Rand Corp. und das Staatsministerium für Technische Entwicklung und Investitionen der CSSR sowohl auf wissenschaftlicher als auch auf technischer Ebene zusammengearbeitet hätten.

Die inzwischen aufgelöste VVB (Vereinigte Volkseigene Betriebe) Maschinelles Rechnen in Ost-Berlin, deren Nachfolger seit Januar 1980 das Volkseigene Kombinat Datenverarbeitung ist, ließ sich unter Einbeziehung der Intrac Handelsgesellschaft mbH in Berlin-Pankow 1978 von einigen führenden westlichen EDV-Herstellern (Philips, Siemens, Data General und IBM) Angebote für ein Datenerfassungssystem vorlegen. Doch schließlich machte keiner der vier Anbieter das Rennen. Aus Frankreich winkte nämlich ein lukrativer Großkredit,in dessen Rahmen dann die Finanzierung eines Honeywell-Bull-Datenerfassungssystems abgewickelt wurde, obgleich Honeywell-Bull sein Angebot weit später vorlegte als die vier Mitbewerber.

Eine ähnliche mit Steuergeldern geförderte Dumping-Offensive soll es vor Ausrichtung der Moskauer Sommerolympiade 1980 gegeben haben. Zu der Zeit konnten die Sowjets ganz sicher selbst Rechner für die Auswertung der Wettkämpfe einsetzen, aus Prestigegründen gaben sie jedoch westlichen Rechnern den Vorzug, da die Westtechnologie besonders im Hinblick auf die Zuverlässigkeit wesentliche Vorzüge bot.

In gut informierten Kreisen wird vermutet, daß den offiziellen, bisher bekannt gewordenen West-Ost-Lieferungen mindestens die gleiche Anzahl an vergleichbaren Computern gegenübersteht, die durch dunkle Kanäle illegal von West nach Ost transferiert wurden. Über den Wert der in den Jahren von 1972 bis 1977 in die Comecon-Länder offiziell exportierten West-Rechner ist offiziell nichts Genaues bekannt, nach Auffassung von Marktkennern liegt er bei zirka einer Milliarde US-Dollar.

Was die Comecon-Länder nicht offiziell oder über Umwege einführen oder bezahlen konnten, versuchten sie nachzuahmen. Ihre erste Universal-Rechner-Familie "Eser" (einheitliches System der elektronischen Rechnertechnik) der Entwicklungsreihe 1, 1972/73 näherte sich weitgehend von Hardware- und Software-Technologie dem westlichen Marktführer IBM an.

Im Grunde handelt es sich bei dem Eser 1 (auch Rjad 1 bezeichnet) um eine Nachahmung des IBM-Systems 360, allerdings modernisiert. Angefangen vom Code der Assembler-Instruktionen über das Kanalsystem bis hin zu den Peripheriegeräten ist das gesamte Eser-System IBM-kompatibel, womit die Übernahme einer entsprechenden IBM-Software ermöglicht wurde. Offenbar machte lediglich das ungarische Eser-Modell EC 1010 hiervon eine Ausnahme sowohl hinsichtlich des Operativspeichers wie auch der Eingabe-Ausgabe-Anschlüsse. Hier wird vermutet, daß es sich bei dem EC 1010 System um einen Lizenznachbau des französischen Rechners CII-Mitra 15 handelt.

Die Eser-Entwicklungsreihe 2, 1978/79 in Serie produziert, ist ihrerseits wieder mit dem IBM-System 370 weitgehend identisch. Lediglich der sowjetische Großrechner EC 1065, der seit 1980 hergestellt wird und mit dem IBM-System 3033 vergleichbar sein soll, bildet hiervon eine Ausnahme. Sofern man in den Comecon-Ländern an die Software der 370 und 3033 herankommt, kann sie auf Eser-Systemen genutzt werden.

Auch bei den neuesten DV-Kreationen, der Reihe Eser 3, deren Produktionsaufnahme für 1983 geplant ist, wird mit Sicherheit entsprechend nachempfunden, was man im Hinblick auf die jüngste Entwicklung in Japan fairerweise als eine durchaus landläufige Methode des Wettbewerbsverhaltens bezeichnen kann.

*Peter Lang-Hellwig ist Geschäftsführer des Verband Deutscher Rechenzentren e.V., Hannover